Bibliotheken in der griechischen und römischen Zivilisation
Prof. R. Barth
Die Bibliothek von Alexandria (Museion)
Die Bibliothek von Alexandria und ihre "Schwester", jene von Pergamon, sind die herausragenden Bibliotheken der griechisch-römischen Antike. Die alexandrinische Bibliothek ist die mit Abstand grösste der Epoche. Sie gilt als das antike Vorläufermodell der modernen Nationalbibliotheken. Von Bedeutung ist sie im weiteren, weil in ihr die ersten Bibliothekskataloge und die Vorbilder der antiken Buchverzeichnung geschaffen wurden. Trotz dieser herausragenden Rolle für das antike Bibliothekswesen und den antiken Wissenschafts- und Literaturbetrieb sind die überlieferten Zeugnisse ungenau und teilweise widersprüchlich, zudem fehlen archäologische Funde. Viele Forschungsprobleme sind deshalb nicht restlos geklärt: das Gründungsdatum, die räumliche Ausgestaltung, die Organisation, der Umfang der aufbewahrten Buchrollen und ihre Erwerbung sowie die Ereignisse, die zur Zerstörung der Bibliothek geführt haben. In den folgenden Ausführungen werden diese Forschungskontroversen nicht im einzelnen diskutiert, sondern es wird der aktuelle Forschungsstand zu den wichtigsten Themen und Fragen rekapituliert.
Die Geschichte der Bibliothek ist eng mit Gründung und Festigung des ptolemäischen Königreichs in Ägypten und mit der Ausbreitung der griechischen Kultur über den gesamten Mittelmeerraum verknüpft. Nach dem Tod Alexanders d. Gr., 323 v. Chr., dessen Weltreich unter die Diadochen aufgeteilt wurde, erhielt dessen fähiger General Ptolemaios I. Soter (um 367-284 v. Chr.) Ägypten zugesprochen. Ptolemaios verstand es, in den folgenden Jahrzehnten seine Herrschaft zu festigen und ein stabiles Königtum zu etablieren. Mit den leitenden Verwaltungsaufgaben betraute er die griechische Oberschicht, die sich sozial, politisch und kulturell von der ägyptischen Bevölkerung abgrenzte und sich dieser überlegen fühlte. Darüberhinaus verband - ganz in der Tradition der Makedonenkönige Philipp und Alexander - die ersten Ptolemäerkönige eine enge Verbindung zu Vertretern des Lykeions, der Akademie des Aristoteles. Wie Philipp von Makedonien, der seinen Sohn Alexander durch Aristoteles unterrichten liess, legte auch Ptolemaios I. Soter die Erziehung des Thronfolgers in die Hände eines Mitglieds des Lykeions, in jene Stratons von Lampsakos, der später die Leitung der aristotelischen Akademie übernahm. Auch konnte der aus Athen über Theben nach Alexandria geflüchtete, ehemalige Athener Tyrann Demetrios von Phaleron, der ebenfalls zum Kreis der Freunde und Schüler des Aristoteles und des Theophrast zählte, rasch Einfluss am Hof von Ptolemaios I. Soter gewinnen. Hof und Verwaltung von Alexandria waren somit hellenisiert, und das aristotelische Gedankengut nahm einen festen Platz ein.
