Eylül 2003 / September 2003

Der „schwarze Türke“

Vor dem Berlin-Besuch: Premier Erdogan will die Türkei in die EU führen – und Soldaten in den Irak. Er braucht die Generäle und entmachtet sie doch

Von Michael Thumann

Sie stützen und sie schlagen sich. Recep Tayyip Erdogan und die türkischen Generäle. Der Westen fordert das wacklige Gespann gleich zweimal heraus: Die erste Prüfung kettet Premier und Armee aneinander, die zweite hat sie in eine gallige Machtfehde getrieben.

Die erste Herausforderung kommt aus Amerika. Die Türken sollen, besser heute als morgen, die verlustreiche amerikanische Mission im Irak militärisch unterstützen, von 10000 Soldaten ist die Rede. Der Frontstaat der Nato an der gebirgigen Nordgrenze des Iraks möge mit gutem Beispiel vorangehen (auf das andere zögerliche Nato-Staaten wie Deutschland folgen). Ein heikles Manöver für Premier Erdogan, für das er der hinterhaltlosen Solidarität der Armee bedarf. Denn zwei Drittel aller Türken lehnen einen Irak-Einsatz kategorisch ab, ähnlich wie die Deutschen. Am 2. September trifft Erdogan in Berlin Kanzler Schröder. Worüber sie sprechen werden? Irak und noch mal Irak. Und sonst? Europa.

Von dort kommt die zweite große Herausforderung für Recep Tayyip Erdogan. Die Ansprüche der Europäischen Union haben den Premier in Unfrieden mit den Generälen gestürzt. Die Hürden, welche die EU für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen errichtet hat, können die Türken nur nehmen, wenn sie gehörig Ballast abwerfen. Der größte Klotz: Bis heute hat das Militär einen in westlichen Demokratien undenkbaren Einfluss auf die Politik. Die Generäle begründen ihre Einmischung damit, dass sie die Wacht am Bosporus wider jede islamische Bedrohung seien.

Doch ausgerechnet einem gewendeten Islamisten gelingt es nun, ihre Macht zurückzuschneiden. Erdogan hat ein epochales Reformpaket durchs Parlament gesteuert, das den Nationalen Sicherheitsrat drastisch abwertet. Aus dieser Runde pflegte die Armee die Politik zu gängeln. Künftig darf der Rat nicht mehr anordnen, sondern nur noch „beraten“. Vom August 2004 an wird sein Generalsekretär ein Zivilist sein. Der über alle Maßen wehrhafte kemalistische Staat zieht allmählich die Bajonette zurück.

Ein Bild von Kemal Atatürk, dem legendären Staatsgründer der modernen Türkei, hängt hinter dem Schreibtisch von Recep Tayyip Erdogan. Atatürks Hinterlassenschaft, den von Generälen und Beamten mit Klauen und Aktendeckeln verteidigten säkularen Nationalstaat, baut Erdog˘an um. Das Haus bleibt stehen, es handelt sich um eine Grundrenovierung mit neuen, großen Fenstern nach Westen. Die Baustelle ist zugleich Schauplatz eines verblüffenden Aufstiegs: der des „schwarzen“ Türken Erdogan. Er zeigt dem „weißen“ – sich gern europäisch gerierenden – Establishment, wie Atatürks Erbe und das Europa von heute zusammenpassen können.

Das Spiel des „Imam Beckenbauer“

Erdogan ist einer von unten, einer jener Türken, die im Osmanischen Reich und in der säkularen Türkei stets von hoch oben herab regiert wurden. Ärmer sind sie, religiöser – und erfolgloser als die weißen Türken. Mit Ausnahmen, siehe Erdogan. Geboren ist er in Kasımpasa, dort, wo die kleinen Leute Istanbuls leben. Der Sohn eines zugewanderten Seemanns vom Schwarzen Meer wurde schnell zum richtigen Kasımpasali: Im Straßenstaub verkaufte er Sesamkringel, die Hand mit dem Wechselgeld in der linken Hosentasche. Prellte ihn jemand, zahlte er mit der Faust aus der rechten Hosentasche zurück. Die erste Karriere machte Erdogan auf dem Fußballplatz. Er spielte sich hoch, bis ihn der Istanbuler Spitzenklub Fenerbahçe engagieren wollte. Sie nannten ihn „Imam Beckenbauer“.

Doch dem strenggläubigen Vater gefielen Jung Beckenbauers kurze Hosen nicht. Erdogan, der eine religiöse Schule besucht hatte, warf die Fußballklamotten in die Ecke, studierte Wirtschaft und Politik und trat der Mannschaft der proislamischen Milli-Görüs-Bewegung bei. Dort begann die zweite Karriere. Erdogan durchlebte alle Metamorphosen der islamistischen Bewegung. Das hörte sich dann auch schon mal so an: „Demokratie ist wie eine Straßenbahn, aus der man aussteigt, wenn man sein Ziel erreicht hat.“

Die Wähler machten ihn 1994 zum Bürgermeister von Istanbul. Mit dem Eifer des Anfängers zog er gegen Alkohol zu Felde, ließ spezielle Badestrände für Frauen einrichten, zwang Mädchen und Jungen in getrennte Schulbusse. Die Sitzung des Stadtrats eröffnete er mit einem Koran-Zitat – worauf die Staatsanwaltschaft gegen ihn wegen Beleidigung von Atatürk ermittelte. Weil er ein Gedicht des Nationaldichters Gökalp öffentlich vortrug, verurteilte ihn die säkulare Justiz 1998 gar zu Gefängnishaft.

