TÜRKEI - EU

Ja, sie gehören in die EU

Von Michael Thumann

Wieder geht ein Gespenst um in Europa: ein muslimisches Land, das mit seinem Beitrittsgesuch zur EU die Identität Europas bedroht. Das Abendland ist in Gefahr, heißt die furchtbare Botschaft, die Türken stehen vor Brüssel! Die Debatte um die EU-Erweiterung ist umgeschlagen: von der gefeierten Wiederverschmelzung der Hälften Europas hin zur verzagten Suche nach neuen Mauern.

Entscheiden die Staats- und Regierungschefs der EU in Kopenhagen, der Türkei eine zeitlich feste Beitrittsperspektive zu geben, werden die Kritiker aufschreien. Renommierte Historiker, Politiker, Publizisten, die meinen, dass Europas Grenze vor dem Bosporus, vor dem europäischen Teil der Türkei, enden solle. Um dies zu begründen, beschwören sie allerlei Gefahren, die längst europäische Gebrechen sind, auch ohne die Türkei. Es geht den Abendländlern um die Identität, die Werte, um die Handlungsfähigkeit Europas.

Was ist das, die europäische Identität? Macht sie sich an der Aufklärung fest, an der Sprache, am Glaubensbekenntnis? Die Aufklärung hat zum Beispiel auch das EU-Mitglied Griechenland und die Kandidaten Bulgarien und Rumänien kaum gestreift. An Sprachen ist die Union fast so reich wie der Kaukasus. Eint uns der Glaube? Der katholische Spanier hat mit dem protestantischen Finnen so wenig gemein wie der anglikanische Brite mit dem orthodoxen Griechen. Dennoch pilgern sie alle zu den hoch aufragenden Profanbauten von Brüssel und huldigen dieser sehr weltlichen Union europäischer Staaten. Warum sollten die muslimischen Türken dies nicht können?

Gräbt man im Geschichtsbuch, so fällt auf, dass die Türkei zu Europa gehört, anders als Turkmenistan oder Marokko. Wie selbstverständlich war das Osmanische Reich in das europäische Mächtegeflecht der Frühen Neuzeit eingebunden. Warum sonst paktierte der Rex christianissimus, Franz I. von Frankreich, mit dem Sultan gegen den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation? Glaube spielte da keine Rolle. Und heute? Niemand käme auf die Idee, den bosnischen Muslimen ihre europäische Herkunft abzusprechen, nur weil sie den Ramadan feiern. Sind etwa die 2,5 Millionen türkischstämmigen Bürger in Deutschland nur Asiaten auf Besuch in Europa? Christentum und Islam taugen nicht für politische Grenzziehungen. Beide sind Teil der europäischen Geschichte.

Wer dies anerkennt und die EU für die Türkei öffnet, tut viel für das verspannte Verhältnis von Deutschen und Türken. Eine klare EU-Perspektive für Ankara wird das steile Gefälle ebnen, das heute noch viele Türken nach Deutschland treibt. Beispiele liefern Spanien und Portugal. Ihre Völker drängt es nicht mehr „nach Europa“, seitdem sie Mitglieder im Klub sind.

Teilen die Türken die europäischen Werte? Sicherlich haben türkische Offiziere einige Probleme damit. Aber nicht mehr als Silvio Berlusconi, der gerade den italienischen Rechtsstaat nach seinen privaten Bedürfnissen umbaut. Gemessen an der Begeisterung der Bevölkerung für die europäische Integration, müssten die Türken schon morgen EU-Bürger werden und die Briten austreten. Die emphatisch pro-europäische Regierung, welche die Türken gerade gewählt haben, will die Rechte ihrer Bürger auf EU-Niveau bringen. Was mit der Abschaffung der Todesstrafe im Sommer begann, soll mit einem Rechtsstaat nach Brüsseler Gardemaß enden. Die Kurden spüren schon jetzt die neuen Freiheiten. Warum sollten die Europäer diesen in der muslimischen Welt beispiellosen Elan mit einem Nein abwürgen? Es wäre eine historische Torheit.

Wird Europa durch die Türkei handlungsunfähig? Gegenfrage: Passen „Europa“ und „Handlungsfähigkeit“ in irgendeinen näheren Zusammenhang? Die EU schlingert in der Irak-Krise wie eine Jolle im Sturm, sie verzagt vor der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, sie versagt vor großen inneren Reformen. Und nun kommen die Türken und verhunzen, was heute schon so traurig aussieht? Das Gegenteil ist richtig, nach außen und innen.

Vor einer Außengrenze mit dem Irak und Iran muss sich die EU nicht fürchten. Oder will sie die Weltpolitik ganz den Amerikanern überlassen? Dort liegen strategisch wichtige Gebiete für Europas Versorgung: die riesigen Gasreserven Irans, die Reichtümer des Kaspischen Meers, die Ölreserven des Iraks. Die Türkei ist in dieser Region ein mächtiger Spieler, der ein ganzes Geflecht von Drähten zu den Nachbarländern neu gezogen hat. Mit der Türkei erhielte die EU-Außenpolitik deutlich mehr Gewicht als heute, da sich ihre Emissäre schon schwer tun, einen Termin bei Israels Ariel Scharon zu bekommen.

Weit hergeholt ist die Vermutung, die Türken würden dereinst Amerikas treuen Knappen geben, wenn die EU nach außen geschlossen auftreten will. Sicher pflegt das Militär ähnlich gute Beziehungen nach Washington wie die Briten. Doch türkische Politiker und Wähler quälen sich mit der Schutzmacht ebenso herum wie die Europäer. Gegen den Irak zögen die Türken so ungern ins Feld wie die Deutschen.

Nach innen liegen die Dinge komplizierter. Denn es gibt einen ernsthaften Grund, der heute noch gegen einen EU-Beitritt Ankaras spricht: die Wirtschaft. Das Pro-Kopf-Einkommen der Türken beträgt 22 Prozent des EU-Durchschnitts. Damit spielen sie just in jener Südost-Liga, zu der die Beitrittskandidaten Rumänien und Bulgarien gehören. Die neue Regierung in Ankara will den Aufstieg in die Europa-Klasse schaffen. Muss sie auch. Denn 68 Millionen mehrheitlich arme Türken kann sich die EU noch weniger leisten als 22 Millionen Rumänen.

Doch lauert in der Krise die Chance. Was wäre besser geeignet als eine herannahende Türkei, die bewegungsscheue EU zu zwingen, sich selbst zu renovieren? Die Erklärung, dass Beitrittsverhandlungen ergebnisoffen sind, ist überfällig. Die EU darf sich nicht länger die Frage verbieten, was mit Ländern geschieht, die im ersten Anlauf scheitern. Das könnte Rumänien treffen, auch die Türkei. Schon längst hätte Brüssel seine zahllosen Töpfe ohne Boden ausmustern müssen. Vor allem bei den Agrar- und Kohäsionsfonds. Warum, bitte schön, sollte Europas Vielfalt weiter mit vierspurigen Dorfstraßen in Andalusien zugeteert werden? Zu guter Letzt: Wenn Deutsche und Franzosen den Einfluss der Türkei in der EU fürchten, hindert sie nichts daran, als Gleichgesinnte den Fußfaulen voranzulaufen.

Ein Datum für Beitrittsverhandlungen mit der Türkei würde das überlebte EU-Motto „Weiter so, nur fetter“ platzen lassen. Nicht nur die Türkei, auch die EU würde moderner und zukunftsfähiger. Startschuss in Kopenhagen.

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