Nachdem Ptolemaios I. Soter in den ersten Jahrzehnten seiner Regierung in Ägypten seine Machtstellung gefestigt hatte, ging er daran, dieser auch auf kultureller Ebene Geltung zu verschaffen. Wenn er - wesentlich beeinflusst und unterstützt durch Demetrios von Phaleron - um 295 v. Chr. eine Akademie nach aristotelischem Vorbild ins Leben rief, so war dies Ausdruck dieses Strebens, seiner Herrschaft auch auf kulturell-wissenschaftlichem Gebieet Gewicht verleihen. Das Museion, so der Name der Akademie, war Forschungs- und Kultstätte zugleich. Entsprechend seinem Vorbild wurden die gesamten damaligen Wissenschaften und literarischen Disziplinen sowie ein Musenkult - deshalb auch der Name - gepflegt. Die Mitglieder des Museions wurden vom König ernannt und mit grosszügigen Privilegien ausgestattet: Sie erhielten ein Gehalt, Kost und Logis und waren von den Steuern befreit. Unter königlicher Obhut sollten sie philosophieren, forschen und dichten können und dadurch letztlich dem Ptolemäerreich weltweiten Ruhm bringen. Um dafür optimale Bedingungen zu schaffen, erhielt das Museion möglicherweise noch in der Regierungszeit von Ptolemaios I. Soter eine Bibliothek angegliedert, wobei auch hier Demetrios federführend war. Reichen die Ursprünge von Museion und Bibliothek somit in die letzten Jahrzehnte der Regierungszeit von Ptolemaios I. Soter zurück, so entfalteten sie ihre Blüte dann hauptsächlich unter dessen Sohn Ptolemaios II. Philadelphos (308-246 v. Chr.). Den hohen Ansprüchen entsprechend, mit denen die Ptolemäer das griechisch-hellenistische Kulturgut förderten, war auch das Ziel für die Bibliothek ausserordentlich: Es sollte das gesamte damalige griechische Schriftum gesammelt werden. Darüber hinaus wurden unter Ptolemaios II. und seinen Nachfolgern auch von wichtigen fremdsprachigen Werken Übersetzungen ins Griechische angefertigt, so etwa vom hebräischen Alten Testament, der Thora und möglicherweise auch von den iranischen Texten des Zarathustra.
Baulich bildete die Bibliothek einen Teil des Museions, das im Brucheion, dem Palastbezirk von Alexandria, errichtet worden war. Aufgrund der erwähnten Quellenarmut lassen sich allerdings keine gesicherten Angaben über Raumgestaltung und Ausstattung machen. Ebenfalls über die Anzahl der aufbewahrten Schriftrollen, die im Laufe der 550jährigen Geschichte der Bibliothek von Alexandria gesammelt wurden, herrscht keine Klarheit. Zu divergierend sind die in den Quellen genannten Zahlen, die von 40'000 bis 700'000 Rollen reichen. Die genauesten Angaben macht der im 12. Jahrhundert lebende byzantinische Gelehrte Tzetzes. Sich auf frühere hellenistische Quellen berufend, spricht er von insgesamt 490'000 Rollen, die sich in der Mitte des 3. Jahrhunderts in der Bibliothek befunden haben sollen. Dabei unterscheidet er zwischen 400'000 vermischten und 90'000 unvermischten, einfachen Rollen, was in der Forschung zu unterschiedlichen Interpretationen geführt hat. Vor allem die ältere Forschung argumentierte, dass eine einfache Rolle entweder einen Titel oder einen Teil eines grösseren Werkes umfasste und vermischte Rollen jeweils mehrere Werke beinhalteten, also Sammelschriften waren. Neuere Ansätze (Canfora, Blanck) kommen hingegen zum gegenteiligen Schluss und verstehen die Mischrolle als Rolle, die, zusammen mit anderen, ein einziges Werk ausmachte, während die einfache Rolle lediglich ein Werk umfasste; daraus liesse sich das Missverhältnis von 400'000 gegen 90'000 erklären. Die unterschiedlichen überlieferten Zahlenangaben, die Schwierigkeiten ihrer Interpretation und nicht zuletzt die Tatsache, dass viele Werke in mehreren Kopien vorhanden waren, verunmöglichen es auch, klare Aussagen über die Zahl der in Alexandria vorhandenen Titel (also Werke) zu machen. Fest steht einzig, dass die Bibliothek einen für ihre Zeit enormen Umfang gehabt haben muss.
