Kasım 2003 / November 2003

Vortrag zur Auftaktveranstaltung 2001 vor BildungsarbeiterInnen der ÖTV, Bezirk NW II am 19.1.01 in Bochum

Sozialdarwinismus oder erneuerte Solidarität ? Die politische Zukunft der Gewerkschaften

Prof. Dr. Bodo Zeuner
Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin

Ich möchte meinen Vortrag über die politische Zukunft der Gewerkschaften mit Erfahrungen beginnen, die ich in den letzten Jahren als Hochschullehrer mit meinen Studenten gemacht habe. Ich lehre Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Trotz aller Kürzungen von Stellen sind wir immer noch das größte politikwissenschaftliche Institut in Deutschland mit den weitaus meisten Studenten. Gewerkschaftspolitik und industrielle Beziehungen gehören zu meinen Schwerpunkten in der Lehre, ebenso politische Erwachsenenbildung und Arbeiterbildung. Vor 15 Jahren war alles, was mit Gewerkschaften, Arbeiterbewegung und Arbeiterbildung zu tun hatte, noch ein die Studenten erregendes Thema; die meisten kritisierten die Gewerkschaften von links, bzw. aus feministischer, ökologischer, friedensbewegter Perspektive. Vor 7 oder 8 Jahren waren die Seminare zum Thema Gewerkschaften nicht mehr ganz so voll, aber für linke Studenten des Otto-Suhr-Instituts waren die Gewerkschaften und ihre Politik ein wichtiges Untersuchungsfeld und für manche auch ein Ort künftiger Berufspraxis. Vor einem Jahr wurden Seminare, die meine Kolleginnen und Kolleginnen und ich zum Thema Regulierung der industriellen Beziehungen anbieten, nur noch von wenigen Liebhabern besucht. Das Thema Gewerkschaften lag auch für die - politisch überdurchschnittlich interessierten und engagierten - Studenten meines Instituts nicht mehr im Trend, ja für die meisten ist es mega-out. Wenn ich nach den Gründen frage, dann entdecke ich viereinhalb Typen von Haltungen:

· Für die Fraktion der gläubigen Leser der Wirtschaftsteile z.B. des Berliner "Tagesspiegel" oder der FAZ oder des "Focus" wirkt schlicht die mediale Dauerpropaganda, nach der Gewerkschaften einfach nur Dinosaurier, altmodisch, ja, auch das höre ich, zu wenig verantwortungsbewußt und zu gruppenegoistisch seien. Wer von einer Karriere in der schönen neuen Welt des Turbo-Kapitalismus träumt, spielt nicht mit den Schmuddelkindern.

· Dann gibt es eine Minderheit von engagierten Linken und Humanisten, die in den Gewerkschaften den "Tanker" sehen, die bürokratische, für neue Impulse unsensible Großorganisation. Deshalb engagieren sie sich eher in anderen politischen Zusammenhängen, etwa Migrantengruppen, Antirassismus, Menschenrechts- und Dritte-Welt-Gruppen. Einige von diesen Studenten lassen sich manchmal doch auf die Gewerkschaften ein, etwa als Teamer in Jugendlehrgängen des DGB oder der Einzelgewerkschaften, und sind dann überrascht, wieviel Gestaltungschancen sie haben - aber auch wie schwer und konfliktreich Jugendbildungsarbeit heute ist.

· Es gibt weiterhin eine Gruppe, die mit einer engagierten und aktivistischen Haltung gegenüber der Gewerkschaftsbewegung schon ins Studium kommen; einige von ihnen kommen über den zweiten Bildungsweg und haben schon Erfahrung als betriebliche InteressenvertreterInnen. Aber gerade diese Gruppe wird immer kleiner.

· Größer wird dagegen eine vierte Gruppe, und sie scheint mir die Mehrheit der Studierenden auszumachen, nicht nur an meinem Institut. Diese Gruppe sagt: Ich finde Gewerkschaften schon wichtig und wünsche überhaupt nicht, dass sie verschwinden. Ich würde sofort qua Internet meinen Protest in die ganze Welt schicken und mich mit Gleichdenkenden vernetzen, wenn Gewerkschaftsrechte substanziell eingeschränkt werden sollten. Nur glaube ich, dass Gewerkschaften mit meinem Leben heute nichts zu tun haben und auch morgen nichts zu tun haben werden. Ich werde sowieso in kein festes Normalarbeitsverhältnis mehr hineinkommen, sondern von einem Job zum anderen driften, also können Gewerkschaften mir als Interessenvertretung nichts bieten.

· Was diese vierte Gruppe sagt, das scheint mir für unser Thema am interessantesten zu sein. Aus dieser Gruppe bildet sich derzeit eine wachsende Minderheit heraus, die neu auf die Gewerkschaften zugeht, mindestens im Sinne von Neugier, manchmal mit einer Mischung aus Verzweiflung, Hoffnung und Ironie. Es sind dies diejenigen, die sich eine gesellschaftskritische Distanz zum hegemonialen Marktradikalismus bewahrt haben, die sich trotzdem auf die informationstechnologische Revolution und auf die so genannte Wissensökonomie voll einlassen, und die wiederum trotzdem wissen, dass sie ohne kollektive Organisation und Gegenwehr auf Dauer schlecht dran sind. Zum Teil haben sie dies bei Jobs in Call Centern schon erfahren, zum Teil schwärmen sie von den fantastisch fairen, hierarchiefreien und selbstbestimmten Arbeitsbedingungen in Start-Up-Unternehmen oder Consulting Firmen, wissen aber zugleich, dass sie den dort herrschenden Leistungsdruck auf Dauer nicht aushalten können. Oder sie halten das, was sie dort herstellen, für unsinnig bis gefährlich und wollen deshalb auf Dauer, auch für weniger Geld, lieber etwas Sinnvolles machen.

