Blockierte Entwicklung
Über amerikanische Motive für einen weiteren Golfkrieg
Von Herfried Münkler
In der offiziellen Version der USA sind es die Massenvernichtungswaffen im Besitz eines unberechenbaren Diktators, die zum neuerlichen Aufbau militärischer Drohkulissen gegen das Land an Euphrat und Tigris veranlasst haben. Ultimativ verlangt Bush die Entwaffnung Iraks: entweder in Gestalt einer von UN-Kontrolleuren überwachten Selbstentwaffnung oder als Zerstörung des irakischen Waffenpotenzials durch einen US-Militärschlag. Immer wieder sind an dieser offiziellen Version Zweifel laut geworden. Wäre sie tatsächlich handlungsleitend, müssten die USA gegen viele diktatorische Regime mit Entwaffnungsoperationen vorgehen, nicht zuletzt gegen den im jüngsten Afghanistankrieg engsten Verbündeten Pakistan.
Saddam Husseins Verfügung über Massenvernichtungswaffen scheint eher ein nachgeschobenes Argument als der wirkliche Grund für die US-Kriegsdrohungen zu sein, zumal ein erheblicher Teil der irakischen Waffen aus jener Zeit stammt, als westliche Staaten Irak aufrüsteten, um ihm im Krieg mit Iran die nötige Durchhaltefähigkeit zu verschaffen. Dass Saddam Hussein ein vor keinem Verbrechen zurückschreckender Diktator ist, war damals schon bekannt. Doch selbst der Einsatz von Giftgas, an der Front gegen Iran sowie gegen aufständische Kurden, hat nicht zum sofortigen Abbruch der westlichen Militärhilfe geführt. Es sind derartige Doppelstandards der US-Außenpolitik, welche die offizielle US-Begründung als pure Heuchelei erscheinen lassen. Zumindest spekuliert diese Begründung auf ein sehr kurzes Gedächtnis der Weltöffentlichkeit.
Eine alternative Begründung der amerikanischen Drohszenarien, die jedoch mangels eindeutiger Beweise nur im Hintergrund gestreut wird, ist der Vorwurf, Irak unterstütze den Terror. Die Rede ist von Schurkenstaaten, die durch Unterstützung internationaler Terroristengruppen versuchen, sich einen größeren Einfluss zu verschaffen, als er der politischen Bedeutung und wirtschaftlichen Potenz des Landes entsprechen würde. Zweifellos hat Irak, ähnlich wie Syrien und Libyen, über mehr als zwei Jahrzehnte einer solchen Politik gehuldigt. Dies gehört zur Räson eines Regimes, das eine Revisions- oder Expansionspolitik unterhalb des klassischen Krieges zu betreiben versucht. Im Übrigen hat Irak diese Kriegsschwelle zweimal überschritten und beide Male eine bittere Niederlage einstecken müssen.
Varianten des Terrors
Freilich hatte die irakische Terrorunterstützung nichts zu tun mit jenen netzwerkförmigen Terrororganisationen, die seit Mitte der 90er Jahre Gewaltaktionen gegen die USA ausführen, mit dem vorläufigen Höhepunkt des 11. September. Irak unterstützte Terrororganisationen wie die Abu Nidals, die sich operativ an der Kette des Geheimdienstes führen ließen. Im Stile von Auftragskillern oder Terrorsöldnern beglichen sie die in Anspruch genommene Staatsunterstützung mit Exekutionen von Regimegegnern und Anschlägen, die im Interesse des Regimes lagen. Terroristengruppen, die an der logistischen Leine staatlicher Geheimdienste geführt werden, sind relativ berechenbar. Das ist nicht der Fall bei Terrororganisationen, die sich, wie Al Qaeda, aus privaten Spenden alimentieren. Die Unberechenbarkeit von Al Qaeda, ihre logistische Flexibilität, schließlich die offenbar geringen Chancen, sie mit Informanten zu infiltrieren, haben mit deren Unabhängigkeit gegenüber staatlichen Geheimdiensten zu tun. Auch wenn sie gelegentlich einen anderen Eindruck erwecken - die klügeren Köpfe der US-Administration wissen, dass mit Blick auf Al Qaeda viel eher Saudi-Arabien als Irak das Problem darstellt.
Bleibt also doch nur das Erdöl als einzig hieb- und stichfeste Erklärung? Doch auch diese antiimperialistisch-ideologiekritische Erklärung erweist sich bei genauerem Hinsehen als unbefriedigend: Ginge es nämlich bloß darum, den Weltmarktpreis für Erdöl zu drücken, wäre dies am ehesten mit einer Beendigung des Irak-Embargos zu erreichen. Ohnehin waren es zuletzt vor allem die amerikanischen Kriegsdrohungen, die den Ölpreis in die Höhe getrieben haben. Die US-Konzerne haben noch immer Mittel und Wege gefunden, auch mit dubiosen Partnern gute Geschäfte zu machen. Gerade Leuten wie Bush und Cheney sind diese Mechanismen nur zu gut vertraut. Um es zu pointieren: Sie betreiben Kriegspolitik, nicht weil, sondern obwohl sie aus dem Ölgeschäft kommen.