Über die Art und Weise, wie diese Bücher erworben wurden, haben die Quellen einige Informationen hinterlassen. So wird berichtet, dass alle Schiffe, die in Alexandria anlegten, ihre mitgeführten Schriftrollen abgeben mussten, welche von Schreibern der Bibliothek kopiert wurden. Anschliessend wurden diese Kopien den Eigentümern zurückgeben, während die Originale im Besitz der Bibliothek blieben. Eine andere Anekdote besagt, dass sich die Ptolemäer gegen ein Depot von 15 Talenten Originalabschriften der griechischen Klassiker von Athen zur Abschrift geben liessen, dann aber die hinterlegte Summe verfallen liessen und die Schriftrollen behielten. Wieviel an diesen Berichten wahr ist, ist umstritten, denn bei einem Teil handelte es sich um Gerüchte, wie sie von der "Konkurrenz", hauptsächlich der in derselben Zeit entstandenen Bibliothek von Pergamon, in Umlauf gesetzt wurden. Auf jeden Fall aber dokumentieren solche Zeugnisse, dass man in Alexandria alles daran setzte, um zu den gewünschten Werken zu kommen, und dabei neben der normalen Kauf- und Kopiertätigkeit illegale Mittel nicht scheute. Dass man allerdings nicht immer auf der ganzen Linie erfolgreich war, zeigt das Beispiel der Bibliothek des Aristoteles, um die sich Alexandria intensiv bemühte. Von Neleus, der die Bibliothek testamentarisch von Theophrast, dem Nachfolger von Aristoteles als Vorsteher des Lykeions, zugesprochen erhalten hatte, jedoch aus Ärger darüber, nicht für dessen Nachfolge gewählt worden zu sein, Athen verlassen hatte, konnte die alexandrinische Bibliothek nur - wie heute allgemein angenommen wird - jene Bücher erwerben, die Aristoteles von anderen Autoren besass. Der gesamte nichtveröffentlichte Nachlass sowie die wertvollen Notizen zu Aristoteles' Vorlesungen gelangten nicht nach Alexandria.
Die Bibliothek von Alexandria hatte nicht allein wegen ihrer Grösse eine herausragende Bedeutung, sondern ebenfalls als Ort der antiken Literaturkritik, der Katalogisierung und der Bibliographie. So war es das Ziel der Bibliothek, nicht nur die griechisch-hellenistische Literatur und die wichtigsten fremdsprachigen Werke möglichst vollständig zu besitzen, sondern gleichzeitig auch für authentische Ausgaben zu sorgen. Die gesammelten Texte der griechischen Klassiker sollten wieder in die ursprüngliche Fassung gebracht und von Fehlern befreit werden, die in den vorangegangenen Zeiten durch nachlässiges Abschreiben und Tradieren der Texte entstanden waren. Die in Alexandria betriebene Textkritik, angefangen mit dem ersten Leiter der Bibliothek nach Demetrios, Zenodotos, und fortgeführt von seinen Nachfolgern, wurde für die gesamte antike Philologie massgebend. Der erste schriftliche Katalog der Bibliotheksgeschichte überhaupt stammt ebenfalls aus Alexandria, und zwar von Kallimachos von Kyrene (305-240 v. Chr.). Es handelt sich zwar noch nicht um einen Bibliothekskatalog im modernen Sinne, denn die auf 120 Rollen geschriebenen sogenannten Pinakes waren nicht für die Benutzer bestimmt und verzeichneten nicht den Gesamtbestand der Bibliothek, sondern konzentrierten sich auf eine Auswahl der griechischen Schriftsteller. Kallimachos sortierte die Titel nach wissenschaftlichen und literarischen Kategorien gemäss aristotelischem Vorbild. Innerhalb dieser Kategorien erschienen die Autoren in alphabetischer Reihenfolge. Jedem Autor wurde eine Kurzbiographie beigegeben. Dann folgten die einzelnen Werke, wahrscheinlich ebenfalls alphabetisch geordnet, mit Titel, Anfangsworten sowie der Gesamtzeilenzahl. Damit handelte es sich bei den Pinakes des Kallimachos um eine Mischung von Katalog und Biobibliographie, die die Grundlage für eine griechische Literaturgeschichte bilden sollten. Sie blieben das Vorbild für die gesamte antike Buchverzeichnung. Auch die Aufbewahrung der Schriftrollen in der Bibliothek dürfte nach demselben sachlichen Schema erfolgt sein, und zwar in sogenannten Armaria (Regalen). Jede Rolle wurde zudem mit einer Etikette mit Verfasser- und Titelangabe versehen, so dass man sie zu ihrer Identifizierung weder herauszunehmen noch zu entrollen brauchte. (Lagerung Buchrollen)
Für diese Arbeiten beschäftigte die Bibliothek eine Reihe von Schreibern, auch Übersetzer für fremdsprachige Werke dürften angestellt gewesen sein. Der Leiter, meist ein angesehener Gelehrter oder Dichter, dessen Amt häufig mit dem des Erziehers des königlichen Prinzen verbunden war, widmete sich kaum solchen Routineaufgaben, sondern war in erster Linie für die Erwerbung zuständig, auch stand er als Priester dem Musenkult des Museions vor. Die Bibliothek blieb letztlich auch einem sehr begrenzten Benutzerkreis offen. Im Unterschied zu den späteren römischen Bibliotheken war sie nicht öffentlich, sondern ausschliesslich für die Mitglieder des Museions und der Königsfamilie bestimmt. Einem weiteren Benutzer- bzw. Gelehrtenkreis zugänglich war hingegen die von Ptolemaios II. Philadelphos gegründete Bibliothek im Serapeion, die in einem anderen Stadtteil lag und in der Mitte des 3. Jahrhunderts v. Chr. 42'800 Rollen besessen haben soll, bei denen es sich wahrscheinlich um Kopien von Werken aus der "Grossen" Bibliothek handelte.
