Mart 2004 / März 2004

"Von der Gesellschaft abgenabelt"

Ahmet Öncü

Zu 1.) Die Akademisierung, also Asozialisierung der Sozialwissenschaften durch die Verdrängung an den gesellschaftlichen Rand und durch die Aufteilung in sog. "objektive" Spezialbereiche, gehört seit langem zur Spitze der Probleme in diesem Bereich. Die Sozialwissenschaft, welches ja eigentlich den "Menschen" im Mittelpunkt betrachtet, hat ihre Menschlichkeit in noch nicht da gewesener Form verloren. Die Sozialwissenschaft wurde dazu degradiert, eine Beantwortungsproduktion für magische Fragen, welche nicht die Menschen, sondern nur sog. "Wissenschaftler" interessieren, zu sein. Diese Situation, die man zurecht als "Abnabelung von der Gesellschaft" bezeichnen kann, ist fast unumkehrbar geworden.

Die heutige Sozialwissenschaft begnügt sich damit, den neuen Generationen der Sozialwissenschaften immer wieder unveränderte metaphysische Antworten auf die veränderten Weltfragen vorzulegen. Dabei zwingt die historische und gesellschaftliche Realität, in der völlig neue Strukturen und Beziehungen erlebt werden, auch die Sozialwissenschaftler dazu, ihre eigenen Praktiken zu hinterfragen.

Die vorhandene / herrschende Sozialwissenschaft versucht in ihren institutionalisierten engen Spezialisierungsrahmen dem zu widerstehen. Das typische Beispiel ist die Wirtschaft, das der Sozialwissenschaft ein imperialistisches Druck ausübt. Die Wirtschaft vertritt innerhalb der Sozialwissenschaft nicht nur die Machthabenden, sondern spielt bei der Legitimierung von Ideen, die das Ende der Geschichte beschwören, also die neoliberale Globalisierung zur Religion erkoren, eine „wissenschaftliche“ Rolle. Man könnte auch so fragen; kann ein guter Student der Wirtschaftswissenschaften die „Globalisierung“, welche die ganze Welt zur Armut, Hunger und Krieg treibt, überhaupt kritisieren? Leider ist das unmöglich. Wenn er das täte, wäre er kein guter Wirtschaftswissenschaftenstudent. Meiner Ansicht nach liegt das Problem der heutigen Sozialwissenschaften hier: die Sozialwissenschaft kann, anstatt Kritik zu provozieren, außer die vorhandene Situation zu legitimieren bzw. vorgegebene Daten zu erklären, nichts mehr produzieren. Aus diesem Grund wird die Kritik zugunsten der gesellschaftlichen Veränderung außerhalb der Sozialwissenschaft artikuliert.

Zu 2.) Zuerst sollte man sich in Erinnerung rufen, dass die Sozialwissenschaft in der Türkei eine bestimmte Historie und einen gewissen Entwicklungsniveau erreicht hat. Und hier sollte man beginnen. Wenn man die Geschichte der Republik als Basiswert nimmt, dann darf man nicht vergessen, dass die Sozialwissenschaft (in unserem Land) sehr viele Werke hervorgebracht hat. Wir sollen gewährleisten, dass die neuen Generationen dieser Werke lesen, analysieren und diskutieren. Aber die akademische Sozialwissenschaft unserer Zeit wird mehr und mehr die Geisel einer Importverständnisses. Um die wissenschaftliche Entwicklung außerhalb der Türkei verfolgen zu können, müssen wir unsere eigene Meinungsbildungsgeschichte zur Hand nehmen. Aus diesem Grund ist es notwendig, denen die meinen, dass in türkischer Sprache keine wissenschaftlichen Werke verfasst werden können, vorzuhalten, dass Türkisch eine Wissenschaftssprache ist. Daher müssen wir es hinkriegen, dass die türkeistämmigen Sozialwissenschaftler sich gegenseitig für ihre Werke interessieren und durch Programme wie Zeitschriften, Konferenzen, Foren und universitäre Interaktion sich austauschen. Selbstverständlich bedeutet das, dass die Voraussetzungen für Diplom- und Promovierungsarbeiten so strukturiert werden, dass spezifische Wissensproduktion gewährleistet wird. Und das setzt voraus, dass die akademischen Freiheiten sichergestellt und garantiert werden.

Zu 3.) In der Türkei existiert keine Türkeispezifischen Sozialwissenschaften. Dies gilt für die „besten“ unserer Universitäten, die in Englisch unterrichten, im besonderem. Wenn wir den Unterricht und die Forschung in unseren Universitäten betrachten, zeigt sich das in der Form, dass di theoretisch untersuchte und/oder beigebrachte Realität nichts mit der gelebten Realität zu tun hat. Die Theorie müsste unsere Realität widerspiegeln. Anstatt dessen versuchen wir unsere Realität in importierte Theorien reinzuzwingen. Das Problem ist nicht nur, ob die Daten in den Unterricht einbezogen werden oder nicht. Das ist ein Problem der Wissensproduktion. Wie können wir Wissen produzieren und wie benutzen wir dieses Wissen in den Bildungsprozessen, damit es sich entwickelt und vertieft? Ich glaube nicht, dass das ein Problem ist, den Einzelne oder Universitäten alleine lösen können. Meiner Ansicht nach müssen die Universitäten eine Partnerschaft finden.

Zu 4.) Der wichtige Beitrag solcher Veranstaltungen ist, dass die Gemeinde der Sozialwissenschaft sich gegenüber steht. Ihre Kollegen, von denen sie wissen, dass sie irgendwo in irgendeiner Institution irgend etwas machen, sehen sie als reale Menschen vor sich. Auch wenn solche Konferenzen nicht immer ein glückliches Wiedersehen sind, so sind sie sehr wertvolle Möglichkeiten, die anregen darüber nachzudenken, was für einer Gemeinschaft sie angehören und welchen Berufsverständnis sie entwickeln können. Konferenzen ermöglichen, dass diese Kollektive ihre eigene Selbstverständnis entwickelt. Abgesehen davon gibt es Nebeneffekte wie, Wissen zu produzieren, sich für neue Projekte zu motivieren und die junge Generation mit erfahrenen Kollegen zusammen zu bringen. Natürlich sollten auch die schönen Freundschaften, die Abends bei Gesprächen am Tisch entstehen, nicht vergessen werden.

Übersetzung: Murat Çakır