Nisan 2004 / April 2004
„Die Kunst muss für die Gesellschaft und den Staat als etwas unverzichtbares verstanden werden“
Interview mit dem türkischen Filmemacher Yusuf Kurçenli, dessen romantischer Film „Nichtversandte Briefe“ an dem Filmfestival Türkei / Deutschland in Nürnberg teilnahm.
Murat Çakır
Herr Kurçenli, Ihr Film „Nichtversandte Briefe“ ist auf reges Interesse gestoßen. Das Duo Kadir İnanır und Türkân Şoray ist ein Synonym für türkische Liebesfilme. Abern dennoch kann Ihr Film nicht nur als einen reinen Liebesfilm bezeichnet werden. Ist das richtig?
Ja, das ist so. Natürlich geht es auch um die Liebe. Aber, obwohl dramaturgisch eine nicht vollendete Liebesbeziehung gezeigt wird, habe ich in diesem Film versucht, die Widersprüche und das Verlorengegangene der Menschen aufzugreifen. Ja, es ist ein Liebesfilm und wir können es als einen Film bezeichnen, welches in Zusammenhang der Schmerzen einer Gesellschaft, das den Militärputsch vom 12.September 1980 erlebt hat, die zwischenmenschlichen Beziehungen in ihre Handlung integriert.
Natürlich ist das Zusammentreffen der beiden Stars Şoray und İnanır vom türkischen Kinopublikum lange ersehnt gewesen und gibt daher Ihrem Film eine besondere Note. Eine, m. E. auch sehr wichtige Bedeutung hat aber die Tatsache, dass in Ihrem Film auch die dramatischen Folgen des 12.September 1980 für die türkische Gesellschaft wiedergegeben werden. Was meinen Sie, sind die Spuren des 12.Septembers in der türkischen Gesellschaft heute noch spürbar?
Auf jeden Fall. Wenn heute die Türkei verschiedene Hindernisse immer noch nicht überwunden hat, dann liegt es daran, dass das Land ihre Abrechnung mit dem 12.September noch nicht vollzogen hat. Die Türkei muss das unbedingt tun. Natürlich hat die Türkei sehr schöne Seiten, aber sie hat auch das Handikap, mit dem Regime des 12.Septembers noch nicht abgerechnet zu haben. Diese Abrechnung muss alsbald beginnen. Wenn es vollzogen ist, werden wir sehen, dass vieles sich sehr schnell zum Guten entwickeln wird.
Aber glauben Sie daran, dass diese Abrechnung aus einer gesellschaftlichen Dynamik heraus beginnt? Oder wird es von Oben nach Unten diktiert? Denn es gibt ja im Rahmen der Diskussionen um den EU-Beitritt Bestrebungen des Staates zur Demokratisierung.
Über die unternommenen Schritte kann ich nichts sagen. Aber in der Türkei leben Hunderttausende von Menschen, die die Folgen der Militärputsche vom 12.März und 12.September am eigenen Leibe ertragen mussten. Insofern ist es nicht notwendig, dass diese Abrechnung von Oben angeordnet werden muss. Das ist eine reale Forderung der Menschen. Natürlich ist die Türkei, was das Organisationsgrad der Zivilgesellschaft betrifft, aufgrund gesetzlicher Verbote, ein schwaches Land und daher kann diese Forderung nur sehr schwach artikuliert werden. Aber diese Abrechnung ist eine Notwendigkeit. Das muss in dieser Hinsicht wie von einem Arzt untersucht und von dem Übel befreit werden. Die Diskussionen um den EU-Beitritt hat damit wenig zu tun. Obwohl diejenigen, die im Staat mit der Aussage „Wir wollen die Demokratisierung für unsere Gesellschaft, nicht weil die EU es will“ argumentieren, bin ich nicht der Auffassung, dass sie von ihren eigenen Worten überzeugt sind. Aber unabhängig von dieser Tatsache ist diese Entwicklung unabdingbar. Wir müssen es schaffen, dass wir uns in Richtung eines Wertesystems bewegen, das es ermöglicht, den fortschrittlichen Weg der Menschheit zu ebnen.
Welchen Beitrag kann die türkische Filmkunst zu dieser Abrechnung leisten? Sie hatten einmal erwähnt, dass in der Türkei zu wenige Filme gedreht werden. Welchen Beitrag kann das türkische Kino gerade in einer solchen Situation leisten bzw. welchen müsste sie leisten?
Eigentlich werden solche Filme in der Türkei schon gedreht. Mal mehr, mal weniger haben sie sich diesem Thema gewidmet. Aber das ist sowieso die Aufgabe des Filmes und der Kunst. Die Kunst trägt dazu bei, dass in der langen Geschichte der Menschheit entstehenden Störungen beseitigt werden. Die Kunst richtet es quasi wieder auf. Das ist die Funktion der Kunst. Etwas anderes sollte auch von der Kunst nicht erwartet werden.
