Die Türkei: Der
neue Bodyguard Europas?
Am 17. Dezember 2004 hat der EU-Gipfel in Rom den Beginn der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beschlossen. Nun beginnt ein Prozess, der 12 bis 15 Jahre dauern und ergebnisoffen geführt werden soll. Die europäischen Staats- und Regierungschefs begründeten diesen Schritt mit den »ureigenen Interessen Europas«. Dieser Beschluss habe wirtschaftliche und soziale, aber auch geopolitische Gründe. Eine erfolgreiche Heranführung der Türkei an die EU wäre nicht nur für die wirtschaftlichen Aussichten, sondern insbesondere für sicherheits- und verteidigungspolitischen Interessen Europas ein unermesslicher Gewinn. Jetzt gelte es, sowohl die Türkei als auch die EU für diesen Beitritt herzurichten.
In der Türkei wurde dieser Beschluss wie ein
bedeutender Sieg gefeiert. Weil ein großer Teil der türkischen Gesellschaft mit
dem Beitritt die Hoffnung hegt, am Tafel der Europäer etwas von deren
Wohlstand, ihren bürgerlichen Demokratie und den sozialen Standards abzubekommen,
wird von den türkischen Medien ein Bild der EU gepflegt, als ob Zustände wie in
den Siebziger Jahren herrschen würden.
So war es keine Überraschung, als der zum
Neoliberalen konvertierte islamistische Premier Recep Tayyip Erdogan am 18.
Dezember 2004 in Ankara wie ein siegreicher Feldherr empfangen wurde. Im
Einklang mit den Traditionen der staatstragenden Kräfte hatte er vor den
europäischen Staats- und Regierungschefs wie ein Löwe gekämpft und sich
durchgesetzt. Was sind schon dagegen 12 oder 15 Jahre, was der
Heranführungsprozess? Wenn der Wille da ist, dann klappt das auch mit der
europäischen Integration. Dass mit den Beitrittsverhandlungen über Jahre hinaus
weitere wirtschafts-, finanz- und sozialpolitische Umwälzungen diktiert werden,
scheint die politischen und wirtschaftlichen Eliten nicht besonders zu
beeindrucken. Wie auch dieser Prozess zu Ende gehen mag, die wirtschaftlichen,
politischen und militärischen Eliten werden zu den Gewinnern zählen.
Ist der »kranke
Mann am Bosporus« genesen?
»Die Türkei ist nicht mehr der kranke Mann am
Bosporus, sondern eine wirtschaftlich und militärisch starke Regionalmacht, die
den islamischen Ländern in Sachen Demokratie und Wirtschaftswachstum ein gutes
Beispiel bietet.«(Recep T. Erdogan im staatlichen Fernsehen) In der Tat;
die Türkei ist eine ausgreifende Regionalmacht mit Führungsansprüchen geworden.
Ein Land, die sehr selbstbewusst ihre geostrategischen Vorteile zu nutzen weiß.
Ein Land, dessen Bevölkerung ausgesprochen Jung ist und dessen Wachstumsdynamik
deutlich über dem EU-Durchschnitt liegt. Alles Vorteile, die die Türkei für
eine vom Kapital dominierte EU höchst interessant machen. Doch, ist der »kranke
Mann am Bosporus« wirklich genesen? Hat das auch von europäischen Kommentatoren
viel gepriesene Wirtschaftswachstum (in 2002 7,6 Prozent und 2003 4,5 Prozent)
der Bevölkerungsmehrheit etwas genutzt? Wagen wir einen kurzen Rückblick.
Die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei ist im
engen Zusammenhang mit der seit 1980 wütenden neoliberalen Politik und den
Diktaten der IWF, der Weltbank und der WTO zu betrachten. Die letzten 25 Jahre
wurden wesentlich von drei aufeinander folgenden Phasen bestimmt. Die erste
Phase war die Liberalisierung des Außenhandels (1980 – 1988), welches mit einem
immensen Lohndumping einherging. Dem folgte die Phase der Liberalisierung der
internationalen Kapitalbewegungen in den Jahren 1989 bis 1993. Finanzkrisen und
Destabilisierung in den Jahren 1994 bis 1999 waren dessen Ergebnis. Und 1999
begann Zeitgleich mit der Regierungskrise der Neuordnungs- und
Umstrukturierungsprozess.