Über das Ende der Bibliothek von Alexandria existieren mehrere Versionen: Lange Zeit ging man aufgrund spätrömischer Zeugnisse davon aus, dass sie während der alexandrinischen Kriege durch Julius Caesar 47 v. Chr. abgebrannt worden sei, als dieser die im Hafen liegenden ptolemäischen Schiffe in Brand setzte. Eine andere Version besagt, dass die Bibliothek 640 n. Chr. bei der Eroberung von Alexandria durch die Araber zerstört wurde, in der Absicht, jegliche Konkurrenz zum islamischen Glaubensbekenntnis auszuschalten.
Beide Versionen werden heute nur noch vereinzelt vertreten und im allgemeinen als wenig wahrscheinlich erachtet. Die erste wird dadurch widerlegt, dass sich die Bibliothek nicht in der Nähe des Hafens befand und dort wohl nur etwa 40'000 Rollen dem Feuer zum Opfer fielen, die für den Export bestimmt waren und in einem Hafengebäude lagerten. Zudem dauerte die Blüte und die wissenschaftliche Bedeutung Alexandrias auch unter den Römern an, was ohne Bibliothek nicht denkbar gewesen wäre.
Die Version von der Zerstörung durch die Araber hatte ihre Wurzel im wesentlichen in der mittelalterlichen Kreuzzugspropaganda, in deren Zeit sie entstanden ist. Tatsächlich dürfte bei der Ankunft der Araber in Ägypten die Bibliothek gar nicht mehr existiert haben, sondern bereits 272 n. Chr. ein Raub der Flammen geworden sein, als bei Kämpfen zwischen dem Kaiser Aurelian und Zenobia, der Herrscherin von Palmyra (heute Syrien), das Palastviertel in Alexandria und damit zwangsläufig auch die Bibliothek zerstört wurde. Das Ende der grossen Bibliothek von Alexandria ist demnach ins letzte Drittel des 3. Jahrhunderts n. Chr. zu datieren, während die kleine Bibliothek des Serapeion noch 120 Jahre weiterexistierte und am Ende des 4. Jahrhunderts unterging.
Die Bedeutung der verschwundenen Bibliothek von Alexandria ist vielfältig. Als Zentrum der Wissenschaft in hellenistischer und noch in römischer Zeit hat sie das Geistesleben der Antike wesentlich beeinflusst. Dabei übte sie auch eine kultur- bzw. machtpolitische Funktion aus, indem sie der politischen Stellung der ptolemäischen Könige als Nachfolger von Alexander d. Gr. in Ägypten Geltung verschaffte. Für die Bibliotheksgeschichte ist sie als erste bedeutende staatliche bzw. königliche Bibliothek von zentraler Bedeutung, die zudem durch ihre Sammeltätigkeit bereits Aufgaben einer modernen Nationalbibliothek wahrnahm. In ihr entstanden im weiteren die ersten schriftlichen Bibliothekskataloge und die ersten Biobibliographien, die für die gesamte Antike wegweisend waren. Schliesslich spielte sie für die Wissenschaftsgeschichte durch die Erarbeitung und Pflege vergleichender Textkritik eine bestimmende Rolle.
Kleine Literaturauswahl zum Thema Bibliothek von Alexandria:
· Horst Blanck: Das Buch in der Antike. München 1992 (Beck's archäologische Reihe). Kurz, auf dem neuesten Stand der Forschung, sehr empfehlenswert.