Zum Thema Abrechnung mit der Geschichte und insbesondere dem 12.September hat das türkische Kino einiges vorzuweisen. Beispielsweise habe ich mit meinem Film „Die Verdunkelungsnächte“ die Situation während des Zweiten Weltkriegs thematisiert. Ein anderer Kollege hat mit dem Film „Salkım Hanımın Taneleri“ die Zwangsvermögenssteuer für nichtmuslimische Minderheiten in der Türkei thematisiert. Man kann sagen, dass die Filmkunst gleich nach der Literatur die Abrechnung mit der eigenen Geschichte am meisten thematisierende Kunstart ist. Aber unser Kino hat ein anderes Problem: das Existenzproblem. Das Kino in einem Land kann mit ein paar Filmen, die im Jahr gedreht werden nicht existieren. Abgesehen davon, aus den gedrehten wenigen Filmen kommen keine guten Filme heraus. Das ist nicht nur ein spezifisches Problem der Türkei. Überall in der Welt ist es so. Wenn aus produzierten Sechzig Filmen zwei gute Filme raus kommen, dann reicht das. Also wieder zum Thema: die Türkei muss zuallererst im Kinobereich das „Produktionsproblem“ lösen. Leider wird das Kino vom türkischen Staat nicht genügend gefördert. Das Ministerium für Kultur hat erst jetzt begonnen, über neue Strukturen nachzudenken. Die Filmschaffenden fordern seit langem die Gründung einer „Institution für das Kino“. Zwar wird das nicht zu Hundertprozent erreicht werden, aber immerhin hat das Ministerium die Unterstützung für das Kino ernsthaft in ihre Tagesordnung aufgenommen. Ich hoffe, dass die Schritte weitergeführt werden. Der türkische Staat hat das Kino niemals ernst genommen. Die Politiker haben sich begnügt, mit den Star fotografiert zu werden und Phrasen wie „wir werden das Kino schon unterstützen“ von sich zu geben.
Eine Gesellschaft kann arm sein. Ein Staat kann arm sein. Aber diese Tatsache kann die Nichtbeachtung der Kunst nicht berechtigen. Ein Staat muss der Kunst genügend Mittel zur Verfügung stellen. Genau wie sie es für die Verteidigung, Erziehung oder Gesundheit tut. Kunst und Kultur müssen als unverzichtbare Güter angesehen werden. Wenn wir dieser Tatsache bewusst geworden sind, werden auch Voraussetzungen für die Produktion von 50 60 Filmen im Jahr geschaffen werden können. Auch die Privatwirtschaft hält sich zurück. Sogar in den USA wurden zu Krisenzeiten das Kino mit Steuervergünstigungen u. ä. Mitteln gefördert. In der Türkei müssen auch solche Schritte unternommen werden.
Aber trotz diese Situation gibt es eine Gegenthese: Beispielsweise hat Nuri Bilge Ceylan 20 Jahre nach dem Erfolg von Yılmaz Güney’s Film „YOL“ mit seinem Film „UZAK“ den Großen Preis der Jury in Cannes erhalten. Parallel dazu hat der türkeistämmige Fatih Akın mit seinem Film „Gegen die Wand“ den Goldenen Bären erhalten. Ausgehend von diesen Tatsachen wird behauptet, dass der türkische Film eine neue Kraft gewonnen hat. Wie denken Sie darüber?
Zuerst sollten wir feststellen, dass beide Preise sehr sehr wichtig sind. Erst danach will mich dies Frage analysieren. Natürlich hat das türkische Kino in seiner Geschichte verschiedene Preise erhalten. Aber wenn es eine natürliche Entwicklung sein soll, dann muss dafür ein Basis geschaffen werden, der weit über die individuellen Erfolge geht. Das fehlt in der Türkei. Dabei können wir, wenn wir uns das künstlerische Abenteuer der Türkei anschauen, sagen, dass das türkische Kino in einem sehr guten Punkt angekommen ist. Ich meine damit folgendes: das türkische Kino hat lange Zeit mit Schablonen funktioniert. Also es gab die Stars, reicher Mann arme Frau, gute Männer böse Männer, schwarz weiß, eben Melodram. In diesen Schablonen hat das türkische Kino Hunderte von Filmen gedreht, 300 350 Filme im Jahr. Dann kam das Zeitalter des Fernsehens. Das Kino verlor seine Zuschauer und seine Produzenten. Und als die Produzenten nicht mehr da waren, haben insbesondere in den 1980er und 1990er Jahren nur die Regisseure, die echtes Kino machen wollten, Filme gemacht. Obwohl dieser Punkt einer Zäsur zwischen den Zuschauern und dem Kino gleicht, bedeutet er zugleich einen neuen Versuch zu starten. Das ist die Ära der Filme, in denen der Mensch, das Individuum und dessen Psychologie erzählt wird. Das fehlte in dem türkischen Kino. So vergingen 15 bis 20 Jahre, in dem ein Kino, das nur nach Schablonen arbeitete, nun auch den Menschen und die Psychologie thematisierte. Jetzt ist das türkische Kino an einem Punkt angekommen, in dem eine Synthese der beiden von mir beschriebenen Genres gemacht werden können. Das türkische Kino ist an einem Punkt, wo es noch reifer geworden ist und mit dem Zuschauer eine noch intensivere Beziehung beginnen kann. Unser einziges Manko ist, dass wir zu wenige Filme drehen. Wenn die Voraussetzungen geschaffen werden können, dann werden wir sehen, dass das türkische Kino außer den individuellen Erfolgen auch qualitativ bessere Filme produzieren kann.