Die Vereinbarung mit dem IWF in 1999 war der Auftakt
zu diesem Prozess. Die Vereinbarung war für sechs Monate geschlossen worden und
sah weitreichende Strukturreformen vor. Danach sollte ein »Beistandsabkommen«
unterschrieben werden. Die Voraussetzungen dafür waren: 1.) die Gründung einer
Bankenaufsicht und Beginn einer Finanzkonsolidierung, mit der die angehäuften
Schulden der Banken zu tilgen waren, 2.) die Novellierung der Sozialgesetze,
3.) eine Verfassungsänderung für die Zulassung internationaler Schiedsverfahren
und 4.) Abbau von Agrarsubventionen. Im November 1999 wurden diese Vorgaben
erfüllt.
Das »Beistandsabkommen« mit der IWF wurde dann 2000
unterschrieben. Dieser für 3 Jahre verfasste Abkommen fußte auf zwei Säulen:
ein mittelfristiges Stabilitätsprogramm und weitere Strukturreformen. Doch
schon im ersten Jahr vertiefte sich die Krise, so dass die Vertragsfrist auf 5
Jahre verlängert werden musste. Die einzige Veränderung an diesem sog. »Stabilitätsprogramm«
wurde 2001 mit der Einführung der »flexiblen Wechselkursen« vorgenommen.
Seither wird an dieser Finanzpolitik, in dessen Zentrum die strikte
Ausgabendisziplin steht, eisern fortgeführt.
Welche Auswirkungen diese Politik für die Bevölkerung
hat, verdeutlichen die neuesten Zahlen des Statistischen Instituts der Republik
Türkei (DIE). Danach lag die Armutsgrenze in der Türkei Ende 2004 bei
1.562.000.000,-- Türkische Lira. Wenn man die Wechselkurse vom 10.Januar 2005
als Basis nimmt, bedeutet das 850,-- EUR im Monat. Laut DIE liegen die
monatlichen Einkommen von rund 3 Millionen Haushalten (etwa 12 Millionen
Menschen) über 850,-- EUR. Über einen Einkommen unter der Armutsgrenze verfügen
dagegen 15 Millionen Haushalte, d.h. nach DIE – Rechnung rund 58 Millionen
Menschen. Das durchschnittliche monatliche Einkommen dieser Haushalte liegt bei
350.000.000,-- TL, also bei 192,30 EUR. Rund 2 Millionen Menschen müssen mit
weniger als 1,-- EUR am Tag auskommen. Rechnerisch hat sich das Einkommen pro
Kopf von 1.570 US-Dollar bei 71 Milliarden US-Dollar BSP (1980) auf 4.128
US-Dollar bei 293 Milliarden US-Dollar BSP (2004) mehr als verdoppelt, aber für
82 Prozent der Bevölkerung hat es an der Tatsache, an der Armutsgrenze leben zu
müssen, nichts geändert.
Die Fortführung dieser Politik der letzten 25 Jahre
hat dazu geführt, dass die Türkei mehr und mehr in die Abhängigkeit des
internationalen Kapitals und dessen Institutionen geraten ist. Die
makroökonomischen Daten belegen, dass die Türkei ein Geheimtipp für
Kapitalvermehrung geworden ist. Mit der Einführung der flexiblen Wechselkursen,
der Umsetzung von IWF-Vorgaben und einer repressiven Innenpolitik wurde für
internationale Finanzjongleure Tür und Tor geöffnet. So konnten internationale
Anleger z.B. im März 2001 nach Abzug der Wechselkursverluste für ihr Geld in 30
Tagen rund 4,7 Prozent (56,4 Prozent p.a.) Rendite erwirtschaften. 2002 fiel
die Rendite etwas geringer aus: rund 50,5 Prozent p.a..
