Mart 2004 / März 2004
Diese EU ist nicht die EU, die das türkische Volk kennt
Interview mit Prof. Dr. Özgür Müftüoğlu, Universität Istanbul
von Talat Kaya und Murat Çakır
Was wird die EU dem türkischen Volk bringen?
Wie sieht das türkische Volk die Europäische Union? Das türkische Volk denkt, dass die heutige EU genau wie Deutschland, England, Frankreich der Jahre 1960 und 1970 ist, eine Union, in der die Menscherechte eingehalten und die Arbeitsbedingungen sehr weit vorangeschritten sind. Dann denkt das türkische Volk, dass sie diese Rechte, wenn die Türkei denn nun in die EU beitritt als ganzes erhalten werde.
Das ist die derzeitige Denkweise des türkischen Volkes. Aber von den Veränderungen in der EU, welche durch die Umsetzung der neoliberalen Politik erfolgt ist, haben sie keine Ahnung. Auch die Regierung und der Staat bemühen sich, diese Veränderungen nicht bekannt zu machen. Sie versuchen ein Bild aufzustellen, als ob mit der Mitgliedschaft die gedachten Voraussetzungen der EU auch in der Türkei vorhanden sein werden. Daher bin ich der Auffassung, dass man bei der Überlegung was eine EU-Mitgliedschaft der Türkei bringen würde, die Umwälzungen der Jahre 1960 1990 beachten muss. Wenn wir dies beachten und schauen, welche Richtlinien die EU für das Arbeitsrecht eingeführt hat, dann kann ich sagen, dass die heutige EU nicht die EU ist, die das türkische Volk kennt. Auch im Hinblick auf die neoliberale Politik, glaube ich nicht, dass die Mitgliedschaft dem türkischen Volk etwas bringen würde.
Kann eine EU, die soziale und demokratische Rechte abbaut, mehr und mehr sich militarisiert, in Fragen der Menschen- und Minderheitenrechte in der Türkei, überhaupt als Aufrichtig gesehen werden?
Ich denke nicht. Ich bewerte die gesellschaftliche Demokratie über die Produktionsbeziehungen. Wenn in den Produktionsbeziehungen Demokratie verwirklicht ist, dann kann die Gesellschaft in anderen Bereichen auch die Demokratie verwirklichen. Europa ist eine solche Region, in der insbesondere im 19.Jahrhundert viele Rechte durch den Kampf der Arbeiterklasse errungen wurden und durch diese Rechte dann eine Volksdemokratie entwickelt wurde. Dazu zählt natürlich der 8 Stunden Arbeitstag. Aber wenn wir die EU heute betrachten, dann sehen wir die Richtlinie 93/104. Diese Richtlinie besagt, wieviel Freizeit ein Arbeiter haben darf. Das sind 11 Stunden! Wenn man sich an diese Richtlinie halten würde, müsste ein Arbeiter 6 Stunden arbeiten, 1 Stunde ausruhen um dann wieder 6 Stunden zu arbeiten. Diese Rückwärtsgewandtheit in der EU, zeigt die Rückwärtsgewandtheit in den Produktionsbeziehungen. Es zeigt, dass mit EU-Richtlinien die Arbeitszeit von 8 auf 12 Stunden erhöht werden kann. Dabei gibt es viele Richtlinien, welche die Arbeitszeiten flexiblisieren. Wenn wir das alles als ein Ganzes bewerten, müssen wir feststellen, dass in den Produktionsbeziehungen die Demokratie nicht mehr existiert. Aus dieser Logik ausgehend, ist wiederum festzustellen, dass auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen die Demokratie nicht mehr im vollem Rahmen gewährleistet werden kann. Damit meine ich nicht das bürgerliche Demokratieverständnis oder die liberale Demokratie, sondern die gesellschaftlich freiheitliche Demokratie, welches die Interessen der arbeitenden Menschen wahrt. Eine solche freiheitliche Demokratie hat keinen Basis mehr. Dennoch gibt es viele Kräfte in der Türkei, so auch Linke die von sich behaupten, Demokraten zu sein die ihren Wohl in der EU-Mitgliedschaft sehen. Es gibt einen großen Kreis von Menschen, die ernsthaft glauben, das mit der EU-Mitgliedschaft die demokratischen Rechte erweitert werden.
Dabei ist die EU auf einem Weg, in der, beginnend mit den Produktionsbeziehungen, die Demokratie ausgehöhlt wird. Ein solcher Weg kann der Türkei die Demokratie nicht bringen, geschweige denn Grundrechte wie die Menschenrechte.