Ich hoffe, dass diese viereinhalbte Gruppe der Wirtschaftsbürger des IT-Zeitalters, die sich nicht in die ruinöse Konkurrenz aller gegen alle jagen lassen, sondern auf Rechten, Mindeststandards und Solidarität bestehen, langsam größer wird

Damit bin ich beim Thema: Zukunft der Gewerkschaften, insbesondere auch der Gewerkschaften im Dienstleistungsbereich. Denn was ich am Beispiel meiner vierten Gruppe zeigen will, lässt sich verallgemeinern. Die Zukunft der Gewerkschaften liegt in der Organisierung von Solidarität der neuen Dienstleisterinnen und Dienstleistern. Und zwar nicht nur von ihrer Solidarität untereinander, sondern auch mit anderen.

Gewiss soll man diese Gruppe nicht für das Ganze nehmen. Gewiss arbeitet heute noch die Mehrheit der Beschäftigten in Deutschland unter mehr oder weniger tayloristischen Bedingungen. Aber alle Analysen der sozio-ökonomischen Entwicklungstrends weisen mindestens in folgenden Hinsichten in die gleiche Richtung:

· Es wird mehr Dienstleistungsarbeit und weniger traditionelle Industriearbeit geben, wobei auch die industrielle Produktion menschliche Arbeit zunehmend in Form des Umgangs mit Wissen und Information und weniger in Form des Umgangs mit Stoffen erfordern wird.

· Der Arbeitsprozess wird dezentraler und konkurrenzhafter organisiert, bei gleichzeitiger globaler Zentralisierung der Kapitale und der Entscheidungsgewalt über den Kapitaleinsatz und die Arbeitsvorgaben.

· Veränderungen von Arbeitsinhalten und geforderten Qualifikationen werden schneller aufeinander folgen als bisher, was das Konzept der Beruflichkeit, einschließlich des deutschen Systems der Berufserstausbildung, in Frage stellt.

· Der globale Kapitalismus verschärft innergesellschaftlich und weltweit die Konkurrenz zwischen den Arbeitskraftanbietern.

· Der globale Kapitalismus verschärft, wenn er nicht durch solidarische Gegenmacht und staatliche Regulierung gebändigt wird, innergesellschaftlich und weltweit die Ungleichheit zwischen den Menschen.

Ich denke, dass über diese Trends alle einig sind. Daneben gibt es zwei Punkte der Uneinigkeit:

1. Nicht einig sind sich die politischen Lager, und auch die Denkschulen der Wissenschaftler, darüber, ob sie diese Trends gut finden oder ob Gegensteuerung möglich und wirksam ist. – Hierzu verläuft die Streitfront zwischen Neoliberalen und Linken, letztere verstanden im weitesten Sinne.

2. Es gibt einen zweiten Punkt der Uneinigkeit. Der betrifft die Prognose, ob die globalisierte und entindustrialisierte kapitalistische Ökonomie genug Erwerbsarbeit für alle bereit hält oder ob mit einer anwachsenden strukturellen, durch Rationalisierung bedingten Arbeitslosigkeit gerechnet werden muss. Anders ausgedrückt: Ob die Arbeitsproduktivität langfristig stärker zunehmen wird als das Arbeitsvolumen. Noch anders: Ob Umverteilung der knapper gewordenen Arbeit weiterhin ein Gebot einer sozial ausgleichenden Politik sein sollte. Es ist klar, was das z.B. für die Perspektive weiterer Arbeitszeitverkürzung oder auch für die Diskussion über ein arbeitsunbhängiges Grundeinkommen bedeutet. – Hierzu verläuft die Front zwischen der keynesianischen Fraktion der Linken samt den Neoliberalen einerseits und den skeptischeren und ökologischer denkenden Linken andererseits. Keynesianer und Neoliberale sind sich einig, dass eigentlich auf Dauer genug Erwerbsarbeit für alle da sein werde. Ich möchte mich eher zu den Skeptikern rechnen und – z.B. mit Elmar Altvater und Birgit Mahnkopf [1] – ein eher abnehmendes Volumen der Erwerbsarbeit erwarten. Aber selbst wenn mir die Keynesianer, etwa Heiner Flasbeck, oder andere Optimisten, etwa Ulrich Klotz [2] aus der Wirtschaftsabteilung der IG Metall, überzeugend vorrechnen könnten, dass die neue Ökonomie massenhaft neue Arbeit schafft, weil jedes neue Computerprogramm massenhaft neue zu bearbeitende Probleme schafft, dann erlaube ich mir immer noch die Frage nach dem persönlichen und gesellschaftlichen Sinn des Ganzen zu stellen. Sollten wir die durch Produktivitätssteigerung gewonnene eigentlich freie Zeit – denn nichts anderes heißt ja Produktivitätssteigerung, als dass dieselben Produkte mit weniger Arbeitszeit hergestellt werden können – sollten wir diese freie Zeit nicht einfach in Muße, in selbstbestimmte Zeit also, umwandeln statt in noch mehr Stress und beschleunigte Konkurrenz um Quatschprodukte?

Wie immer man dies sieht: Die Zukunft der Gewerkschaften hängt davon ab, wie sie auf die Bedürfnisse der neuen Dienstleisterinnen und Dienstleister einzugehen vermögen. Ich habe in meiner Hauptthese schon gesagt, wie ich mir das vorstelle, nämlich durch Organisierung von deren Solidarität, untereinander und mit anderen.