Tabelle 1: Auszug
aus den makroökonomischen Daten |
|||||
|
2000 |
2001 |
2002 |
2003 |
2004 |
BSP (in Milliarden
US-Dollar) |
201 |
144 |
182 |
230 |
293 |
Einkommen pro Kopf
(in US-Dollar) |
2.987 |
2.105 |
2.619 |
3.390 |
4.128 |
Inflationsrate
(Jahresdurchschnitt in %) |
-- |
-- |
51,2 |
27,4 |
25,3 |
Zinsen für
Staatsanleihen (p.a.) |
38,2 |
99,9 |
63,5 |
44,1 |
24,7 |
Export (in
Milliarden US-Dollar) |
27,8 |
31,3 |
36,0 |
47,2 |
56,2 |
Import (in
Milliarden US-Dollar) |
54,5 |
41,4 |
51,6 |
69,4 |
94,8 |
Arbeitslosenquote
(Jahresdurchschnitt) |
6,6 |
8,5 |
10,3 |
10,5 |
10,5 |
Quelle:
Statistisches Institut der Republik Türkei, Jahresdaten 2004 |
Auch das viel gepriesene »Wirtschaftswachstum«
entpuppt sich – hinsichtlich des gesamtgesellschaftlichen Nutzens – bei näherem
Hinsehen als eine Seifenblase. Dazu der Verband der unabhängigen
Sozialwissenschaftler:
»Ein Wirtschaftswachstum, welches die Erhöhung des
gesellschaftlichen Wohlstands nicht zur Folge hat, kann nicht als Erfolg
betrachtet werden. Ein Wachstum, das nur die vorhandenen Kapazitäten
ausschöpft, ist nicht nachhaltig. So gesehen kann festgestellt werden, dass in
der türkischen Wirtschaft seit 2000 bei den Investitionen ein Rückgang erfolgt.
Die öffentlichen Investitionen in 2003 sind gegenüber dem Vorjahr rund 36
Prozent zurückgegangen. Gleichzeitig hat sich die Kapazitätsauslastung stetig
erhöht. Was regierungsamtlich als „Wachstum“ angepriesen wird, ist nichts
anderes als eine Einkommenserhöhung aufgrund der erhöhten
Kapazitätsauslastungen. Das ist ein Ergebnis einer künstlich erzeugten
Nachfrage, die sich in den spekulativen Kapitaleingängen begründet und nicht
die Quelle eines stabilen Wachstums sein kann.Unabhängige türkische
Wissenschaftler prangern seit Jahren diesen Umstand an. Wir kritisieren die
sogenannte „makroökonomische Stabilität“ die zu einer massiven
Verteilungsungerechtigkeit und Kaufkraftverlust breiter Bevölkerungsmassen geführt
hat. Doch diese Kritik, die sich ausbreitende Verarmung, die
Massenarbeitslosigkeit und der Rückgang der Investitionen hat für die Kreise,
die die makroökonomischen Entwicklungen stets in den kurzen Zeitabständen der
Finanzmärkte bewerten, keine Bedeutung.«(http://www.bagimsizsosyalbilimciler.org)
Tabelle 2:
Entwicklung der Investitionen und der Kapazitätsauslastung 2000 – 2003 (in
Milliarden TL) |
||||
|
2000 |
2001 |
2002 |
2003 |
Bruttokapitalbildung |
8711.2 |
5311.2 |
6534.9 |
6394.7 |
davon öffentliche Investitionen |
3175.6 |
2578.7 |
3164.5 |
1837.4 |
davon Investitionen der Privatwirtschaft |
5535.6 |
2768.1 |
3379.4 |
4557.4 |
Kapazitätsauslastung
(in %) |
75,9 |
70,9 |
75,4 |
77,9 |
davon die öffentliche Hand |
79,8 |
81,8 |
81,7 |
83,8 |
davon die
Privatwirtschaft |
74,4 |
66,7 |
72,8 |
75,1 |
Quelle: Statistisches
Institut der Republik Türkei, aus den Jahresdaten 2003 |
Die Folgen der von IWF diktierten Politik machen sich
auch bei den Steuereinnahmen, den Staatsausgaben und der Schuldenentwicklung
bemerkbar. Während seit 1980 der Anteil der mittelbaren Steuern an dem
Steuereinkommen sank, nahm der Anteil der unmittelbaren Steuern wie die
Mehrwertsteuer stetig zu. Demgegenüber ist zu verfolgen, dass die sog.
»Ausgabendisziplin« die stetige Abnahme der Staatsausgaben für Bildung,
Soziales, Gesundheit, Agrarsubventionen u.v.m. zur Folge hat. Dies gilt jedoch
nicht für Zins- und Tilgungszahlungen der In- und Auslandsschulden. Nach
DIE-Angaben betrugen die Zinszahlungen 2003 rund 40 Prozent der
Staatseinnahmen. Die Auslandsverschuldung wuchs von 118,8 Milliarden US-Dollar
(2000) binnen 4-Jahresfrist auf 153,2 Milliarden US-Dollar (2004).