Neben der Aushöhlung der Demokratie, gewinnen rassistische Positionen in der EU mehr und mehr an Boden, rassistische Parteienwerden stärker. Wenn wir dies auch beachten, komme ich zu dem Schluß, dass die Rettung der Türkei nicht in der EU sein wird. Und ich glaube nicht, dass die EU die genannten Rechte in der Türkei gewährleisten kann.
Es gibt eine Position, die besagt, dass die “Türkei in der EU ein trojanisches Pferd der USA” sein könnte. Würde die EU eine solche Türkei überhaupt aufnehmen?
Sowohl wegen dieser Position, als auch wegen anderen Positionen glaube ich nicht, dass die EU gegenüber der Türkei mit der Mitgliedschaft ernst macht. Natürlich gibt es Versprechungen, wie zuletzt durch den deutschen Bundeskanzler. Ich denke nicht, dass das realistisch ist. Innerhalb des kapitalistischen Systems gibt es neue Positionierungen. Die EU steht sowohl mit der USA als auch mit den Ländern des Fernostens in harter Konkurrenz. In diesem Zusammenhang ist es sehr unwahrscheinlich, dass eine solche EU, ein Land wie die Türkei, nur weil die USA es will, aufnehmen würde. Die Türkei wird nur hingehalten. Natürlich können dabei auch gewissen Interessen eine Rolle spielen. Zypern könnte ein Beispiel sein. Als ganzes gesehen glaube ich nicht daran, dass ein Land, in der eine solche hohe Arbeitslosigkeit existiert, die Wirtschaft an einem seidenen Faden hängt und jederzeit eine Krise beginnen kann, in die EU aufgenommen wird.
Die Ziele der USA sind bekannt, welche Ziele verfolgt die EU über der Türkei?
Bei einer geopolitischen Betrachtung, steht die Türkei gleich vor Europa als eine Tür für den Nahen Osten. Eine sehr strategische Lage. Welche strategische Bedeutung die Türkei für die USA hat, so hat sie die gleiche strategische Bedeutung für die EU. Natürlich wird die EU keinesfalls eine Nahost-Politik verfolgen, die gegen die Türkei gerichtet ist. Ein wesentlicher Grund hierfür ist, der Versuch der EU, die Allmacht der USA in den Nahen Osten zu brechen. Ein Konflikt, in der Türkei sich nur auf die Seite der USA stellt, wird von der EU nicht gewünscht. Die EU will die Türkei nicht als Gegner haben oder verlieren. Daher denke ich, dass die EU versuchen wird soweit es geht an sich zu binden und gegebenenfalls in Strukturen die innerhalb ihres Systems sich befinden, die Türkei einzubeziehen. Die Forderungen, die im Rahmen des EU-Integrationsprozesses der Türkei gestellt werden, sind Forderungen, die Anpassungen an das kapitalistische System beinhalten. Die EU will die Türkei mit wenigen Zugeständnissen bei sich halten.
Wird die AKP, den sog. „Tiefen Staat“ besänftigen können? Wenn ja, müssen wir dann von einer langen AKP-Regierungszeit ausgehen?
Es kann sein, dass die AKP von antilaizistischen Teilen des tiefen Staates unterstützt wird. Der Prozess in der die AKP an die Regierung kam, ist ein Teil des gewollten Prozesses, in der die DSP, MHP und ANAP-Koalition schwer zerrüttet wurde. Es war ein geplanter Prozess. Ich glaube nicht daran, dass eine Partei, die eigentlich verboten werden sollte und dessen Vorsitzender kurz davor war, ins Haft zu kommen, per Zufall an die Regierung kam. Diejenigen Kräfte, die AKP an die Regierung hievten, sind genau diejenigen die wollen, dass die Türkei ihre Rolle in dem globalisierten kapitalistischen System beibehält. Ich bin nicht der Auffassung, das die AKP ihre Dynamik innerhalb der islamischen Kräfte hat. Sie positioniert ihre Politik im Rahmen ihrer Unterstützer und vertritt genau die selben Interessen. Und daher denke ich, dass sie den tiefen Staat als Unterstützer neben sich halten kann.
Wird aber die AKP langfristig in der Regierung bleiben können? Diese Politik wird es dazu nicht bringen. Der Neoliberalismu hatte am Anfang die Maske der Mutterlandspartei. Dann wurde die Aufgabe zuerst Tansu Çiller und danach Mesut Yılmaz übertragen. Jetzt ist Tayyip Erdoğan an der Reihe. Wenn auch er ausgelaugt ist, wird ein anderer sein Platz nehmen.