Natürlich gäbe es auch andere Zukunftssicherungsmodelle der Gewerkschaften als "Organisation". (Überhaupt gibt es ja Wissenschaftler, die den Gewerkschaften einreden wollen, dass mit ihrer Kennzeichnung als "Organisation" - und auch jedes Privatunternehmen und jede Behörde ist ja eine "Organisation" - das Wesentliche über sie gesagt sei, z.B. in der derzeitigen ÖTV-Bildungsdiskussion Prof. Rainer Zech [3].) Spitzt man diese Idee zu, dann ergibt sich: Als Unternehmen könnten die Gewerkschaften auch, vielleicht, überleben, wenn sie selber zu Dienstleistungsanbietern mutierten, die den Einzelnen und die Einzelne für den individuellen Konkurrenzkampf fitter machen. ver.di soll "Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft" heißen. Darunter kann man auch verstehen, dass das Ganze ein Unternehmen ist, das seine Mitglieder als Kunden ansieht und diesen Dienstleistungen: Rechtsschutz- und Freizeitunfallversicherung, natürlich auch Streikausfallgeldversicherung, individuelle Beratung, Bildungsveranstaltungen als Bewerbungstraining etc., anbietet. Als alter und träger Kunde der BfG habe ich immer noch mein Konto bei dieser Bank, auch wenn sie mit Gemeinwirtschaft und Gewerkschaften nichts mehr zu tun und inzwischen etwa 5 mal den Eigentümer gewechselt hat. Wenn die Gewerkschaften, und insbesondere ver.di, sich also in dienstleistende Kommerzunternehmen umwandeln und aufgliedern möchten, dann hätten sie vielleicht mit ihrer spezifischen traditionellen Kundenbindung einen Konkurrenzvorteil gegenüber anderen Versicherungs- und Beratungsfirmen. Vielleicht könnten sie dann, wenn die Sterne auf den Finanzmärkten sich gerade in einer glücklichen Konstellation befinden, sogar den Börsengang wagen.

Allerdings müssten dann wirkliche Gewerkschaften neu erfunden und erkämpft werden. Wirkliche Gewerkschaften organisieren Solidarität. Solidarität heißt Minderung und nicht Steigerung von Konkurrenz.

Damit bin ich wieder bei meiner Hauptthese: Die Zukunft der Gewerkschaften liegt in der Organisierung von Solidarität der neuen Dienstleisterinnen und Dienstleistern.

Ich will jetzt zunächst etwas allgemeines zum Begriff der Solidarität sagen, dann zwei Arten von Solidarität unterscheiden, nämlich die inklusive und die exklusive, und zum Schluss darauf eingehen, was es heißen könnte, wenn die Gewerkschaften sich auf die herrschende exklusive Ideologie des Sozialdarwinismus einlassen (oder aber ihr widerstehen) würden.

Allgemeines zum Begriff der Solidarität:

In den 90er Jahren ist ziemlich viel politisch-theoretische Literatur zum Begriff der Solidarität erschienen. Ich sehe darin, wie auch im Aufblühen des Kommunitarismus in den USA und in dem neuen Schlagwort "soziale Kohäsion", ein Indiz dafür, dass sich in der Gesellschaft Widerstand gegen die totale Durchmarktung aller sozialer Beziehungen – und damit natürlich auch gegen den Prozess der Selbstvernichtung des Kapitalismus durch Aufzehrung seiner von ihm selbst nicht reproduzierbaren Grundlagen [4] – zu regen beginnt.

Solidarität heißt, dass ansonsten isolierte Menschen zusammenkommen oder zum Zusammenkommen eingeladen werden, weil sie gleiche Interessen sehen, gleiche Schädigungsfaktoren wahrnehmen, gleiche Gegner haben. Solidarität ist aber nicht von selber da, sondern entsteht durch Nachdenken und Besinnung darüber, was denn meine Interessen eigentlich sind und wie wichtig sie mir sind. Gemeinsame Werte, Einsicht und Information darüber, welche gesellschaftlichen Verhältnisse meinen Interessen zuwiderlaufen und was sich dagegen tun lässt, müssen hinzukommen, damit solidarisches Handeln entsteht. Solidarisches Handeln selbst führt, wenn es einmal erfolgreich war, zur Selbstverstärkung und zu Vertrauen in die gemeinsam handelnde Gruppe oder Organisation.

Die Beziehung, die mit dem Wort Solidarität beschrieben wird, ist also weniger elementar, personengebunden und direkt als Freundschaft und Liebe, sie ist auch keine Gemeinschaft, die auf emotionaler Zusammengehörigkeit aufbaut, aber sie ist auch kein reines individuelles Vorteilskalkül wie bei strategischen Allianzen auf dem Markt oder bei Seilschaften, die in bürokratischen Hierarchien gemeinsam emporklimmen. Solidarität hat mit Moral, mit Interessen, mit Reziprozität, also mit Gegenseitigkeit, die erwartet, aber nicht in Geld gemessen wird, zu tun.

Gleichwohl kann auch diejenige Solidarität, welche von den Gewerkschaften als Minderung der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt organisiert wird, weit davon entfernt sein, Menschenrechte und ein vernünftiges Zusammenleben der Menschen überall auf dem Erdball zu stärken.

Inklusive und exklusive, einschließende und ausschließende, Solidarität

Ich möchte zwischen zwei Arten von Solidarität, zwischen exklusiver und inklusiver Solidarität, zwischen einer, die sich der Tendenz nach ausweiten will, und einer die sich abschottet und Andere, Fremde, ausschließt, unterscheiden:

Solidarität ist nicht von vornherein und nicht selber allumfassend. Auch gewerkschaftliche Solidarität bezieht sich erst einmal auf eine bestimmte Gruppe, schließt andere also aus. Solidaritätstheorertiker (z.B. Bayertz, Rorty [5]) sagen - völlig zu Recht -, dass niemand mit der ganzen Menschheit solidarisch sein könne. Solidarität beruht auf gemeinsamen Interessen, auf dem Zusammengehörigkeitsgefühl einer Gruppe, auf gemeinsamen Werten, auf dem Kalkül, dass ich mögliche kurzfristigen Vorteile zugunsten gemeinsamer Ziele zurückstelle, in der Erwartung, dass die anderen dies in ähnlichen Situationen auch täten. Insbesondere in den Arbeitsbeziehungen bedeutet Solidarität das Zusammenstehen, weil man auf sich gestellt die von der Gegenseite drohende Gefährdung nicht abwehren könnte.

