"Der Islam ist krank"

Der tunesisch-französische Schriftsteller Abdelwahab Meddeb über die Ursprünge des Fundamentalismus, den Schleier seiner Mutter und den tieferen Sinn des Satzes: Gott ist tot.

Die Bücherwand von Abdelwahab Meddeb widerspricht der These vom drohenden Kampf der Kulturen. Der Islam soll dem Westen den Krieg erklärt haben? Aber in dieser Pariser Altbauwohnung stehen sie doch einträchtig nebeneinander, die Klassiker aus Orient und Okzident: Voltaire neben Averroes, Nietzsches Zarathustra neben den Lehren der Sufisten. Doch seit dem 11. September hat der Literaturprofessor und Romancier seine bevorzugte Rolle als Vermittler islamischer Kunst und Kultur im Westen ruhen lassen. Seine Wut richtet der 56-Jährige seitdem gegen den Islam selbst. Seine Abrechnung heißt denn auch deutlich genug Die Krankheit des Islam (Wunderhorn). Radikal wie kein moslemischer Intellektueller vor ihm kritisiert der Sohn aus einer tunesischen Theologenfamilie den Aufstieg des Fundamentalismus, der im Fanatismus halbgebildeter Massen gipfelt. "Der Islam steckt in der katastrophalsten Krise seiner Geschichte", sagt Meddeb. Doch der Wanderer zwischen den Welten kennt die Therapie: "Die hat uns der Westen gezeigt: Die Therapie heißt Aufklärung". Das Interview führten Brigitte Kols und Barbara Mauersberg.

Monsieur Meddeb, gerade ist der Ramadan zu Ende gegangen. Haben Sie gefastet?

Nein, überhaupt nicht.

Gehen Sie in die Moschee?

Nein, nicht mehr. Aber als Kind ging ich oft. Ich bin in Tunis geboren - da haben wir eine wunderbare Moschee aus dem 9. Jahrhundert. Ein Schmuckstück, eine der schönsten Moscheen des Islam. Mein Vater war Doktor der Theologie und unterrichtete dort. Vor allem während des Ramadan gingen wir in die Moschee. Am liebsten mochte ich die Gebete während der Nacht. In jeder Nacht im Ramadan liest man eine Stunde im Koran bis zur letzten Nacht, die der Islam als besonders heilig ehrt: In dieser Nacht ist der Koran vom Himmel herab auf den Propheten gekommen. Ich denke sehr gern an diese Nächte. Sie waren wertvoll und zugleich anstrengend, weil man alle Gesten des Gebetes machen musste. Oft versank ich in Träumen, während ich dem Imam lauschte. Er war mein Onkel.

Wann sind Sie aus der religiösen Welt Ihrer Kindheit ausgebrochen?

Ich war 16. Anfangs hatte ich noch Schuldgefühle, danach wurde mein Wunsch stärker, mich zu befreien. Damals dachten wir ungefähr so: Religion ist eine Sache für alte Leute. Wir Jungen beteten nur selten. Aber Sie müssen wissen, das war in den 60er Jahren. Damals hatte der rückwärtsgewandte Islam noch nicht so großen Einfluss wie heute. Es war auch die Epoche von Bourguiba, der ein modernistischer Präsident war.

So eine Art Atatürk für Tunesien.

Genau. Auch Bourguiba war ein laizistischer Staatsmann. Ich erinnere mich noch an eine spektakuläre Rede: Während des Ramadan trat er im Fernsehen auf, nahm ein Glas Wasser und trank. Dieser Bruch der Fastenregel war eine sehr theatralische Geste. Danach sagte Bourguiba: "Das ist der wahre Djihad. Nicht der heilige Krieg gegen die Ungläubigen, sondern der Kampf gegen die Unterentwicklung - das ist der wahre Djihad. Wer fastet, verliert Kraft und kann nicht vernünftig arbeiten. Der ganze Staat bleibt stehen, und dies ist das wahre Übel." Er wollte provozieren und hatte doch Recht, indem er die beiden Prinzipien des Djihad ansprach. In der Überlieferung ist der gewöhnliche Krieg der kleine Djihad, während der große Djihad nichts anderes bedeutet als die Arbeit an sich selbst, der innere Kampf um Vervollkommnung.

Sie hat der große Djihad vom Islam weggeführt?

In der Schule studierten wir Sartre, Simone de Beauvoir, Heidegger, Nietzsche. Wir wollten ebenso klug und gebildet werden wie die Autoren, die wir lasen. Natürlich haben wir nach Vervollkommnung gestrebt, aber ohne Bezug zum Islam.