Dies waren die Jahre seiner jüngsten Verwandlung und der Beginn der dritten Karriere. Erdogans Vollbart war längst zu einem wohlgestutzten Schnauzbart geschrumpft, wie ihn viele moderate Muslime tragen. Die Istanbuler schwärmen von Erdogan nicht als Koran-Kenner, sondern als pragmatischem Modernisierer im Bürgermeisteramt: neue Wasserleitungen, eine Metrolinie, Gasheizungen statt Braunkohleöfen, 600000 neue Bäume in der Stadt. „Wir haben unsere Lektion gelernt: Radikalismus funktioniert nicht in diesem Land“, erklärte Erdogan Anfang 2002 der ZEIT. Vom „politischen Islam“ wollte er nichts mehr wissen. „Ich bin Muslim, doch das ist meine Privatangelegenheit. Der Staat soll gleichen Abstand zu allen Glaubensrichtungen halten.“ Erdogan scheint seinen Frieden mit Atatürk gemacht zu haben.

Seine vor zwei Jahren gegründete Partei soll das Volk, die „schwarzen“ Türken, mit dem säkularen kemalistischen Staat aussöhnen. Die konservative AKP einigt die weitgespreizte Rechte der Türkei, Ex-Islamisten, traditionell gläubige anatolische Händler, liberale Istanbuler Geschäftsleute. Gemeinsam errangen sie im November 2002 einen überwältigenden Wahlsieg. Die Parteizentrale in Ankara gleicht dem Hauptquartier eines internationalen Konzerns. Dieses Bild kennt jeder Türke aus dem Fernsehen: Erdogan, der Arabisch, aber kaum Englisch kann, umgeben von seinen in Amerika, England und Deutschland ausgebildeten Experten. Sie soufflieren, er spricht. Dunkel der Anzug, tief die Stimme, sparsam die Gesten. Mit einem Wort: Charisma.

Das half Erdogan, als er vor wenigen Wochen seine EU-verträglichen Reformpakete schnürte und gegen den Widerstand von Bürokraten und konservativen Generälen durchs Parlament schleuste. Sie bringen mehr Meinungsfreiheit für alle Bürger, insbesondere für Kurden und nichtmuslimische Minderheiten, weniger Kontrolle für das Militär. Ein Antiterrorartikel, der sich eher gegen die Freiheit als gegen den Terror richtete, fällt weg. Filme und Videos müssen nicht mehr von einem General gebilligt werden. Rundfunkstationen dürfen in anderen Sprachen als Türkisch senden, ohne dass die Armee „Separatismus!“ ruft.

Vier-Sterne-Stahlbeißer in Pension

Auch wenn die türkische Bürokratie bei der Durchführung der Reformen kräftig nachtreten wird: Erdogan darf den Augenblick genießen. Die kultur-konservativen Aufsteiger der AKP triumphieren über die autoritär-konservativen Eliten. Kein Premier seit Turgut Özal in den achtziger Jahren war so mächtig. Überläufer im Parlament bescheren Erdogan eine Zweidrittelmehrheit. Die links-kemalistische Opposition lähmt sich mit antikurdischen Ausfällen selbst. Und Erdogans größte Kritiker im Generalstab gehen in Pension. Nichts scheint dem 49-Jährigen zu schaden: weder die aufwändige Hochzeit seines Sohnes mit Diamanten und Brokat noch ein Sturz von einem recht hoch gewachsenen Ross, noch die neue Sonnenbrille, über welche die Presse herzog („Typ Matrix Reloaded“).

Doch die Schönwetterperiode kann schon bald vorbei sein. Erdogan ist entschlossen, nicht nur auf die EU, sondern über den Umweg Bagdad auch auf die Amerikaner zuzugehen. Die haben gerade einen Kredit des Internationalen Währungsfonds abgenickt und wollen noch ein Vorzugsdarlehen von 8,5 Milliarden Dollar drauflegen. Das ist nett von ihnen, aber wie das so ist mit diplomatischen Freundlichkeiten: Nun muss sich Erdogan revanchieren, zum Beispiel mit Soldaten für das brandgefährliche sunnitische Dreieck im Irak, wo jede neue Wasserleitung mit Dynamit begrüßt wird. Erdogan braucht die Generäle als Stütze und muss zugleich die Soldaten schützen. Er schickt Kundschafter los, welche die Irakis für die türkische Präsenz erwärmen sollen. Tenor: Wir sind keine rotgesichtigen, nervösen US-Marines, schon gar keine Besatzer, wir sind muslimische Brüder.

Doch wenn das die Bombenbastler nicht interessiert? Wenn die ersten toten Türken zurückkehren? Wenn es eine Mission ohne Ende wird? Fragen, die sich Erdogan zum ungünstigsten Zeitpunkt stellen könnten: vor den Kommunalwahlen im April 2004. Da geht es um die Macht in Istanbul. Dann kann sich das Militär aussuchen, ob es ihn stützt oder nicht. Die Generäle sind geübt im Schweigen und können Erdogan alle Verantwortung zuschieben. So wie im März, als sie die Entscheidung über eine Teilnahme am Irak-Krieg Erdogan überließen, um ihn so gut wie möglich zu beschädigen. Doch damals intrigierten noch die Vier-Sterne-Stahlbeißer, von denen jetzt viele in den Ruhestand gehen.

Bleibt Erdogan in diesem Ringen obenauf, könnte er gar die vierte Karriere seines Lebens ansteuern. Neulich äußerte er sich anerkennend über das amerikanische Präsidialsystem. Sogleich spekulierten zappelige Kommentatoren über Erdogans Ambitionen auf das Amt des Präsidenten. Atatürks Posten. Will er den? Wenn er je dort säße, hätte der Junge aus Kasımpasa es allen „weißen“ Türken gezeigt.

Aus: DIE ZEIT 28.08.2003 Nr.36