Die Grenzen der Größe

In der Welt wird die EU nicht an ihrer Größe, sondern daran gemessen, was sie daraus macht: Dem Anspruch, Europa als globales Modell und internationalen Stabilitätsfaktor zu etablieren, fehlt immer noch die praktische Substanz - und leider auch das politische Personal

Von Martin Winter

Das Werk ist getan, und alles in allem ist es kein schlechtes geworden. Die Erweiterung der Europäischen Union um acht osteuropäische Länder sowie Malta und Zypern verändert Europa tiefgreifend. Sie schiebt die Grenzen der EU bis zur Ukraine und bis nach Russland vor, ohne neue Gräben durch den Kontinent zu ziehen. Sie schafft einen in der Geschichte der Alten Welt noch nie dagewesenen Raum gemeinsamen Wirtschaftens, gemeinsamer Politik und gemeinsamer Sicherheit. Europa ist mit dem Beschluss von Kopenhagen nicht größer geworden, sondern groß. Ob sich diese Größe auch in adäquate Macht umsetzt, ist eine noch offene, gleichwohl aber die entscheidende Frage der Zukunft. Denn wenn die EU nur breit, aber nicht stark wird, dann verliert sie, was sie durch die Beitritte zu gewinnen hoffte.

So wichtig die solide finanzielle wie politische Fundierung der Erweiterung ist und so schwer es auch war, ehemals kommunistische Länder an die EU heranzuführen, die Union steht jetzt vor einer mindestens genauso gigantischen, vierfachen Aufgabe: Sie muss die Erweiterung ökonomisch verdauen. Sie muss sich Strukturen und Institutionen geben, die eine Gemeinschaft von 25 Staaten mit 22 Amtssprachen handlungsfähig halten. Sie muss beginnen, sich über ihre geographischen Grenzen zu verständigen. Und sie muss ihre Rolle in der Welt definieren. Wahrlich historisch wird man das Werk der Erweiterung erst nennen können, wenn sich ökonomische Quantität in weltpolitische Qualität umsetzt. Oder, um es mit einem Nebenereignis des Kopenhagener Gipfels zu illustrieren: Wenn Washington oder auch Ankara sich nicht mehr trauen, die EU strategisch herumzuschubsen.

Was die wirtschaftliche Seite der Erweiterung angeht, stehen den langfristigen Gewinnen durch den vergrößerten Binnenmarkt kurz- und mittelfristige Zuschüsse an die neuen Mitglieder gegenüber, die von den alten aufgebracht werden müssen. Das jedoch hält sich bislang in überschaubarem Rahmen und wenn sich alle Beteiligten 2006 bei der Debatte über das neue EU-Budget nur halbwegs an den Kriterien ökonomischer und politischer Vernunft orientieren, sollte daraus kein grundlegendes Problem erwachsen. Etwas schwieriger stellt sich die Lage bei der inneren Reform der EU dar. Der Konvent für die Erarbeitung eines europäischen Verfassungsvertrages macht zwar erstaunliche Fortschritte. Aber das ambitionierte Projekt, der neuen EU nicht nur handhabbare Strukturen zu verschaffen, sondern auch ein höheres Maß an politischer Integration, droht an der Souveränitätsschwelle der neuen Mitglieder aufgehalten zu werden. Wer sich erinnert, wie schwer es selbst "alten Europäern" wie Deutschland oder Frankreich noch fällt, Souveränität an Brüssel abzugeben, der mag ermessen, mit welch gemischten Gefühlen man in Warschau, Budapest, Vilnius oder Bratislava Souveränitätstransfers betrachtet.

Das größte Problem aber, vor dem die EU steht, ist die lange verdrängte, nun unvermeidliche Debatte über ihre geographischen Grenzen. Die Formel, dass jeder europäische Staat, der die politischen und wirtschaftlichen Bedingungen der EU erfüllt, einen Anspruch auf Mitgliedschaft hat, ist aus Gründen der Selbsterhaltung der Gemeinschaft nicht mehr haltbar. Schon heute stehen auf der künftigen Erweiterungsliste Bulgarien, Rumänien und die Türkei. Den Ländern des westlichen Balkans sind bereits Versprechungen in die gleiche Richtung gemacht worden. Man braucht nicht die Mentalität eines rechten Wahlkämpfers zu haben, um sich vorzustellen, dass dies die Geduld der EU-Völker überstrapazieren könnte. Und es bedarf nicht vieler analytischer Fähigkeiten zu begreifen, dass eine so ausgedehnte EU sich selbst zu einer Freihandelszone de luxe reduziert, weil die Gemeinsamkeiten auf unabsehbare Zeit zu gering sind, die Basis für eine wirkliche politische Union zu bilden.

In der Welt wird die EU nicht an ihrer Größe, sondern daran gemessen, was sie daraus macht. Dem von europäischen Führern erhobenen Anspruch, Europa als globales Modell und internationalen Stabilitätsfaktor zu etablieren, fehlt immer noch die praktische Substanz und leider auch das politische Personal. In einer eigentümlich antizyklischen Bewegung zur Erweiterung sind die meisten Regierungschefs in eine eher nationale Attitüde zurückgefallen. Gemeinschaftliches Denken und Handeln sind gegenüber kleinlichem Feilschen in den Hintergrund geraten. Selbst wenn der deutsch-französische Motor wieder einigermaßen läuft, eine europäische Führung ist das noch nicht. Die EU hat sich meist über visionäre Projekte voranbewegt. Mit der Vertiefung liegt eines auf dem Tisch. Es müssen sich nur noch diejenigen finden, die diese Chance beherzt ergreifen. Und sei es um den Preis, dass weitere Beitrittsrunden warten müssen.

Frankfurter Rundschau- 13.12.2002

Başa dön
Nach oben