· Rudolf Blum: Kallimachos und die Literaturverzeichnung bei den Griechen. Untersuchung zur Geschichte der Bibliographie, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 18, 1977, Sp. 1-330. Ausführliche Diskussion der Quellen, manchmal etwas ermüdend, grundlegend zu Kallimachos und den alexandrinischen Bibliothekskatalogen.
· Luciano Canfora: Die verschwundene Bibliothek, Berlin 1992. Eigenwillig, gut lesbar; der erste Teil erzählerisch-fiktiv, im zweiten Teil kritische Quellenanalyse; mangelhafter Anmerkungsapparat.
· Luciano Canfora: La Bibliothèque d'Alexandrie et l'histoire des textes, Liège 1992. Gute, kurze Einführung.
· Andrew Erskin: Culture and power in ptolemaic Egypt: The Museum and Library of Alexandria, in: Greece & Rome 42, 1995, No.1, S. 38-48. Beurteilung der alexandrinischen Bibliothek als Teil der Kultur- und Machtpolitik der ersten ptolemäischen Könige.
· Edward A. Parsons: The alexandrian library. Glory of the hellenic world, Amsterdam 1952. Klassiker, ausführlich, breite Quellenpräsentation.
· Hans H. Wellisch: Alexandrian Library, in: Encyclopedia of library history. London/New York 1994, S. 19-21. Wiederspiegelt aktuellen Forschungsstand, gute, knappe Einführung, mangelhafte Literaturangaben.
Seit einigen Jahren bestehen übrigens Projekte zur Wiedererrichtung einer neuen alexandrinischen Bibliothek im Sinne eines Geisteszentrums für die arabische Welt. Es handelt sich um ein Grossprojekt im Wert von Dutzenden von Millionen Dollars, das vom Ausland mitfinanziert werden soll. - (Angesichts der kritischen Lage der Literaturversorgung an ägyptischen Universitäten, wo sich oft 50'000-100'000 Studierende in einen ungenügenden Buchbestand ohne ausländische Literatur teilen müssen, ein problematischer Weg.)
Die Architektur der antiken Bibliotheken
Ich setze dieses übergreifende Kapitel an die Nahtstelle zwischen die Beschreibung der griechischen und der römischen Bibliotheken, da man dieses Kapitel kaum nach den in dieser Stunde besprochenen zwei Epochen teilen kann.
Hellenismus
Von der berühmtesten Bibliothek des Altertums, derjenigen von Alexandria, haben wir keinerlei archäologische oder schriftliche Zeugnisse. Wir können bestenfalls annehmen, dass sie vor ihrer Zerstörung in einem ähnlichen Monumentalbau untergebracht war wie diejenige von Pergamon, deren Bau wir dank einer Ausgrabung ziemlich genau kennen. Seine gesamte Länge betrug rund 40m. Der Bibliothek vorgelagert war eine Säulenhalle, eine Stoa, zum Wandeln und Diskutieren für die Gelehrten. Die Bibliothek befand sich innerhalb eines Komplexes (eines Tempels oder Heiligtums) für die Göttin Athene und bildete einen Teil eines kulturellen Zentrums.
Das Innere bestand aus vier Räumen, von denen drei mit grosser Wahrscheinlichkeit zur Aufbewahrung der Buchrollen dienten, während der vierte und grösste wohl der eigentliche Lesesaal war. Darin stand auch eine Statue der Göttin Athene. Die Buchrollen befanden sich in Holzschränken entlang den glatten Wänden - allerdings etwa 30cm vorgerückt, wohl um sie vor Feuchtigkeit zu schützen. Nach verschiedenen Schätzungen glaubt man, dass der Bau zwischen 160'000 und 195'000 Rollen aufnehmen konnte, womit man nahe bei der Zahl von 200'000 wäre, die uns Plutarch bezeugt. (Milkau 2; Fuhlrott12; Thompson 63)
Nach anderen Theorien wäre der grosse Raum von Büchern frei gewesen und hätte der Akademie als Sitzungssaal gedient. (Handbuch der Bibliothekswissenschaft, Bd. 3,1, S. 87)
Rom
Die an und für sich gute deutsche Standarddarstellung zur Geschichte des Bibliotheksbaus von Rolf Fuhlrott gibt leider ein sehr unzulängliches Bild vom Forschungsstand über die Architektur der römischen Bibliotheken. Im gleichen Jahr (1981) ist unabhängig davon eine Publikation (von Volker Michael Strocka) erschienen, die sich ausschliesslich mit antiken Bibliotheken befasst und ein wesentlich vollständigeres Bild ergibt.
