TÜRKEI-EU

Zeit gewonnen

Die deutsch-französischen Vorschläge zur EU-Integration schmecken der neuen türkischen Regierung nicht, doch damit ist Zeit für einen Annäherungsprozess, der wahrlich nicht zwingend mit Vollintegration enden muss

Von Richard Meng

Wenn zwei politische Schlitzohren sich einigen, ist das Ergebnis meist nicht besonders handfest. So gesehen ist ein gewisses Misstrauen ratsam gegenüber dem abendlichen Türkei-Kompromiss zwischen Gerhard Schröder und Jacques Chirac. Da wollen Kanzler und Präsident sich zunächst schlicht einen aktuellen Streit vom Hals schaffen - auf bekannte Weise: Das Thema bleibt, unter allseitiger Gesichtswahrung, in der Schwebe. Und es bleiben hinreichend viele Fragezeichen, ob es bis zum Jahr 2005 wirklich dazu kommen kann, dass die bis dahin 25 EU-Mitglieder einstimmig die Verhandlungsaufnahme mit den Türken beschließen.

Der jetzige deutsch-französische Vorschlag ist weniger als das, was die neue Regierung in Ankara erhofft hatte. Er geht andererseits mit seinen konditionierten Daten weiter, als es in EU-Europa vor ein paar Monaten denkbar schien. Vom Effekt her bedeutet er, dass die von der EU selbst durch ihre früheren Beschlüsse geförderte Dynamik bestehen bleibt. Die Türkei braucht und hat die europäische Perspektive: Das produziert weiter Erwartungsdruck in Ankara und hält die Europäer unter Zugzwang.

Alles andere freilich wäre nach dieser Vorgeschichte unglaubwürdig und unklug, erst recht Anleihen bei der spalterischen neuen Abgrenzungslinie der deutschen Christenunion. So ist jetzt vor allem Zeit gewonnen. Zeit für einen Annäherungsprozess, der wahrlich nicht zwingend mit Vollintegration enden muss. Zeit aber auch für die künftige 25er-EU, sich ernsthafter Gedanken zu machen zur Offenheit gegenüber den Nachbarn.

Aus: Frankfurter Rundschau

Unehrliche Entscheidung

Wann hat es das je gegeben: Sozialisten, Grüne und Konservative sind gleichermaßen begeistert darüber, wie sich die Annäherung der Türkei an die Europäische Union weiter gestalten soll. Doch schnell zeigt sich, dass sie die Entscheidung von Kopenhagen aus ganz unterschiedlichen Motiven begrüßen.

von Daniela WEINGÄRTNER

Der sozialdemokratische Abgeordnete im Europaparlament Ozan Ceyhun hofft, dass die Türkei in den kommenden zwei Jahren ihre Reformfähigkeit beweisen wird. Joost Lagendijk von den Grünen lobt, die EU signalisiere ihren guten Willen, ohne ihre Mindestforderungen von Menschenrechten und Marktwirtschaft aufzuweichen. Und der Konservative Hans-Gert Pöttering vertraut darauf, dass die Zeit bis Ende 2004 genutzt wird, um über andere Formen der Partnerschaft nachzudenken.

Für diese unterschiedlichen Standpunkte gibt es gute Gründe. Wenn sich aber alle auf denselben Kopenhagener Beschluss stützen, zeigt sich, dass der ein entscheidendes Kriterium nicht erfüllt: Eindeutigkeit. Befürworter und Gegner des Türkeibeitritts haben gefordert, dass die EU die Türkei nicht noch länger hinhalten darf. Das nun beschlossene Verfahren aber ist eine Einladung, damit fortzufahren. Ihr seid nicht willig in der Zypernfrage? Das könnte sich auf eure Benotung Ende 2004 negativ auswirken. Ihr verlangt mehr Hilfen vor dem Beitritt? Das könnte uns daran erinnern, dass euer Beitritt die Union zu teuer käme.