Welche Rolle spielte Ihre Mutter in der Familie?

Sie hatte die traditionelle Rolle einer Mutter dort. Sie entstammte einer der größten Familien Tunesiens, war Aristokratin und wuchs in einem wunderbaren Palais auf. Sie war eine Frau von großer Kultur. Wenn sie sprach, schuf sie eine eigene Sprache - nicht das Vulgärarabisch des Alltags. Man kann schreiben und dennoch in der mündlichen Tradition bleiben, wenn man seinen eigenen Stil findet. Man gibt der Sprache eine eigene Musik, die mit der Atmung übereinstimmt. Diese Einsicht verdanke ich meiner Mutter. Sie war sehr sprachmächtig.

War sie verschleiert ?

Ja. Und auch meine Schwestern. Bis zu dem historischen Moment, als Bourguiba die Frauen Tunesiens entschleierte. Genau erinnere ich mich noch an meine ältere Schwester: Sie war eines von drei Mädchen, die das Gymnasium besuchen durften. Und wir haben uns in der Familie gestritten, weil alle ihre Cousinen schon unverschleiert waren, während mein Vater zu denen gehörte, die am längsten Widerstand leisteten.

Warum wollte Ihre Schwester den Schleier ablegen?

Sie hat sich dafür entschieden, weil sie den Unterschied zu den anderen Mädchen nicht mehr ertragen konnte. Sie wollte also normal werden, denn zu dieser Zeit gab es in Tunesien nur noch wenige Mädchen ihres Alters, die sich verschleierten. Und zur Belohnung für das Abitur hat sie von meinem Vater die Entschleierung bekommen.

Heute ist der Schleier in weite Teile der islamischen Welt zurückgekehrt.

Bei einem Spaziergang durch Paris begegnete mir der Schleier eines Tages wieder. Das war für mich damals ein Schock. Selbst wenn nun viele muslimische Frauen den Schleier ganz bewusst tragen, um eine eigene Identität zu betonen - für mich bleibt der Schleier ein Attribut von Sklavinnen, die nichts von ihrer Versklavung wissen. Er ist das Zeichen für die Demütigung der Frauen, für ihre Unterdrückung, für die weibliche Minderwertigkeit. Da gibt es keine Zweifel.

Gibt es dafür eine religiöse Rechtfertigung?

Ja, es gibt Koransuren, die verlangen, dass die Frauen keinem Fremden ihre Schönheit zeigen sollen. Daraus abgeleitet wurden die sehr klaren Vorschriften über die Trennung der Geschlechter und das Wegschließen der Frauen. Die Sure, die den Schleier für die Frauen vorschreibt, ist hochinteressant. Die Botschaft richtet sich an Männer und Frauen, Gläubige und Ungläubige und wiederholt dann mehrere Forderungen: Seid schamhaft, verhüllt euer Geschlecht, habt nur legale sexuelle Beziehungen, und dann, ganz am Ende, steht eine Vorschrift nur für die Frauen: Nämlich das Gebot, sich zu verschleiern. Mit dem Schleier also kommt die Ungleichbehandlung. Für die Epoche, das 7. Jahrhundert, war das fortschrittlich - man sprach die Gläubigen beiderlei Geschlechts an. Die Prophezeiung war also nicht allein für die Männer. Mit dem Koran sind die Frauen erstmals Subjekte des Rechts geworden. Davor waren sie rechtlos. Aber wie bei vielen Dingen, in denen der Koran weit voraus war, hat sich auch dies ins Rückschrittliche verkehrt.

Niemand käme heute auf die Idee, den Islam als frauenfreundliche oder sinnliche Religion zu preisen.

Aber das war einmal ganz anders. Wenn ich daran denke, wie Europäer seit dem 17. Jahrhundert den Orient entdeckten als Reich der Freiheit, Sinnlichkeit und einer Liebe ohne Schuldgefühle. Diese Reisenden fanden im Islam eine Freude an der Lust, eine Vision, die sehr im Gegensatz stand zu der eigenen christlichen Erziehung. Europa war prüde, der Islam frei. Und heute ist es das genaue Gegenteil.

Der französische Skandal-Romancier Michel Houellebecq hat gerade vor Gericht die Erlaubnis erstritten, den Islam als "dämlichste aller Religionen" zu bezeichnen.