Solidarität ist insofern das Gegenteil von Markt- und Konkurrenzverhalten. Und darin liegt ein politisches Erfahrungspotenzial, das für eine menschlichere Gesellschaft genutzt werden kann, das aber nicht von selber humanisierend wirkt.

Die von den Gewerkschaften organisierte Solidarität war im Prinzip immer sowohl inklusiv als auch exklusiv. Gewerkschaften schlossen und schließen die einen aus und die anderen um so verbindlicher ein. Natürlich sind die Arbeitgeber ausgeschlossen. Gewerkschaften müssen sogar gegnerfrei sein, um Tarifverträge abschließen zu können. Aber die von den Gewerkschaften Ausgeschlossenen waren und sind nicht immer nur die Arbeitgeber. Gewerkschaften wirkten oft auch als Männerbünde, als zunftartige Elitevereine, als Verteidigungsorganisationen bestimmter ethnischer Gruppen gegen Konkurrenz von außen. Gewerkschaften sind immer Abwehrorganisationen gegen die totale Konkurrenz gewesen, und ein Mittel der Konkurrenzabwehr ist die Regulierung des Zugangs zum Arbeitsmarkt.

Der ruhmreiche Verband der Deutschen Buchdrucker, Vorgänger der IG Druck und Papier und der IG Medien und damit demnächst vielleicht auch von ver.di, hat mit dieser Strategie der Marktregulierung im Verein mit den Unternehmern jahrzehntelang hervorragende Ergebnisse in der Tarifpolitik erzielt - für eine begrenzte Gruppe von Arbeitern, die absichtlich klein gehalten wurde und aus der Frauen noch bis in die 20er Jahre hinein ferngehalten wurden.

Exklusive Solidarität dieser Art muss nicht von vornherein moralisch fragwürdig sein, und sie ist in gewissem Umfange unvermeidlich. Man kann von Betriebsräten am Standort A nicht erwarten, dass sie zustimmen, wenn Arbeitsplätze an den Standort B verlagert werden, wo diese Arbeitsplätze, von einem übergeordneten und vergleichenden Gerechtigkeitsgesichtspunkt betrachtet, vielleicht noch dringender gebraucht werden. Allerdings kann man von den Betriebsräten am Standort A schon verlangen, dass sie solche vergleichenden Gerechtigkeitsgesichtspunkte immerhin in Betracht ziehen, und dass sie ihren Interessenstandpunkt nicht auch noch damit ideologisch untermauern, dass sie sich selber für höherwertig und die Konkurrenten am anderen Standort für minderwertig erklären.

Dies ist nämlich das Hauptproblem jeder exklusiven Solidarität: Sie hat immer eine offene Flanke nach rechts - zur Konstruktion von Feindbildern samt entsprechendem Verhalten. Dass Frauen gleichberechtigt nach Erwerb streben, wird dann zur "Schmutzkonkurrenz", und Parolen wie "Ausländer raus", "Arbeit nur für Deutsche" etc. sind mögliche Konsequenzen. Exklusive Solidarität gibt es natürlich erst recht bei Rassisten und Nationalisten. Die NPD-Parolen zum 1. Mai 2000 zeigen, wie hier von Nazis, wie schon vor 1933, versucht wird, sich an den gewerkschaftlichen Solidaritätsgedanken in seiner exklusiven Variante anzuschließen.

Den anderen Weg, den der inklusiven Solidarität, der Ausweitung des Kreises, für den man und frau einsteht, sind GewerkschafterInnen auch schon immer gegangen, und er ist heute genauso möglich.

Zum einen wächst ja der Stand von Bildung und Aufklärung weltweit. Solche Ideen wie die aus der US-Unabhängigkeitserklärung "that all men are created equal" haben immer noch motivierende Kraft und werden spätestens seit der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" der Vereinten Nationen von 1948 universal verstanden, wirklich für alle Menschen, während für die US Founding Fathers die Indianer und die Neger und die Frauen noch gar nicht dazu gehörten. Ich zitiere aus der UN-Menschenrechtserklärung:

"Art. 1: Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.

Art. 2, Abs 1: Jeder Mensch hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten, ohne irgendeine Unterscheidung, wie etwa nach Rasse, Farbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, nach Eigentum, Geburt oder sonstigen Umständen."

Es gibt tatsächlich so etwas wie einen welthistorischen moralischen Fortschritt, was die Maßstäbe angeht, vor denen sich politisches Handeln zu legitimieren hat. Es ist weltweit immer weniger möglich, Ungleichheit der Menschen damit zu rechtfertigen, dass es minderwertige Sorten von Menschen, nach Rasse, Geschlecht, Religion, Klasse oder Kaste gibt. Das heißt selbstverständlich nicht, dass keine Ungleichheiten mehr bestehen; im Gegenteil werden sie weltweit derzeit durch Globalisierung von Konkurrenz, wie ich schon sagte, größer. Aber damit wird auch das Rechtfertigungsproblem gegenüber dem universalistischen Gleichwertigkeitsgrundsatz der UNO-Erklärung immer größer. - Wie dieses Problem seitens der herrschenden Ideologie angegangen wird, nämlich mit einem neuen Sozialdarwinismus, darauf komme ich noch zu sprechen. -

