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Murat Çakır

»Manövriermasse des Neoliberalismus«

Als die verantwortliche Politik in Deutschland 1955 das erste »Anwerbeabkommen« unterschrieben hatte, hatte man, da nur die Kompensation des Arbeitskräftemangels zugunsten der Unternehmen als vorrangig erachtet wurde, nicht daran gedacht, was dieser Schritt in den nächsten Jahren verursachen würde. Hätte man nämlich daran gedacht, hätte die verantwortliche Politik die sozialen, kulturellen, politischen und rechtlichen Probleme der nun seit 52 Jahren fortwährenden Arbeitsmigration neuen Typs vorausgesehen und für die Verhinderung – oder mindestens zur Minimierung - dieser Probleme notwendige Maßnahmen geplant.

Eigentlich muss man sagen, dass der deutsche Staat, somit ohne Ausnahme alle Bundesregierungen in Sachen der Arbeitsmigration und der aus dieser erwachsenden Probleme ihre Politik nie verändert haben. Während der Jahre der Arbeitsmigration neuen Typs wurden die MigrantInnen stets als »Sündenböcke« für bestimmte politische Interessen behandelt und als eine manövrierbare Masse gehalten.

Daher sollte man sich über den Entwurf des neuen »Zuwanderungs- und Bleiberecht Gesetzes« nicht wundern. Der in traditioneller Linie stehende Gesetzentwurf zeigt nicht nur, wie sehr sich der fundamentale Rassismus in den Kreisen der neoliberal Eliten verfestigt hat, sondern belegt zugleich, dass neue Restriktionsmechanismen für die gesamte Bevölkerung auf den Startlöchern stehen. Weil die Ausländerpolitik, genau wie die Hartz - Gesetze ein neoliberales Herrschaftsinstrument ist und stets das, was für MigrantInnen galt, alsbald für die Gesamtbevölkerung ausgeweitet wurde und wird.

Aus diesem Grund wäre es m. E. nicht ausreichend, den Gesetzentwurf nur aus der Perspektive der Migration zu bewerten. Eine Betrachtung der Migrations- und Flüchtlingspolitik ohne den Zusammenhang zur neoliberaler Politik, würde zu einer Fehlannahme führen, dass diese Politik nur eine Ungerechtigkeit gegenüber der MigrantInnen sei. Erst durch die zusammenhängende Betrachtung der Migrations- und Flüchtlingspolitik mit der Spaltung der Gesellschaft und der Prekarisierung der Arbeits- und Lebensbedingungen, also mit der marktradikalen Barbarei des Neoliberalismus, welches breite Gesellschaftsschichten »proletarisiert«, wird die eigentliche Problematik sichtbar. Nach meiner Auffassung sollten in diesem Rahmen folgende Feststellungen gemacht werden:

Erstens: Die Migrations- und Flüchtlingspolitik, die durch diesen Gesetzentwurf manifestiert wird, ist ein Bestandteil des neoliberalen Umbaus der Gesellschaft. Die Entrechtung in der Migration, also die Beschneidung der verfassungsrechtlich garantierten Grundrechte, gesetzliche Restriktionen und Bestrafungen, ist eine krasse Form der »Proletarisierung«. So werden über sieben Millionen Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit gezwungen, unter der ständigen Bedrohung durch ausgrenzende und diskriminierende Gesetzgebung zu leben und haben, da sie jederzeit durch Arbeitslosigkeit, Inanspruchnahme von Transferleistungen oder Zuwiderhandlungen gegen das Ausländerrecht illegalisiert werden können, keine Möglichkeit, eine gesicherte und langfristige Lebensplanung vorzunehmen.

Zweitens: Menschen mit Migrationshintergrund, die auf dem ethnisierten Arbeitsmarkt entweder prekär beschäftigt werden oder Erwerbslos sind, sind als Objekte der gesellschaftlichen und institutionellen Diskriminierungen, Opfer eines, in der gesellschaftlichen Mitte verfestigten Rassismus. MigrantInnen, die von den Kürzungen auf den Bereichen der Bildung, Gesundheit, Kultur und Soziales am meisten betroffen sind, werden als »unterste Schichten« von der herrschenden Politik für die Vernebelung der wahren Ursachen der ökonomischen, sozialen und politischen Probleme, somit für die weitere Spaltung der Gesellschaft stigmatisiert.

Drittens: Gesetzesverschärfungen, welche zuerst die MigrantInnen betreffen, werden nach erfolgreichen Erprobung auf die gesamte Bevölkerung ausgeweitet. Die in Zusammenhang mit der Militarisierung der Außenpolitik geschürten Terrorängste haben dazu geführt, dass die Mehrheitsgesellschaft für einen ominösen »Sicherheitsgefühl« auf ihre Grundrechte zu verzichten bereit geworden sind. Auch das Schüren einer Islamfeindlichkeit sollte in diesem Zusammenhang betrachtet werden.

Natürlich könnten weitere Feststellungen gemacht werden. Aber die alleinige Aufzählung dieser Punkte belegt, dass die Probleme des »Ausländerrechts« nicht nur die MigrantInnen und Flüchtlinge alleine betreffen, sondern zentrale gesellschaftspolitische Fragen geworden sind. Solange die Entrechtung der MigrantInnengruppen in Deutschland, wie in ganz Europa nicht überwunden sind, solange wird es unmöglich sein, die Situation der gesamten Gesellschaft zu verbessern und eine sozialere, demokratischere und friedlichere Zukunft zu gestalten. Das wesentliche Problem liegt eigentlich darin, dass die Mehrheitsgesellschaft sich dieser Tatsache bewusst werden müsste.

Am 30. März 2007 veröffentlicht in der Tageszeitung »Yeni Özgür Politika«

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