Ich hätte nicht gezögert, vor Gericht zu Gunsten von Michel Houellebecq zu sprechen. Ich hätte als Schriftsteller den Schriftsteller unterstützt. Und ich gehe noch weiter: Das Heilige ist bei uns in Europa nicht mehr das Religiöse. Es hat sich in Richtung der symbolischen Formen weiterentwickelt. Die Heiligkeit verorte ich in der Poesie, in der Literatur. Was ist heilig ? Es ist die Tatsache, ein Leben in aller Radikalität aufgrund einer getroffenen Entscheidung zu führen. Sich dem Schreiben und nichts als dem Schreiben zu widmen, gleich was passiert, und dies mit einem Text zu tun, von dem man nicht weiß, ob er anerkannt wird, und sich auf diesem Weg treu zu bleiben, das ist eine harte Prüfung. Deshalb privilegiere ich die Schriftstellerei - ebenso wie die absolute Freiheit des Wortes.

Houellebecq hat aber auch eine inhaltliche Aussage gemacht. Was meinen Sie? Ist der Islam "dämlicher" als andere Religionen?

Der fundamentalistische Islam ist die dümmste Religion der Menschheitsgeschichte. Das unterschreibe ich. Und ich stelle mir dann die Frage: Wie konnte es geschehen, dass eine Religion, die in der Überlieferung intelligent ist und liebenswert, zu einer Religion wurde, die schuldig und verabscheuungswürdig genannt werden muss? Schuldig und verabscheuungswürdig ist eine literarische Umschreibung für dumm. Wenn man ein Glas zu viel getrunken hat, sagt man "dämlich".

Sie sagen in Ihrem Buch: "Der Islam ist krank."

Die Metapher der Krankheit ist sehr präsent in der Literatur. Ich dachte dabei an Voltaire, der in seinem Traktat die Krankheit des Katholizismus diagnostiziert hat: Fanatismus und Intoleranz. Und ich dachte an Thomas Mann, der im Zusammenhang mit seiner Arbeit am Doktor Faustus die deutsche Krankheit festgestellt hatte: den Nazismus. Und so kann ich sagen: Die Krankheit des Islam ist der Fundamentalismus.

Wer ist für Sie ein Fundamentalist?

Ich meine damit nicht nur den terroristischen und gewalttätigen Fundamentalismus. Diese Leute halte ich für eine Minderheit. Sie führen Krieg gegen den Westen, und man kann sie mit ihren eigenen Waffen bekämpfen. Für mich ist der diffuse Fundamentalismus die größere Gefahr. Das sind stille Gemeinschaften, die scheinbar mit niemandem Krieg suchen, aber unter einem autoritären Islam leben. Der ganze Alltag steht unter dem ständigen Appell an die religiöse Praxis.

Ihre Analyse führt Sie weit zurück in die Jahrhunderte: Sie sagen, das islamische Subjekt sei zerfressen vom Ressentiment. Die einstmals überlegene moslemische Zivilisation habe ihre wissenschaftliche Kreativität eingebüßt und den Machtverlust später niemals verkraftet. Sie interpretieren die aktuelle Regression ins Archaische mitsamt den terroristischen Auswüchsen als verzweifelte Versuche der arabischen Welt, diese Kränkung zu verarbeiten.

Ja, dieses Gefühl der Kränkung nehme ich als Ausgangspunkt für meine Genealogie des Fundamentalismus. Ich beziehe mich dabei auf Nietzsche, der in seiner Genealogie der Moral die Araber nennt als ein Volk, das eine aristokratische Moral kennt. Ich habe versucht, den historischen Punkt herauszufinden, an dem sich die aristokratische Moral, die prägend war für den Islam, in Kränkung und Ressentiment verwandelt hat. Der Mensch mit einer aristokratischen Moral ist einer, der ja sagt, der gibt, der eine Welt konstruiert. Dagegen ist der Mensch des Ressentiments ein Mensch, der nein sagt, der sich verweigert, einer, der nimmt, ohne über Mittel zu verfügen, um auch zu geben. Als die islamischen Länder in den Prozess der Demokratisierung eintraten, haben die Menschen ihn als eine Demokratisierung ohne Demokratie kennen gelernt. In diesem sehr diffusen Prozess gab es eine gigantische Masse von Halbgebildeten, von Frustrierten in einer plötzlich sehr komplexen Gesellschaft, die nur äußerlich verwestlicht war. Diese unzufriedenen Halbgebildeten sind der Nährboden für den Fundamentalismus.

Sie haben die Attentäter des 11. September als typische Produkte einer fehlgeschlagenen Verwestlichung beschrieben: Zwar waren sie nicht kreativ genug, um Flugzeuge zu erfinden oder wenigstens, welche zu bauen ...