Zum 1. Mai 2004 wird die EU-Kommission auf 25 Kommissare erweitert. Fünf Monate später soll sie den Fortschrittsbericht veröffentlichen, der den 25 Staats- und Regierungschefs beim Gipfel im Dezember 2004 als Grundlage für ihre Entscheidung dienen soll. Welche Eigendynamik diese vergrößerte Runde entfalten wird, ist nicht vorherzusagen. Außerdem weiß niemand, ob es Gipfel wie den von Kopenhagen dann überhaupt noch geben wird. Derzeit wird an einer Reform der EU gearbeitet, weil alle einsehen, dass sich das Gipfelritual, wo übermüdet und unter Zeitdruck entschieden wird, überlebt hat. Die Staatschefs hätten also in Kopenhagen den Türkeibericht der Kommission für Ende 2003 bestellen müssen - vorausgesetzt, es geht ihnen wirklich um eine eindeutige Beitrittsperspektive. Träumen sie aber heimlich davon, die türkische Anwartschaft in den kommenden Jahren in eine andere Form der Partnerschaft umzumodeln, hätten sie den Mut aufbringen müssen, das endlich ehrlich zu sagen.

Aus: taz Nr. 6930 vom 14.12.2002, Seite 1, 85 Zeilen (Kommentar), DANIELA WEINGÄRTNER,

Türkei-Frage hart umkämpft

Von Horst Bacia

Alle Warnungen sind vergebens gewesen. Das Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs in Kopenhagen ist auch zum Türkei-Gipfel geworden.

Die historische Entscheidung über die Aufnahme zehn neuer Mitglieder in die Gemeinschaft ist nicht säuberlich von der Frage zu trennen, was man gleichzeitig der Türkei anbieten kann oder soll. Das geht schon deshalb nicht, weil einer der neuen Mitglieder das seit vier Jahrzehnten geteilte Zypern ist.

Alles hängt zusammen

Irgendwie hängt alles zusammen, selbst wenn es nicht direkt miteinander verknüpft werden kann. Das erkennt auch Anders Fogh Rasmussen an, der selbstbewußt Gelassenheit und Kompetenz ausstrahlende dänische Ministerpräsident und amtierende EU-Ratsvorsitzende. Bei ihm, dem Gastgeber und Vorsitzenden des Treffens, laufen in diesen Tagen die vielen verhedderten Fäden eines komplizierten türkisch-griechisch-zyprischen Geflechts zusammen. Wird es gelingen, den gordischen Knoten zu lösen?

Eine große Zahl von Akteuren ist an dem schwer durchschaubaren Spiel vor und hinter den Kulissen beteiligt. Der griechische Ministerpräsident Kostas Simitis traf sich vor dem Gipfel noch einmal mit Recep Tayyip Erdogan, dem Führer der türkischen Regierungspartei AKP, der direkt aus Washington nach Kopenhagen gekommen war. Unterdessen setzte der Zypern-Beauftragte des UN-Generalsekretärs, Alvaro de Soto, seine Gespräche mit dem zyprischen Präsidenten Glafkos Klerides und Vertretern der türkischen Volksgruppe auf Zypern fort. Deren Führer, Rauf Denktasch, nach einer Herzoperation und zweimonatiger Genesung in New York erst in der vergangen Woche auf die Insel zurückgekehrt, konnte aus gesundheitlichen Gründen nicht in die dänische Hauptstadt kommen. Er begab sich in ein Krankenhaus in Ankara. Ein schlechtes Omen?

Lösung der Zypern-Frage

Sollte das optimistische Szenario eintreffen, könnte der Gipfel in Kopenhagen auch deshalb historisch genannt werden, weil dort die Lösung der Zypern-Frage auf der Grundlage eines von UN-Generalsekretär Annan vorgelegten Plans gelungen ist. Andererseits würde es unweigerlich Rückwirkungen auf das Verhältnis zwischen der Türkei und der EU haben, wenn sich die Vertreter der

auf Zypern lebenden Griechen und Türken nicht auf den jüngsten, am Dienstag nach Einwänden beider Seiten in einigen Punkten nachgebesserten Vorschlag der Vereinten Nationen einigen könnten. Einen Raum für die Unterzeichnung einer Grundsatzvereinbarung über Zypern hat die dänische Präsidentschaft für alle Fälle vorbereiten lassen. Und UN-Generalssekretär Annan schloß nicht aus, selber nach Kopenhagen zu kommen, wenn mit einem erfolgreichen Abschluß der Zypern-Verhandlungen zu rechnen sei.