Von Vitruv ist uns aus der Zeit von 30 v. Chr. zwar eine längere Passage über die Lage einer Bibliothek erhalten geblieben, doch bezogen sich diese Ausführungen wohl auf Privatbibliotheken. Ich zitiere:
"Schlafzimmer und Bibliotheken müssen gegen Osten gerichtet sein, denn ihre Benutzung erfordert die Morgensonne, und ferner modern dann in den Bibliotheken die Bücher nicht. In Räumen nämlich, die nach Süden und Westen liegen, werden die Bücher vom Bücherwurm und Feuchtigkeit beschädigt, weil die von dort ankommenden feuchten Winde Bücherwürmer hervorbringen und ihre Fortpflanzung begünstigen und dadurch, dass sie ihren feuchten Hauch (in die Bücher) eindringen lassen, durch Schimmel die Bücher verderben." (Vitruv, Zehn Bücher über Architektur 4. Kapitel, 1. Abschnitt)
Das beste Bild einer Bibliothek aus dem römischen Reich können wir aufgrund der Ausgrabungen der Celsus-Bibliothek von Ephesus aus der Zeit um 107 n. Chr. erhalten. Dank den erhaltenen Bautrümmern ist sogar die Rekonstruktion der Fassade möglich. (Strocka 324/325) Der Grundriss des Gebäudes war annähernd quadratisch. Der Hauptsaal besass eine Grundfläche von 180 m2. Der Grundriss zeigte im Zentrum der Rückwand, gegenüber dem Eingang, eine grosse Wandnische für die Statue der Schutzgottheit.
Links und rechts davon sowie an den beiden Seitenwänden befanden sich weitere Wandnischen zur Aufnahme von Buchrollen. Jede war 2,80m hoch, 1m breit und 50cm tief. Allerdings ist dabei zu beachten, dass sich jeweils drei solcher Nischen übereinander befanden, weshalb zwei seitliche Galerien nötig waren. Die darin eingebauten Gestelle waren mit grosser Wahrscheinlichkeit aus Holz. Im Normalfall ist davon nichts erhalten; nur unter den besonderen Umständen von Herculaneum kann man am Beispiel einer kleinen Privatbibliothek ersehen, dass die Buchrollen auf offenen Regalen aus Edelhölzern gelagert wurden.
Dem Hauptsaal vorgelagert war wiederum eine Säulenhalle und davor lag eine Treppe, welche die gesamte Gebäudebreite einnahm.
Das Gebäude war, wie Vitruv es forderte, nach Osten ausgerichtet.
Dieser Bau gleicht stark demjenigen, den man 1901 in Timgad (antik Thamugadi, heute in Algerien) ausgegraben hat. Dieser stammt aus dem Ende des 3. Jh. n. Chr. Angesichts der grossen Zeitspanne dazwischen darf man annehmen, dass es sich damit beim beschriebenen Typ um eine allgemein verbreitete Form in römischer Zeit gehandelt hat. (Milkau, S. 3; Thompson, S. 64; Fuhlrott, Innenausstattung, S. 99)
Die Bibliotheca Ulpia auf dem Trajansformum bildete eine typische griechisch-lateinische Doppelbibliothek (Strocka 310):
"Der Grundriss zeigt, dass die beiden 27x17m messenden Säle weit voneinander getrennt sind und den kleinen Hof, in dem die noch heute aufrechte Trajanssäule steht, flankieren. In den beiden Sälen, die spiegelbildlich angelegt sind, laufen Podien an drei Wänden herum, die in der Achse von einer Statuennische unterbrochen werden. Wieder sind die Podien durch breite, auf die einzelnen Schränke zuführende Treppen zugänglich. Die Schranknischen sind mit 2 Metern sehr breit und haben eine Tiefe von 65cm, ihre Höhe ist nicht erhalten. (...) Die auf dem Podium zwischen den Schränken stehenden Säulen beweisen ein oberes Geschoss mit einer wohl umlaufenden Galerie, also einer zweiten Reihe von Schranknischen, damit einer Verdoppelung der jeweils 18 Schränke in einem Stockwerk." (Strocka 310f)