Tabelle 3:
Entwicklung der Auslandsschulden |
|||||
|
2000 |
2001 |
2002 |
2003 |
2004 |
Auslandsschulden Gesamt
(Milliarden US-Dollar) |
118,8 |
113,9 |
130,2 |
145,8 |
153,2 |
davon kurzfristige
Verbindlichkeiten (Milliarden US-Dollar) |
28,3 |
16,4 |
16,4 |
23,0 |
29,3 |
langfristige
Verbindlichkeiten (Milliarden US-Dollar) |
90,5 |
97,5 |
113,8 |
122,8 |
123,9 |
Quelle:
Statistisches Institut der Republik Türkei und Staatssekretariat des
Finanzministeriums, Jahresdaten 2004 |
Diese Zahlen belegen, dass die Türkei seit 1980 in
einem Teufelskreis der sich erhöhenden Schulden stecken geblieben ist und
gerade mit der von den Instituten des internationalen Kapitals diktierten
Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitiken nicht mehr aus dieser Falle
herauskommen kann.
IWF und EU Hand in Hand
Die Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) des
Ministerpräsidenten Erdogan hatte vor den Parlamentswahlen vollmundig
IWF-kritische Wahlversprechen gegeben, die sie jedoch in den ersten Tagen ihrer
Regierung ad acta legte. In seiner ersten Regierungserklärung stellte Erdogan
dem türkischen Parlament, in dem seine Partei AKP über eine absolute Mehrheit
verfügt, ein durch und durch neoliberales Regierungsprogramm vor. Schon im
April 2003 wurde unter der Überschrift »Grundgesetz der öffentlichen
Verwaltungen« ein umfangreiches Reformpaket vorgestellt. Dieses Paket
beinhaltet von Personalpolitik der öffentlichen Verwaltungen über
Finanzverwaltung und staatliche Wirtschaftsunternehmen bis zu den Gemeindeverwaltungen
und Sozialversicherungen die Privatisierung sämtlicher öffentlicher Bereiche.
Damit zeigt die AKP, dass sie gewillt ist, die
Vorgaben der IWF und der Weltbank zu erfüllen und die diktierte Politik
umzusetzen. Erdogan begründet seine Politik mit der »Notwendigkeit, die
Wünsche des internationalen Kapitals zu erfüllen und die politischen
Anpassungsschwierigkeiten der türkischen Staats- und Verwaltungstraditionen zu
überwinden« (Erdogan im türkischen Staatsfernsehen am 15. Dezember 2004).
Um diese Wünsche zu erfüllen will er die geforderten »Reformen« zügig umsetzen.
Das sind in erster Linie Reform der öffentlichen Verwaltung, Finanzreform,
Reform der sozialen Sicherungssysteme, Bildungs- und Arbeitsmarktreformen.
Kurzum, es wird weiter dereguliert, liberalisiert und privatisiert. Und die
Zeche soll dann die Bevölkerung zahlen.
Diese Politik wird auch noch als »unabhängige
Wirtschaftspolitik« verkauft. Dreister geht es nicht mehr. Der Staatsminister
für Wirtschaft, Ali Babacan sagt dazu: »Mit guten Gewissen kann ich
behaupten, dass die Türkei zum ersten Mal nach langen Jahren unter unserer
Regierung eine unabhängige Wirtschaftspolitik umsetzt.« Unterstützt wird er
dabei von höchster Stelle der internationalen Finanzinstitute. Nach dem
Abkommen über einen neuen Beistandskredit von 10 Milliarden US-Dollar von IWF,
sagte der für die Türkei zuständige Weltbankdirektor Andrew Vorkink am 10.
Januar 2005 der türkischen Tageszeitung Hürriyet, dass die Türkei mit der
Umsetzung aller wirtschaftlichen und strukturellen Vorgaben die richtige
Richtung angeschlagen habe. Vorkink betonte dabei auch, dass
Haushaltsdisziplin, makroökonomische Stabilität und Umsetzung der geforderten
Strukturreformen nicht nur die Vorgaben des IWF, sondern auch der EU sind und
die Türkei damit langfristig nicht mehr auf die IWF angewiesen sein werde.