Wenn aber die politische Kontrolle über die irakischen Erdölvorkommen nicht der ausschlaggebende Grund für das US-Interesse am Sturz Saddam Husseins ist und auch die offizielle wie die offiziöse Begründung wenig überzeugen - was kann die US-Administration dann veranlasst haben, das nicht unerhebliche Risiko eines weiteren Waffengangs in Irak auf sich zu nehmen? Sicherlich könnten irrationale Faktoren dabei eine Rolle spielen: etwa dass Sohn Bush das unvollendete Projekt des Vaters nunmehr vollenden will. Oder dass der Krieg gegen den Terror fernsehfähige Erfolge braucht und die sich eher in Irak als in Afghanistan beschaffen lassen.
Immerhin - es könnte auch sein, dass die USA die notorische Entwicklungsblockade der muslimischen Welt, die sicherlich eine der wichtigsten Ursachen für die politische Instabilität der gesamten Region und deren Anfälligkeit für fundamentalistische Ideologien ist, in Irak aufzulösen versuchen, und zwar durch die Installierung eines Regimes, das unter Nutzung der natürlichen Reichtümer des Landes ökonomische Prosperität und politische Stabilität miteinander verbindet, seinen Bürgern dadurch ein geregeltes Auskommen bietet und obendrein den Angehörigen der unteren Ober- bzw. oberen Mittelschicht Zugangsmöglichkeiten zu den politischen Entscheidungszentren einräumt.
Das Fehlen von Letzterem dürfte eine der Hauptursachen dafür sein, dass vor allem jüngere Männer aus diesen Kreisen in fundamentalistische Vorstellungswelten flüchten und ihnen die westliche Lebensweise zur Ursache allen Unheils wird. Nur wenn die Reserveeliten dieser Länder politische Gestaltungschancen erhalten, diese sich mit langfristigen Entwicklungsperspektiven verbinden und dabei belastbare Individual- und Gruppenidentitäten entstehen, wird man davon ausgehen können, dass sie sich nicht mehr ins Feld religiöser Sinnstiftung flüchten. Aber für eine solche Fundamentalrevision der Entwicklungsperspektiven des muslimisch-arabischen Raumes bedürfte es eines erfolgreichen Beispiels, das eine Sogwirkung auf die umliegenden Staaten ausüben würde. Eine solche Rolle könnte Irak nach einem militärisch erzwungenen Regimewechsel von den USA zugedacht sein.
Entwicklungschancen Iraks
Warum aber gerade Irak? Es dürfte kaum einen Staat in der Region geben, der dazu besser geeignet wäre: Zunächst weil Irak durch seine Lage zwischen der Türkei und Saudi-Arabien, Iran und Syrien eine zentrale Position in der Region einnimmt. Obendrein könnte eine Stabilisierung Iraks auch ein Beitrag zur Lösung der Kurdenfrage sein, ein Unruheherd mit Auswirkungen auf die Türkei und Syrien. Nicht zuletzt bietet sich Irak für ein solches Entwicklungsprojekt aber auch an, weil in ihm eine säkulare Politiktradition vorhanden ist, an die ein westlich orientiertes Regime anknüpfen könnte. Und dieses könnte das relativ gute Bildungsniveau der Bevölkerung sowie deren nach zwanzig Jahren Krieg und Entbehrung zweifellos vorhandenen Aufbauwillen nutzen. Im Übrigen ist die Stellung der Frau in der irakischen Gesellschaft im Vergleich mit den anderen arabischen Gesellschaften am stärksten verwestlicht.
Hat die US-Irak-Politik einen rationalen Hintergrund und eine strategische Orientierung, dann dürfte sie wohl in solchen oder ähnlichen Plänen zu suchen sein, die sich im Grundriss an den Aufbauplänen für Westeuropa nach 1945 orientieren. Damit ist freilich nichts darüber gesagt, ob solche Erwartungen realistisch, die damit verbundenen Unterstellungen plausibel und die für deren Durchsetzung angenommenen Kosten - darunter die Toten eines Krieges zum Sturz des gegenwärtigen Regimes - vertretbar sind. Auf jeder dieser Ebenen kann mit gutem Grund Widerspruch angemeldet werden, und nicht zuletzt dürften dem deutschen Festhalten am Nein zur amerikanischen Irak-Politik solche Einwände zu Grunde liegen. Freilich muss auch klar sein, dass, wenn dieser Widerspruch begründet und angemessen ist, das Problem der blockierten Entwicklung des islamisch-arabischen Raumes und der davon ausgehenden Gefahren bestehen bleibt. Die Verwerfung einer Lösung ist nicht selbst eine Lösung für das in Rede stehende Problem.
Wie auch immer - die deutsche Debatte über die Irak-Politik sollte möglichst rasch auf ein anderes Niveau gehoben werden als das der ewigen Anschuldigungen des Antiamerikanismus oder der Parole "Kein Blut für Öl". Diese Debatte darf auch keine über Wahltaktiken und Umfallen nach der Wahl sein. Zur Diskussion steht eine gewaltige Aufgabe mit unübersehbaren Risiken, ganz gleich, wie man sich entscheidet. Zum politischen Erwachsenwerden, dem wir uns seit dem Fall der Mauer nicht mehr entziehen können, gehört die sachliche wie sachkundige Führung solcher Debatten. In ihnen formt und schult sich der politische Wille. Und den braucht man, wenn man in den nächsten Jahren nicht die Rolle eines kritiklosen Nachbeters oder besserwisserischen Anschwärzers der US-Politik spielen, sondern mit eigenen Alternativen aufwarten will.
Der Autor ist Professor für Theorie der Politik an der Humboldt-Universität Berlin. Zuletzt ist von ihm erschienen "Die neuen Kriege" (Rowohlt).
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