Für die Möglichkeit einer inklusiven Solidarität, die also möglichst viele Menschen und tendenziell alle auf Erwerbsarbeit angewiesenen Menschen in der ganzen Welt einschließt, spricht aber nicht nur die Moral, sondern auch das Interessenkalkül der Gewerkschaften. Denn bekanntlich gibt es eine Internationalisierung der Produktion und der Konkurrenz, bei der sich die von den Gewerkschaften organisierte Solidarität ebenfalls internationalisieren muss, denn sonst sind die abhängig Arbeitenden der Gegenseite nicht mehr gewachsen. Die Antwort der Gewerkschaften auf Individualisierung und Globalisierung kann also nicht sein, für privilegierte kleine Gruppen Solidarität zu organisieren und damit national und international die Konkurrenz zwischen den Gruppen noch anzuheizen. Denn das schadet allen. Wenn Gewerkschaften aus den Hochlohnländern sich für die graduelle Erhöhung von Einkommen und sozialen Standards und für Gewerkschaftsrechte in den Niedriglohnländern einsetzen, dann nützen sie sich selbst, denn sie vermindern das Gefälle, aus dem der globale Konkurrenzdruck entsteht. Und wenn die Gewerkschaften in Europa oder USA selber auf Lohn oder Standards verzichten, dann nützt das den Gewerkschaftskollegen in Brasilien und Südafrika gar nichts, im Gegenteil geraten die dann unter weiteren Absenkungsdruck, um ihren Standortvorteil der niedrigen Lohnkosten zu erhalten.

Es gibt also gute moralische und interessenbedingte Gründe für eine Gewerkschaftspolitik der inklusiven Solidarität, einer Politik, die dem Grundsatz folgt, dass Menschen nur gut leben können, wenn alle anderen Menschen auch gut leben können. Das gilt nicht nur weltweit, sondern natürlich auch in der sich zunehmend zerklüftenden deutschen und europäischen Gesellschaft. Gewerkschaften haben die Chance, zu Organisationen der Solidarität aller auf abhängige Arbeit angewiesenen Menschen zu werden, egal ob diese sich in einem Normalarbeitsverhältnis, in einem prekären Arbeitsverhältnis, im Status der Scheinselbständigkeit oder der riskanten Selbständigkeit in Start-Up-Firmen befinden oder ob sie gerade erwerbslos sind. Alle diese Menschen haben drei Dinge gemeinsam:

· sie müssen ihre Arbeitskraft oder ihre Arbeitsprodukte stetig verkaufen, um ein menschenwürdiges Leben führen zu können,

· sie sind in ihren Lebenschancen durch die Zufälle des Marktes und durch aggressive Strategien von Kapital und Management bedroht,

· sie sind allein auf Dauer nicht stark genug, diese Bedrohungen abzuwehren, brauchen also Hilfe, Stützung, Solidarität.

Die Chance, diese sehr verschiedenen Gruppen solidarisch zusammenzubringen, erfordert von den Gewerkschaften organisatorische Phantasie, Experimentierfreude – und auch Bescheidenheit und Bündnisfähigkeit, etwa mit Arbeitslosengruppen, ohne Alleinvertretungs- und Belehrungsansprüche. Gewerkschaften, die inklusive Solidarität anstreben, müssen selber wieder mehr zu "social movements" werden. Was das heißen könnte, lässt sich gerade bei den US-amerikanischen Gewerkschaften seit ihrer Wende im Jahre 1995 praktisch beobachten. (In "express" und im www.labournet.de lässt sich dazu seit Jahren Genaueres nachlesen. Stichworte wären: social movement unionism vs. business unionism. Organizing zwecks Wiederherstellung von Streik- und Kampffähigkeit. Hineinnahme von Boykott und öffentlichen Kampagnen in die Reihe der Kampfmittel. Gleichberechtigte Verbindung mit Bürgerinitiativen/schwarzen Bürgerrechtsgruppen, Wohngebietsgruppen, Frauengruppen. Beteiligung der lokalen Gewerkschaften an Kommunalwahlen, lokalen Kampagnen. Selbständige Vernetzung von lokalen Basisgruppen ohne Beaufsichtigung durch den Apparat.)

Die Alternative: Exklusive Solidarität und neuer Sozialdarwinismus

Zu dieser Entwicklungslinie der inklusiven Solidarität und der Erhöhung der eigenen Bewegungsfähigkeit gibt es nun eine klare – und wie ich finde schlechte – Alternative: Exklusive Solidarität als nationaler Standortkorporatismus. Die ideologische Grundlage ist ein neuer Sozialdarwinismus, eine neue Ideologie der Rechtfertigung von Ungleichheit. Führende, wortführende Vertreter dieser Ideologie sind nicht nur Konservative und Neoliberale, sondern auch Sozialdemokraten in führenden Regierungsämtern, z.B. der Vorsitzende der SPD, zugleich Bundeskanzler, und ihr stellvertretender Vorsitzender, zugleich Ministerpräsident dieses Landes.

Ich beginne mit einem Zitat Ihres Ministerpräsidenten Wolfgang Clement:

Moderne soziale Marktwirtschaften (...) können die Chancen auf Gleichheit erhöhen, ohne jedoch Gleichheit im Ergebnis zu sichern oder zu versprechen.

Diese Form von begrenzter Ungleichheit im Ergebnis kann sehr wohl auch ein Katalysator sein für individuelle als auch für gesellschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten. Sie kann damit auch dem Anspruch dienen, ein realistisches Mehr an Gerechtigkeit zu schaffen. Ich glaube, dies ist der archimedische Punkt in der sozialdemokratischen Programmdebatte in Europa. (Ref. in Berlin am 26.4.2000)