Dass die Vorgaben der EU und der IWF identisch sind,
hat der gute Mann recht. In der von der Türkei der EU vorgelegten
»Wirtschaftsprogramm für die Verhandlungszeit (KEP)« steht folgendes: »Die
Grundperspektive für die Festlegung der Wirtschaftspolitik in dem
Verhandlungszeitraum ist die Erweiterung der wirtschaftlichen Struktur im
Rahmen der Kriterien von Kopenhagen und letztendlich die Annäherung an die
Kriterien von Maastricht. (...) Die Stärkung der freien Marktwirtschaft und die
Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit der türkischen Wirtschaft werden vorrangige
Ziele bleiben. In diesem Zusammenhang haben die Schritte zur Verringerung des
staatlichen Gewichts in der Wirtschaft durch Privatisierungen, die Überlassung
der Marktordnungsmechanismen an unabhängige Institutionen und die Beseitigung
der gesetzlichen Behinderungen für die freie Marktwirtschaft weiterhin eine
hohe Priorität« (KEP, Oberste Planungskommission der Republik Türkei).
Mit dieser Verpflichtung, die den wesentlichen
EU-Forderungen entsprechen, werden zugleich sämtliche Mitbestimmungsmöglichkeit
der Bevölkerung an der Wirtschaftspolitik ausgehebelt. So wird die neoliberale
Ausrichtung der türkischen Wirtschaftspolitik, wie sie von der IWF und der
Weltbank seit einem Vierteljahrhundert durchgesetzt wird und nachweislich das
Land nicht aus den Krisen herausholen konnte, mit den EU-Beitrittsverhandlungen
zu einer unveränderbaren Konstante erkoren.
»Der beste Exportartikel der Türkei ist ihre
Armee!«
Erdogan und seine Regierung haben in einer sehr
kurzen Zeit bewiesen, dass sie ein williger Partner für die Umsetzung einer
kapitalorientierten Politik sind. Das ist übrigens einer der wesentlichen
Gründe für den noch geltenden Frieden zwischen der laizistischen Generalität
und der islamistischen AKP. Die geteilten und verfassungsrechtlich verankerten
Machtverhältnisse sehen für die AKP-Regierung die Umsetzung der neoliberalen
Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitiken vor und für die Militärs, die freie
Hand in Sachen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
Diese Tatsache aber bedeutet für die
Bevölkerungsmehrheit Arbeitslosigkeit, Armut, weitere Abbau der sozialen
Sicherungssysteme, massive Demokratiedefizite und die Verletzung der Menschenrechte.
Die sog. Anstrengungen auf dem Terrain des Rechtsstaates, des Umgangs mit
Minderheiten und Modernisierungspozess zur Beseitigung regionaler Unterschiede
ändern daran nichts. Der Bericht des türkischen Menschenrechtsvereins IHD macht
deutlich, dass die vorgenommenen Gesetzesänderungen reine Makulatur und
kosmetische Operationen sind.
Dem IHD-Bericht zufolge stehen den »Reformen«
bewaffnete Auseinandersetzungen, willkürliche Exekutionen, Folter und
gerichtliche Verfolgung wegen Ausübung des Rechts auf Meinungsfreiheit
gegenüber. Die Zahl der registrierten Menschenrechtsverletzungen stieg von
6.472 (2003) auf 7.208 (2004) an. Obwohl die Zahl der gemeldeten Fälle von
Folter und entwürdigender Behandlung von 489 in Jahr 2003 auf 338 in 2004
zurückgegangen ist, stieg die Zahl der ungeklärten politischen Morde von 68 auf
80. Und trotz der geänderten Rechtslage werden weiterhin Radio- und
Fernsehsender verboten, weil sie politische Debatten in kurdischer Sprache oder
zensierte kurdische Musik gesendet hätten. (Siehe auch: junge welt vom
13.Januar 2005)
Die Ermordung eines 12jährigen kurdischen Schülers
und dessen Vater kurz vor dem EU-Gipfel durch Polizeibeamte, die Behinderung
der Ausübung von demokratischen Grundrechten, die Inhaftierung zahlreicher
politischer Häftlinge sowie die Beschneidung gewerkschaftlicher Aktivitäten
zeigen, dass die Türkei weiterhin als ein „Unrechtsstaat“ bezeichnet werden
kann und von einer bürgerlichen Demokratie noch sehr weit entfernt ist.
In diesem Zusammenhang muss auch konstatiert werden,
dass die EU-Beitrittsverhandlungen an diesem Umstand auch wenig verändern
werden. Die Demokratisierung des Landes, Menschenrechtssituation und
Minderheitenrechte spielen für die EU weiterhin eine nachrangige Rolle.