..aber sie konnten sie bewundernswert steuern und sie als Bomben zweckentfremden. Das ist ein großes Paradox: In vielen islamischen Ländern besteht ein fast schon amerikanischer Konsumismus neben einem traditionellen archaischen Denken weiter. Das beste Beispiel dafür ist Saudi-Arabien. Während sie Bündnisse mit der westlichen Welt schließen, sind sie es, die den Bürgerkrieg geschürt haben, der jetzt der gesamten islamischen Welt droht. Sie sind es, die eine Rückkehr zur Buchstabengläubigkeit lehren und finanzieren. Das Ergebnis ist eine Tabula rasa. Das lässt einen schaudern. Die Welt der Fundamentalisten ist die Welt nach der Atombombe.

Verstehen Sie, warum der Westen und die USA sich derart bedroht fühlen?

Ich glaube, die reale Bedrohung wird sehr übertrieben. Seit dem 11. September denken viele, der Krieg sei erklärt. Aber diese Leute haben weder die Mittel, den Krieg zu führen, noch ihn zu gewinnen. Sie werden ihn verlieren. Sie können Schaden anrichten, furchtbaren Schaden, vielleicht noch schlimmere Attentate begehen. Aber jeder neue Anschlag ist nur ein Zeichen der Schwäche. Die Waffe des Schwachen ist es, die Achillesferse des Starken zu entdecken.

Wenn man das Testament des Terror-Piloten Mohammed Atta liest, findet man einen seltsamen Kult um einen reinen Islam, der viel mit Waschzwängen und einem Sauberkeitswahn zu tun hat.

Das ist furchtbar, das ist einfach zutiefst krank. Das ist ein Fall für die Psychoanalyse.

Sie beschreiben den saudischen Steinzeit-Islam ja tatsächlich als eine Art Geisteskrankheit. Fürchten Sie sich manchmal vor der Rache dieser gewaltbereiten Kreise? Salman Rushdie hat seine offenen Darlegungen zum Leben Mohammeds mit einer Fatwa bezahlt.

Wünschen Sie mir auch eine Fatwa? Nein, bislang bin ich nicht bedroht worden. Aber natürlich gab es sehr heftige Ablehnungen. So wurde mir vorgeworfen, dass meine Analogie zwischen Fundamentalismus Nazismus eine nachträgliche Legitimierung des Nazismus darstellen würde, was eine Dummheit ist. Oft hörte ich den folgenden Vorwurf: "Während Israel die Menschenrechte mit Füßen tritt, schreibst du so ein Buch." Der Titel allein hat auch schon für Reaktionen gesorgt, obwohl mir klar scheint: Wenn ich als Überschrift wähle, Die Krankheit des Islam, heißt dies nicht, dass der Islam eine Krankheit ist, sondern dass er unter einer Krankheit leidet. Denn man kann auf keinen Fall sagen, dass der Islam nicht krank ist. Dies ist der katastrophalste Moment in der Geschichte des Islam.

Warum erwägen Sie nie die radikale Diagnose, dass Religion die eigentliche Krankheit ist? Oder halten Sie es doch heimlich mit Nietzsches Satz: Gott ist tot.

Aber ja. Das denke ich zutiefst. Aber mit dieser Botschaft könnte ich natürlich in der islamischen Welt nichts ausrichten. Das nutzt überhaupt nichts. Die Leute verstehen es nicht. Sie sind zu dumm, und sie würden es wörtlich nehmen, während es bei Nietzsche ein Prinzip ist und kein Slogan. Der Ort, an dem die Fiktion Gottes geboren wird, ist für die Menschheit der fruchtbarste Ort. Das sagt Nietzsche. Und es ist wichtig, die Energie und die Quellen der Religion am Leben zu halten. Aber wie soll man in diesem Raum leben, obwohl man nicht an die Fiktionen glaubt, die diesen Raum bewohnbar machten? Wie dort bleiben, im Wissen - und Nietzsche hat das mit dem Wahnsinn bezahlt -, dass der Raum unbewohnbar ist? Hier beginnt das Projekt Also sprach Zarathustra, und ich habe die Echos auf Nietzsche bei allen islamischen Mystikern gefunden. Sie kommen zwar nicht beim Tod Gottes an, aber sie leben auf dem Weg. Wie soll der moderne Mensch, der nicht an die Fiktion Gottes glaubt, an diesem grauenhaften Ort verharren?

Sie versuchen also weiter, dem Religiösen von innen her beizukommen?

Ja, denn der Mensch ist so schwach, und Gott ist so stark, dass man ihn auf die eine oder andere Weise in sich tragen muss.

Aus: Frankfurter Rundschau - Magazin vom 07.12.2002

Başa dön
Nach oben