Das ist wahr: An diesem archimedischen Punkt verabschiedet sich die deutsche Sozialdemokratie von ihrer traditionellen Idee, "Gerechtigkeit durch eine Verringerung sozialer Ungleichheit zu erreichen" [6]. Vielmehr soll der Staat soziale Ungleichheit fördern oder doch zulassen, um dadurch Marktkräfte zu stimulieren, die dann wieder für mehr Wachstum sorgen, das dann irgendwie allen zugute kommt. Die Idee ist alt und platt und marktliberal und diente schon immer zur Verteidigung von Herrschaft und Großeigentum, das einzig Neue ist, dass Sozialdemokraten (und Grüne) sie jetzt nachbeten und dafür als originelle Vordenker gelobt werden. Eigentlich wird hier nur die Selbstverständlichkeit ausgesprochen, dass der Kapitalismus ohne permanent reproduzierte Ungleichheit nicht funktionieren kann. Sozialdemokraten haben dies in ihrer Frühzeit kritisiert und bekämpft, dann haben sie einen Kompromissfrieden mit dem Kapitalismus geschlossen, der die Minderung von Ungleichheit durch Sozialstaat und Gewerkschaften ermöglichte. Unter Schröder und Clement aber bricht eine neue Epoche heran: Sozialdemokratie als aktive Förderung von Ungleichheit. (Eliteförderung ist z.B. auch ein Hauptziel in der Schulpolitik von Steffen Reiche, Bildungsminister in Brandenburg, oder in der Hochschulpolitik von Edelgard Bulmahn, die auf eine selektive Trennung von Massen- und Elitenstudiengängen hinausläuft.)

Aber, so werden Sie vielleicht fragen, ist der Vorwurf des Sozialdarwinismus gegenüber dieser Politik nicht doch etwas übertrieben? Geht es wirklich um die Rechtfertigung des "survival of the fittest"? Soll wirklich derjenige, der ohnehin stärker ist, nun auch noch das moralisch-politische Recht zugesprochen bekommen, sich um die Schwächeren nicht zu kümmern? Denn das wäre es ja, was man mit Sozialdarwinismus verbindet. Das von Charles Darwin entdeckte biologische Gesetz, dass die Fittesten überleben und die Schwächeren zugrunde gehen, soll auch für die menschliche Spezies und für ihre Gesellschaften gelten, und zwar alternativlos, ohne dass es eine Chance des gegensteuernden sozialen Ausgleichs durch Gerechtigkeit und Solidarität gäbe? Ist es gerecht, den "modernen" Sozialdemokraten à la Schröder, Blair und Clement einen solchen Sozialdarwinismus zu unterstellen?

Ich denke, dass es für diesen zugegebenermaßen harten Vorwurf zwei starke Argumente gibt. Das eine ist die Verbindung von Chancengleichheit und "Ergebnisgleichheit" im Diskurs der neuen Sozialdemokraten über Gerechtigkeit (1). Das andere ist die rein nationalistische Begründung der Schröderschen Wirtschafts- und Sozialpolitik einschließlich des "Bündnisses für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit" (2).

Zu (1):

"In der Vergangenheit wurde die Förderung der sozialen Gerechtigkeit manchmal mit der Forderung nach Gleichheit im Ergebnis verwechselt." (Schröder/Blair-Papier vom 8.6.99, zit. nach Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 7/99, S.888). "Für unsere Gesellschaften besteht der Imperativ der sozialen Gerechtigkeit aus mehr als der Verteilung von Geld. Unser Ziel ist die Ausweitung von Chancengleichheit ..." (ebd., S.894). "Die Menschen verlangen zu Recht nach (...) Solidarität für alle, die Hilfe brauchen – aber auch nach Fairness gegenüber denen, die das bezahlen." (ebd.)

Soweit Gerhard Schröder und Tony Blair, die modernen Sozialdemokraten und Regierungschefs. Was in diesen Sentenzen von sozialer Gerechtigkeit übrig bleibt, ist pure Chancengleichheit, gewissermaßen als Startgleichheit aller im Kampf aller gegen alle. Wer seine Chancen nicht geschickt genug genutzt hat, ist selber schuld und muss sich mit Almosen zufrieden geben, die von der Güte derer abhängen, "die das bezahlen". Geradezu perfide ist die Entgegensetzung von "Chancengleichheit" und "Ergebnisgleichheit". Chancengleichheit war immer ein liberales und auch ein sozialdemokratisches Prinzip – "Ergebnisgleichheit" aber ist nie von irgendeinem vernünftigen Menschen gefordert und natürlich auch nie irgendwo erreicht worden, selbst im Kambodscha unter pol pot nicht. Das ganze ist also ein Phantom, auf das sich trefflich schießen lässt, um die eigene Position in Nebel zu hüllen. Um darüber hinwegzutäuschen, dass die eigentlichen Gleichheits- und Gerechtigkeitsprobleme ganz woanders liegen.

Sie liegen zum ersten darin, dass die Chancengleichheit aller Bürgerinnen und Bürger im ökonomischen Prozess nicht gegeben ist. Die Anzahl der Arbeiterkinder unter den Studierenden nimmt ab. Studiengebühren und die Trennung in Masse- und Elitestudiengänge werden ein übriges tun. Die Ausgangspunkte sind durch die Vererbung der Vermögen von vornherein äußerst ungleich verteilt. Und das Erbrecht egalitär im Sinne von Chancengleichheit zu reformieren, ist ungefähr das Gegenteil von dem, was Schröder oder Blair wollen. In Deutschland trauten sich Schröder und Eichel und die gesamte SPD ja nicht einmal an die Wiedereinführung der Vermögenssteuer heran. Zum zweiten sagt das Prinzip der Chancengleichheit nichts über den Nutzen und die Wohlfahrt der Beteiligten aus: Auch beim Lotto sind wir alle chancengleich, aber nur wenige gewinnen.

Vernünftigerweise wäre beim Thema Gleichheit und Gerechtigkeit über zwei Themen zu reden, die die "modernen" Sozialdemokraten wie Schröder, Blair, Clement, Hombach, etc. ständig hinwegreden, weil sich dabei Fragen politischer Umverteilung stellen würden. Diese Themen sind Bedarfsgerechtigkeit und Leistungsgerechtigkeit.