Das deutsch-französische Angebot an die Türkei, Ende 2004 die bis dahin erreichten Reformfortschritte zu überprüfen und ihr für den 1. Juli 2005 die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen in Aussicht zu stellen, ist auch an Zugeständnisse in der Zypern-Frage und ein Nachgeben im Streit um die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) gebunden. Das hat Außenminister Fischer vor wenigen Tagen in Brüssel noch einmal deutlich gemacht. Wenn besonders Griechenland und Großbritannien darauf dringen, der Türkei noch weiter entgegen zu kommen und ihr schon jetzt spätestens für 2004 Beitrittsverhandlungen zuzusagen, ist damit zweifellos auch die Absicht

verbunden, möglichst günstige Voraussetzungen für eine Lösung des Zypern-Konflikts zu schaffen. Beide sind, zusammen mit der Türkei, Garantiemächte der Verträge, mit denen Zypern 1960 in eine mißlungene Unabhängigkeit entlassen wurde.

EU erwartet Nachgiebigkeit

Beide haben dort besondere Interessen. Großbritannien behielt große, souveräne Militär-Stützpunkte auf der Insel. Und Griechenland will auf jeden Fall den Beitritt Zyperns durchsetzen: Sei es geteilt - mit der Aufnahme des nicht von türkischen Truppen besetzen, von Zyperngriechen kontrollierten Südens, wobei Präsident Klerides ganz Zypern repräsentieren würde - oder vereint unter Bedingungen, die der UN-Plan auf 145 Seiten in allen Einzelheiten ausbuchstabiert: Mit zwei gleichberechtigten Teilstaaten unter einem gemeinsamen Dach, drei Flaggen, zwei Sprachen und entsprechend komplizierten politischen Institutionen.

Für das hart umkämpfte Datum erwartet die EU von der Türkei also Nachgiebigkeit in der Zypern-Frage und bei der ESVP (wo es im Falle eines militärischen Krisenmanagement-Einsatzes der EU um den gesicherten Zugang zu Mitteln und Fähigkeiten der Nato geht). Die Türkei hingegen ist zu Zugeständnissen offenbar erst bereit, wenn sie mit ihrem Verlangen Gehör gefunden hat, daß Beitrittsverhandlungen schon 2003 oder spätestens vor dem 1. April 2004 beginnen müßten. Hinter dieser Forderung verbirgt sich die Furcht, die neuen Mitglieder - der 1. April ist das schon beschlossene Datum für ihre Aufnahme - könnten die türkische Beitrittsperspektive anders beurteilen als die bisherigen. Außerdem vertreten Parteichef Erdogan und Ministerpräsident Abdullah Gül offensiv die Position, mit den beschlossenen Reformen habe die Türkei die politischen Kriterien schon erfüllt.

Daß Zypern der EU auch ohne Lösung der Zypern-Frage beitreten kann, hatten die Staats- und Regierungschefs schon 1999 in Helsinki beschlossen. Daran ist nicht zu rütteln. Die Kunst der Diplomatie wird darin bestehen, die jetzige Chance für eine Lösung des Konflikts nicht zu vertun. Griechenland und die Zyperngriechen wollen deshalb, daß die Verhandlungen auf jeden Fall weitergehen. Anders als ihre Vorgängerin scheint die neue türkische Regierung ebenfalls ein Interesse daran zu haben, daß Denktasch die Tür für weitere Gespräche nicht zuschlägt. Dies zu erreichen und die Türkei so weit zufrieden zu stellen, daß sie den Gipfel in Kopenhagen nach allzu hoch geschraubten Erwartungen nicht als Niederlage empfindet, ist für alle Beteiligten eine Herausforderung.

Aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung

Türkei darf 2004 zum Reifetest

Nach einer heftigen Diskussion beim Abendessen fiel die Entscheidung: Schon Ende 2004 könnte die Europäische Union der Türkei Beitrittsverhandlungen anbieten. Voraussetzung: Das Land am Bosporus erfüllt bis dahin alle Kriterien für eine Aufnahme. Auch auf ein Finanzpaket für die Osterweiterung einigten sich die Staats- und Regierungschefs der EU.

Der dänische Ministerpräsident und Ratspräsident der Europäischen Union (EU), Anders Fogh Rasmussen, sagte in der Nacht beim EU-Gipfel in Kopenhagen: "Wenn der Europäische Rat im Dezember 2004 entscheidet, dass die Türkei die politischen Kriterien erfüllt, dann können die Beitrittsverhandlungen beginnen." Dies könne dann so bald wie möglich geschehen. Die Entscheidung bedeutet einen Rückschlag für die Türkei, die mit Unterstützung der USA auf einen Beginn der Verhandlungen bereits im kommenden Jahr gedrängt hatte. Die Türkei reagierte zurückhaltend auf den Beschluss und betonte, dieser könne noch geändert werden.