Die geostrategischen und militärischen Interessen
bestimmen die Handlungen der EU, aber auch der USA. Für die USA hat der
strategische Partner Türkei bei den zukünftigen Konflikten in der eurasischen
Region subunternehmerische Qualitäten. Für die EU ist sie wiederum ein Land,
welches die Gefahren der Region von Europa fernhalten soll und für die
neugeordneten Interessen wichtig ist. Aus diesem Grund sehen sowohl die EU als
auch die USA für die Türkei die militärische Rolle vor. Und die türkischen
Eliten, die mit Hilfe der Kurdenproblematik ihre militärische Kraft massiv
aufbauen konnten, sind Willens diese Rolle zu übernehmen. Schon im Dezember
1997 sagte der ehemalige Vizeoberbefehlshaber der türkischen Armee, der
Viersternegeneral Cevik Bir folgendes: »Die Energiereserven des 21. Jahrhunderts
liegen im Kaukasus. Daher sind in dem Dreieck Balkan-Kaukasus-Naher Osten
verschiedene Szenarien in Vorbereitung. Welche Szenarie auch umgesetzt wird,
die Türkei hat die Kraft dabei stets die Hauptrolle zu spielen.«
Das türkische Kapital hat die Signale rechtzeitig
erkannt und will sich von der Statistenrolle für das internationale Kapital
verabschieden. Anstattdessen sehen die wirtschaftlichen Eliten der Türkei in
der Neuordnung der europäischen Interessen und in den Interessenswidersprüchen
zwischen der USA und der EU eine historische Chance, ein unverzichtbarer und
starker Partner des internationalen Kapitals zu werden. Daher unterstützen die
türkischen Unternehmensverbände und Wirtschaftsführer die Bestrebungen der
türkischen Generalität, die wissen wo die Stärke der Türkei liegt.
Der Finanzjongleur George Soros brachte es auf den
Punkt: »Der beste Exportartikel der Türkei ist ihre Armee!« Die
Balancierungsversuche der Türkei auf dem dünnen Seil der US-amerikanisch –
europäischen Interessen bestätigen diese Feststellung. Der vorgesehene
EU-Beitritt ist daher sowohl für die EU als auch für die Türkei ein Projekt der
»Sicherheits- und Verteidigungspolitik«. Bisher konnte die EU die Auswirkungen
der Destabilisierung des Nahen Ostens und der kaukasischen Region von Europa
fern halten. Doch der von den USA vorangetriebene Formierungsprozess in diesen
Regionen bringt die EU in Handlungszwang. Ein militärisches Eingreifen der EU
ist aufgrund vieler Faktoren auf lange Sicht undenkbar. Die Intervention der
türkischen Armee als verlängerter Arm europäischer Interessen jedoch denkbar.
Der EU-Beitritt ist nicht im Interesse der
türkischen Bevölkerung
Die Interessen der europäischer und türkischer Eliten
decken sich. Die Interessen der Bevölkerungsmehrheit in der Türkei aber
sprechen gegen einen EU-Beitritt. Denn in einer EU, die zunehmend ein Europa
des Neoliberalismus, des ungezügelten Sozialabbaus und des Militarismus wird,
werden die Interessen der europäischen Bevölkerungen auf der Strecke bleiben.
Eine Türkei als Mitglied einer solchen EU wird nicht in der Lage sein, eine
unabhängige Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik zu gestalten. Sie wird
nicht in der Lage sein, ihre strategischen Güter zu schützen und ihre
Reichtümer für die mehr als notwendige Investitions- und Beschäftigungspolitik
einzusetzen. Und sie wird nicht in der Lage sein, sich aus der erdrückenden
Umklammerung des internationalen Kapitals sowie deren Institutionen zu
befreien.
Aus diesen Gründen kann ich die
Position der progressiven Kräfte der Türkei, die EU-Mitgliedschaft als ein
imperialistisches Projekt abzulehnen, nachvollziehen. Die Türkei, besser gesagt
die demokratischen und progressiven Kräfte der Türkei haben noch die Chance,
Alternativen zu der heutigen Politik zu entwickeln un sich für die echte
Demokratisierung des Landes einzusetzen. Wir Europäer, d.h. die europäischen
Linken sollten sie in gleicher Augenhöhe in diesem Bemühen unterstützen. Meines
Erachtens wäre die beste Unterstützung unser Einsatz gegen die EU-Verfassung und
für ein anderes Europa. Für ein Europa der sozialen Gerechtigkeit, der
Demokratie und des Friedens. Dafür müssen wir unsere Hausaufgaben erledigen.