Manche Kreise, die der Meinung sind, dass die Globalisierung die Kultur und Kulturpolitik beeinflusst, kritisieren diese Entwicklung. Sie sind der Auffassung, dass der Neoliberalismus nicht nur auf wirtschaftlichen und politischen Ebenen, sondern auch auf ethischer Ebene immensen negativen Einfluss hat. Die Ideologie des Marktes würde zur Verflachung der Kultur sorgen und die Medienpolitik des Fernsehens diesen Trend begünstigen. Hat das Kino in dieser Situation überhaupt eine Chance, dieser Entwicklung gegenzusteuern?
Leider sehr wenig. Aber das Kino muss beharrlich sein. Die Gesellschaft muss beharrlich sein. Das Kulturleben einer Gesellschaft darf nicht dem Markt überlassen werden. Das ist eine neue Verherrlichung. Die freie Marktwirtschaft ist so sehr verherrlicht worden, dass es als Gottgegeben dargestellt wird. Während einer Podiumsdiskussion musste ich in diesem Zusammenhang sogar sagen „Währen wir doch so Konservativ wie Frankreich“. Da werden sogar Leute, die es nicht akzeptieren können, dass ihre Töchter mit ihren Freunden ausgehen, auf einmal Anhänger der freien Wirtschaft. Das ist ein krasser Widerspruch. Es ist richtig; die Menschheit hat viele Fronten verloren. Aber man muss beharrlich sein. Es gibt sonst nichts anderes was man dagegen tun könnte. Ich habe in meinem Bereich, dem Kino, nichts andere als beharrlich zu sein. In der Geschichte der Menschheit haben wir des Öfteren solche derartige Entwicklungen gesehen. Und ich glaube immer noch an die Menschheit und daran, dass sie den richtigen Weg finden wird.
Eine letzte Frage: Gibt es zur Zeit eine Drehbuch oder ein Filmprojekt, an den Sie arbeiten?
Ja, aber zuerst möchte ich folgendes sagen: Ich habe 8 bis 9 Jahre pausiert. Der Grund hierfür war ein Film, den ich nicht verwirklichen konnte. Es basierte auf einem Tatsachenroman von Alev Alatlı. Der Roman „Riechen die Jasmine noch?“ wird eine traurige Geschichte erzählt. Es geht um die Zeit von 1950 bis 1964. In einer Zeit bis zu der Machtergreifung durch die griechische Junta wird in Zusammenhang mit der Geschichte eines griechisch zypriotischen Mädchens, die politischen, gar die historischen Konflikte thematisiert. Es wird gezeigt, dass sogar Menschen, die wie die Pflanzen des Mittelmeerraumes mit wenig auskommen, ihre Lebensrechte verlieren. Das war ein sehr traurige, aber die Zypernfrage sehr menschlich thematisierendes Projekt. Ein teures Projekt und ich konnte es, obwohl ich 8 9 Jahre daran investiert habe nicht finanzieren. Deshalb habe ich mich einem anderen Projekt gewidmet und die „Nichtversandten Briefe“ gedreht.
Zur Zeit arbeite ich über ein Film, dessen Titel ich zwar noch nicht vergeben habe, aber kurz so schildern kann: In den Zeiten des Militärputschs ermordet eine Gruppe von rechtsradikalen Grauen Wölfe einen Intellektuellen. Es vergeht viel Zeit, etwa 20 Jahre. Die Tat wird nicht aufgeklärt. Einer aus dieser Gruppe bereut die Tat und nähert sich der Familie des Opfers. In dieser Familie ist ein junges Mädchen und zwischen den beiden beginnt eine komische Beziehung. Irgendwann endet es mit einem Selbstmord. Das Drehbuch ist bald zu ende, dann werde ich sehen, wie ich es drehen kann.
Dann wünschen wir Ihnen viel Erfolg bei diesem Projekt und danken Ihnen für das Interview.