Die Türkei-Frage und die Finanzierung der Erweiterung sind die zentralen Themen des zweitägigen Treffens, bei dem mit der Aufnahme von zehn zumeist osteuropäischen Staaten die bislang größte Erweiterung der EU beschlossen werden soll. Rasmussen und Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) appellierten im Vorfeld der Beratungen an Mitglieder und Kandidaten, die historische Chance einer Einigung Europas über die Grenzen des Kalten Krieges hinweg nicht an finanziellen Streitigkeiten scheitern zu lassen.

Kontroverse Diskussion über Türkei-Frage

Die Staats- und Regierungschefs der EU waren ohne einheitliche Haltung zur Türkei-Frage in das Abendessen zum Auftakt des Gipfels gegangen. Italiens Ministerpräsident Silvio Berlusconi hatte gesagt, sechs Staaten seien für Verhandlungen bereits im Jahr 2004. Die Niederlande, Schweden und Finnland hatten sich am stärksten gegen ein schnelles Datum gewandt. Deutschland und Frankreich wollten 2004 erst über die EU-Reife des Landes entscheiden und Verhandlungen im Juli 2005 beginnen. Der Beschluss von Kopenhagen kommt diesem Vorschlag sehr nahe.

Teilnehmer berichteten von einer heftigen Diskussion beim Abendessen über die Türkei-Frage und über Kritik am Druck von Recep Tayyip Erdogan, dem Chef der Regierungspartei AKP, zu einer schnellen Entscheidung. Berlusconi sagte: "Viele haben (den türkischen Druck) als bedauerlich und unannehmbar empfunden." Ein Regierungschef sagte: "Einige Staaten, die ziemlich offen waren für die Türkei, waren sehr schockiert von der Erpressungskampagne der letzten Tage. Herr Erdogan hat ein sehr kontraproduktives Verhalten." Er zitierte Frankreichs Präsident Jacques Chirac mit den Worten: "Es ist nicht genug, europäisches Recht zu respektieren, man muss auch höflich und zivilisiert sein."

Ein türkischer Regierungsbeamter erklärte, die EU-Entscheidung nehme die türkische Entschlossenheit nicht ausreichend zur Kenntnis. "Aber es ist immer noch Zeit für eine Korrektur, und die Versuche (dazu) werden bis zur letzten Minute weitergehen." Ein Berater von Erdogan hatte von einer wohlmeinenden Entscheidung gesprochen, die nicht schlecht sei. Für Freitag ist ein Treffen des türkischen Ministerpräsidenten Abdullah Gül mit Schröder und Chirac geplant, an dem möglicherweise Erdogan teilnehmen soll.

Einheitliche Linie zur Erweiterung

Zum Streit über die Finanzierung der Erweiterung sagte ein EU-Diplomat: "Die 15 (Staats- und Regierungschefs) haben dem dänischen Finanzpaket zugestimmt." Dieses sieht für die Jahre 2004 bis 2006 Kosten von 40,5 Milliarden Euro vor. Zuvor hatten Deutschland und andere Nettozahler der EU den dänischen Vorschlag als zu teuer kritisiert und verlangt, die Kosten müssten im Rahmen der im Oktober vereinbarten Obergrenze von 39,3 Milliarden Euro bleiben. Dagegen fordern mehrere der zehn Kandidaten, vor allem Polen, Zahlungen über den dänischen Vorschlag hinaus. Dänemark will am Freitag in Einzelgesprächen mit den Kandidaten eine Einigung über die Erweiterung erreichen.

Schröder hatte die Beitrittsländer vor überzogenen Forderungen gewarnt, zugleich aber deutsche Kompromissbereitschaft bei der Finanzierung der Erweiterung signalisiert. Deutschland werde nicht den Fehler machen, die historische Chance der Erweiterung nicht zu nutzen, sagte er. Dem müssten sich auch die "materiellen Details" unterordnen. Rasmussen warnte die Beitrittsländer, ihre Aufnahme durch überzogene Forderungen um mehrere Jahre zu verzögern. "Ich sage nicht, dass dies eine Frage von 'Jetzt oder Nie' ist", sagte Rasmussen zum Auftakt des zweitägigen Gipfels. "Aber es ist eine Frage von jetzt oder einer Verschiebung um Jahre, vielleicht viele Jahre."

Aus: Spiegel Online

Başa dön
Nach oben