· Bedarfsgerechtigkeit: Wieviel Bedarf hat z.B. ein Kind bzw. seine Mutter oder sein Vater und wie gerecht ist es, dass die Gesellschaft diesen Bedarf finanziell oder durch Einrichtungen deckt? Wieviel Bedarf an auskömmlichem Leben will diese Gesellschaft allen ihren Mitgliedern, also auch den zahlreicher werdenden Verlierern des verschärften Wettbewerbs zugestehen, wieviel den Leistungsgeminderten? Gibt es unter dem Schlagwort der "workfare" und "employability" eine Rückkehr der Sozialpolitik zur Disziplinierung der Armen durch Zwangsarbeit?

· Leistungsgerechtigkeit: Wie soll Arbeitsleistung noch in ein "gerechtes" Verhältnis zu Arbeitslohn gebracht werden können, wenn Start-up-Erfolge (und Start-Down-Abstürze) in der hochgelobten "new Economy" von Zufällen oder von Aufmerksamkeitsleistungen eines Hochleistungssportlers oder eines Glücksspielers in kurzen Momenten, in denen Vorsprünge vor Konkurrenten errungen werden, abhängig sind? (vgl. Mahnkopf in PROKLA 121, S. 506)

Resümee zu (1): Wer nur über Chancengleichheit als Startgleichheit reden will, wer dem das Quatschwort "Ergebnisgleichheit" entgegenstellt und sich um Bedarfsgerechtigkeit und Leistungsgerechtigkeit nicht kümmert, verfolgt das inhumane Ziel, die Verlierer des Wettbewerbs für ihr Scheitern selber verantwortlich zu machen. Das nenne ich Sozialdarwinismus: Die Gewinner haben Recht, die Verlierer haben selber schuld.

Zu (2):

Im Konzept des "Bündnisses für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit" ist der National-Darwinismus schon im Namen des Projekts verewigt. Wenn ich es recht sehe, hat die führende Regierungspartei einen Vorsitzenden, der vom Gedanken der Solidarität nur noch den Gedanken des "Bündnisses für nationale Wettbewerbsfähigkeit" aufgreift, also exklusive, gegen die ausländische Konkurrenz gerichtete Solidarität aller deutschen Arbeitnehmer mit dem deutschen Kapital. Unterhalb dieser Solidarität für die Firma Deutschland aber soll es verschärfte Konkurrenz geben.

Dazu kann ich Ihnen drei weitere Zitate aus dem Schröder-Blair-Papier vom 8. Juni 1999 nicht ersparen. Dort heißt es:

Die moderne Welt von Schröder und Blair ist innergesellschaftlich durch die Leistungskonkurrenz wie im Hochleistungssport geprägt. Bei ihr gilt das Prinzip "Winners take all" - die Gewinner bekommen alles, die Verlierer scheiden aus. Kein Wunder, dass die Gewerkschaften als Solidarität stiftende Organisationen in diesem Weltbild keinen Platz mehr haben. Gewerkschaften sollen nicht mehr kollektive Interessen formulieren und vertreten, sondern nach Art von Ombudsmännern dem einzelnen Schutz bieten und mit den Arbeitgebern bei der Gestaltung eines als alternativlos beschriebenen "Wandels" zusammenarbeiten.

Was Schröder hier anbietet, ist mehr internationale und innernationale Ungleichheit und ein Bündnis der Regierung mit den Gewerkschaftsspitzen für eine nationalkapitalistische, exklusive Solidarität mit den Arbeitgebern. Hier gilt es, Deutschland für den Kampf der nationalen Ökonomien auf dem Weltmarkt fit zu machen, weil nur die Fittesten überleben. Was, im internationalen Rahmen, aus den weniger Fitten wird, interessiert nicht.

National und international ist diese Politik sozialdarwinistisch. Bekanntlich wirbt diese Politik um die "neue Mitte" der deutschen Gesellschaft.

"Mitte" der Gesellschaft – das ist auch eine wissenschaftlich gut eingeführte Bezeichnung dafür, woher die rechtsradikale Gewalt und die entsprechende Dummheit und Tumbheit in Deutschland kommt (z.B. Wilhelm Heitmeyer). Moderner Faschismus ist in weiten Teilen Wohlstandschauvinismus: Die Bessergestellten fühlen sich langfristig bedroht und bauen frühzeitig vor. Es ist, s. UNO-Erklärung, aber nicht mehr so leicht wie früher, Menschen wegen Geburt oder Geschlecht oder Rasse für minderwertig zu erklären. Deswegen ist es am besten, man hat eine Ideologie, die diejenigen, die – aus welchen Zufällen auch immer – sowieso verlieren, auch noch zu moralisch gerechtfertigten Verlieren erklärt. Genau dies leistet der Sozialdarwinismus der neoliberalen Marktreligion einschließlich des Projekts der angeblich "modernen" Sozialdemokratie.

Die Gewerkschaften sollten sich so schnell wie möglich von jeder Solidarität zu diesem antisozial und antihuman gewordenen Projekt verabschieden und statt dessen selber politischer werden. Ich denke, dass die Gewerkschaften auch gut daran tun, zur gegenwärtigen sozialdemokratischen und grünen Regierungspolitik eine deutliche Distanz zu wahren. Es ist eben nicht mehr so wie zu Zeiten Willy Brandts, dass hier eine den Gewerkschaften nahestehende Regierung innere Reformen auf den Weg bringen oder mehr Demokratie wagen will.

Ein kleines, aber markantes Beispiel der pervertierten rot-grünen "Reformpolitik" sehe ich in der Aushöhlung des Bildungsurlaubs in Nordrhein-Westfalen. Dort wurde von der rot-grünen Landeskoalition kurz vor den Wahlen des letzten Jahres eine Novellierung des Weiterbildungsgesetzes beschlossen, die den Bildungsurlaubsanspruch von Beschäftigten in Kleinbetrieben ganz aufhebt und den übrigen Arbeitgebern erlaubt, die von ihnen selbst im betrieblichen Interesse organisierte Fortbildung mit zwei von fünf Tagen auf den jährlichen Bildungsurlaubsanspruch ihrer Beschäftigten anzurechnen - was die politische und gewerkschaftliche Bildung für Arbeitnehmer an den Rand drängt. - Ich bin gespannt, wie dieses "Modernisierungs"signal aus dem größten Bundesland in anderen Ländern aufgenommen wird, in denen es noch Bildungsurlaubsgesetze als Produkt der Phase sozialdemokratischer innerer Reformen gibt. Und ich bin gespannt, wann die Gewerkschaften, die in NRW mit wenigen Ausnahmen geschlafen oder mitgespielt haben, sich zur Verteidigung des originär sozialdemokratischen Reformprojekts Bildungsurlaub aufraffen.