Einen rechteckigen Grundriss weist auch die Doppelbibliothek in den Caracalla-Thermen in Rom (Strocka 316) auf, von denen die eine ausgegraben wurde. Vermutlich wurde sie erst unter Alexander Severus (222-235) errichtet. "Der 36x21 Meter messende Saal besitzt ein umlaufendes, durch Treppen zwischen den Säulenbasen zugängliches Podium und im unteren Geschoss 16 Schränke." (Strocka 316)
Eindrücklich ist die Hadriansbibliothek in Athen - nicht zuletzt dank ihrer Einbettung in eine wissenschaftliche Gesamtanlage, die vermutich 131/132 gegründet worden ist. (Strocka 319/320)
"Ein riesiges Peristyl von 100 Säulen (...) umschliesst einen grossen Garten mit langgestrecktem künstlichem See. Hinter den Säulenhallen der Längsseite befinden sich je drei grosse Exedren, die dem Studienbetrieb dienten. Dass es sich zweifelsfrei um die Bibliothek des Hadrian und zugleich um die von ihm in Athen gegründete Universität handelt, beweisen die Räume auf der Ostseite des Komplexes: In der Mitte und deutlich hervorgehoben befindet sich der Bibliothekssaal. Zu seinen beiden Seiten symmetrisch zwei weitere grosse Exedren und links und rechts aussen je ein Hörsaal mit ansteigenden Sitzreihen. Vom Bibliothekssaal sind heute noch zwei der mit grosser Wahrscheinlichkeit zu ergänzenden drei Stockwerke erhalten." Über einem umlaufenden Podium befanden sich die Schranknischen. "Insgesamt muss es in den 3 Stockwerken 66 Wandschränke gegeben haben, die gut 20'000 Rollen hätten aufnehmen können." (Strocka 318)
Und schliesslich nochmals ein Beispiel für einen halbrunden Grundriss:
Man vermutete schon lange, dass die vielfrequentierten Trajansthermen in Rom (eröffnet 109) auch eine Bibliothek enthielten. Sie stand wohl in zwei halbrunden überkuppelten Exedren (Strocka 313; keine Fenster!!)
Zusammenfassend kann man mit Milkau (S. 3) über die antiken Bibliotheken folgendes feststellen:
Sie "...befanden sich meist mitten in der Stadt. Häufig ist die Verbindung mit einem Tempel, fast nie fehlt die Säulenhalle, die in Ergänzung des repräsentativ ausgestatteten Hauptsaals auch als Lesehalle dient, ähnlich wie später der Kreuzgang des mittelalterlichen Klosters. Der grosse Bibliothekssaal enthielt nur verhältnismässig wenig Bücherschränke, die in Wandnischen eingebaut waren. Die Masse der Bücher [bzw. Rollen!] war in anliegenden Räumen magaziniert. (...) Der Inhalt der geschlossenen Rolle war auf einem heraushängenden Pergamentstreifen, Sillybos, Index oder Titulus genannt, angezeigt. Die Rolle selbst scheint keine Ordnungsnummer gehabt zu haben, wohl aber waren die Gestelle fortlaufend numeriert oder es waren die in den Gestellen enthaltenen Büchergruppen in verkürzter oder auch nur symbolischer Form auf Tafeln (Pinakes) zum Zweck rascher Orientierung in den Bücherräumen verzeichnet. Aber auch so blieb dem Gedächtnis noch viel überlassen.
Die kostbare, ja prunkvolle Ausstattung der Bibliotheken ist vielfach literarisch bezeugt. Der Boden war nicht selten mit grünlichen Marmorplatten belegt, die Decke war vergoldet. Schon die Pergamenische Bibliothek trug reichen Statuenschmuck. Eine Statue des Apollo oder, nach Juvenal, häufiger der Minerva stand in überlebensgrosser Form in der Nische der dem Eingang gegenüberliegenden Wand. Neben der schützenden Gottheit waren die Dichter und Schriftsteller durch ihre Portraitstatuen oder (...) durch Medaillons repräsentiert." Soweit also Fritz Milkau.
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