Was die rot-grünen Regierungen in Bund und Ländern von ihren konservativen Vorgängern oder Konkurrenten unterscheidet, ist nicht etwa ein Politikwechsel zu mehr sozialer Gerechtigkeit, sondern eine Fähigkeit, für die sie arbeitgeberseitig besonders geschätzt wird: In eine Politik des Abbaus sozialer Rechte und verschärfter Ungleichheit die Gewerkschaften besser einbinden oder doch ihren Widerstand wirksamer neutralisieren zu können als Kohl dies vermochte. Dazu Alfons Frese im Berliner "Tagesspiegel" vom 29.4.2000:

Gerhard Schröder ist Millionen wert, auf längere Sicht sogar Milliarden. Jedenfalls für die deutschen Unternehmen. Schröder hat nämlich im ‘Bündnis für Arbeit’ den Gewerkschaften Fesseln angelegt und dadurch recht bescheidene Lohnabschlüsse ermöglicht. Mit einem Kanzler Kohl hätten sich die Arbeiterführer Zwickel und Schmoldt nicht auf das Bündnis-Spiel zu ihren Ungunsten eingelassen.

Solche Sentenzen hätte man früher nur in linksradikalen Flugblättern gefunden. Heute drücken sie den Triumph der neoliberalen Ideologie in Politik und öffentlicher Meinung aus.

Zusammengefasst: Gewerkschaften, die Gewerkschaften bleiben wollen, sollten der Versuchung widerstehen, sich auf die sozialdarwinistische exklusive Solidarität des Standortkorporatismus einzulassen. Das wäre ein Aufgeben ihrer Werte, insbesondere was Gerechtigkeit und Gleichheit angeht, aber auch was Freiheit betrifft, sofern es um gleiche Freiheit und Partizipation aller und nicht nur der Vermögensbesitzer geht. Es wäre aber auch kurzsichtig und interessenpolitisch langfristig schädlich. Dazu noch ein letztes Zitat, von Reimut Jochimsen, der diesem Land ja lange Jahre Minister und Zentralbankchef war. In einem Vortrag zwei Jahre vor seinem Tod, 1997, hat er ausdrücklich unter Verweis auf die (Rück-)Übertragung von Darwins biologischem Überlebensgesetz auf die Ökonomie davor gewarnt, "schlichtweg und zur Gänze die von der Globalisierung ausgehenden Zwänge anzunehmen" [7] und er fuhr fort: "Würde dies zum Universalrezept aller Volkswirtschaften, so könnte damit zweifellos eine rat race to the bottom ausgelöst werden, jener gnadenlose rattenähnliche Wettlauf um Kosten- und Standardsenkung, bei dem sich durch bloße Anpassung nach unten letztlich ein politischer, ökonomischer und sozialer Ausverkauf einstellt, ohne irgendeine Verteidigungslinie der ökonomischen und sozialen Verantwortlichkeit. Wer würde schließlich zum bottom werden? Wozu würde dann überhaupt noch Politik taugen?" (ebd.)

Gewerkschaften, die Solidarität organisieren, müssen heute wie eh und je die Kraft der derzeit Starken für die derzeit Schwachen und Verlierenden mobilisieren. Sie können nicht im subalternen Co-Management oder in der Dienstleistung und Individualberatung für die kleiner werdende Gruppe der Gewinner ihre Zukunft suchen. Sie, wer wenn nicht sie, müssen dem Rattenrennen national und international Grenzen setzen.

Anmerkungen

1) vgl. z.B. ihr Aufsatz zur "New Economy" in:WSI-Mitteilungen 12/2000
2) Ulrich Klotz: Die Herausforderungen der Neuen Ökonomie, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 10/99, S. 590-608
3) vgl. ÖTV-Hauptverwaltung (verantw. Elisabeth Vogelheim): Projekt: Weiterentwicklung der zentralen Bildungsarbeit: Dokumentation. Lernen - Bildung - Subjekt - Organisation - Politik. Ein Gespräch zwischen Experinnen und Experten im Rahmen der ÖTV-Bildungsdiskussion, Stuttgart 2000
4) Wenn alles zur Ware geworden ist, ist alles aus. Geld kann man nicht essen, Liebe und Freundschaft nicht durch Kalkül ersetzen. Die Parole "Jeder muss sich selbst als Wertpapier begreifen" (Unternehmensberater Reinhard Sprenger in: "Tagesspiegel", 28.12.99, S. 18) beschreibt nicht Fortschritt, sondern das letale Endstadium eines entmenschten Kapitalismus.
5) vgl. Kurt Bayertz: Begriff und Problem der Solidarität, in: ders. (Hg.): Solidarität, Begriff und Problem, Frankfurt/M. 1998, S. 11-53, insbesondere S. 20f.
6) Birgit Mahnkopf: Formel 1 der neuen Sozialdemokratie: Gerechtigkeit durch Ungleichheit. Zur Neuinterpretation der sozialen Frage im globalen Kapitalismus, in: PROKLA 121 (4/2000), S.489-525
7) Reimut Jochimsen: Was bleibt von den Lehren der Nationalökonomie in einer globalen Wirtschaft?, in: Franz Lehner (Hg.): WertSchöpfung, Maßstäbe einer neuen Ökonomie, München und Mering 1999, S.73

Quelle: Labournet Germany