Ekim 2003 / Oktober 2003
Das ungeschützte Sprechen
Adolf Muschg, Präsident der Berliner Akademie der Künste, über die Künste in der Demokratie und die Verschiedenheit Europas
Kurz nach seinem 69. Geburtstag wählte ihn die Berliner Akademie der Künste im Mai zu ihrem Präsidenten. Als Nachfolger des ungarischen Schriftstellerkollegen György Konrád. Ein verspätetes Geburtstagsgeschenk für Muschg war dies ganz sicher nicht, denn dieses Amt ist kein Geschenk. Heute bereits - nach fünf Amtsmonaten - weiß Muschg, dass er mit den 14 Tagen, die er jeden Monat seinem Amt und Berlin geben will, nicht auskommt. In diesem Herbst erschienen bei Suhrkamp unter dem Titel Gehen kann ich allein neue Liebesgeschichten von ihm. Aber ob es auch eine Liebesgeschichte zwischen dem Schriftsteller und der Berliner Akademie wird, muss sich erst beweisen. Literarisch kehrte Muschg in den beinah vierzig Jahren seines Schreibens von Zeit zu Zeit zu Liebesgeschichten ohne Idylle und Happyend zurück. Wäre sein nächstes Buchmanuskript mit Goethe-Aufsätzen nicht bereits fertig, käme 2004 nichts Neues von ihm. Ein wirkliches Geschenk war dann die Entscheidung der Bundeskabinetts auf Vorschlag seiner Kulturstaatsministerin Christina Weiss, die Länder Berlin und Brandenburg von der Finanzierung ihrer Akademie zu entlasten. Ein wirkliches Geschenk zum Siebzigsten könnte die Übergabe des endlich fertiggestellten Akademiebaus am Brandenburger Tor sein - doch ob das Geschenk noch pünktlich kommt?! Am Ende wird es sich hinziehen wie die Einführung der LKW-Maut. Das Haus ist seit einigen Jahren überfällig und hält jetzt bereits für die Stunde der Eröffnung - weil die künftigen Archivkeller nicht schimmelfrei sind - schlechte Schlagzeilen bereit. Aber vielleicht geht alles schneller oder kommt ganz anders.
FREITAG: Bevor Sie Ihr Amt angetreten haben, hat jemand, der nicht täglich an der Akademie vorbeigeht, sie kaum wahrgenommen. Weder als Störer beim Streichkonzert deutscher Kultureinrichtungen noch beim Krieg Amerikas gegen den Irak. Ihr Vorgänger hatte zu diesem Krieg - aus für ihn verständlichen Gründen - eine andere Position als die Mehrheit der deutschen Öffentlichkeit. Deshalb unterblieb die Debatte. - Muss die Akademie wieder vernehmbarer werden?
ADOLF MUSCHG: Das hat begonnen. Ich habe mich der Habermasschen Kerneuropa-Diskussion angeschlossen. Am 31. Mai hat die Akademie laut und vernehmbar verschiedene Meinungen zu Europa gesammelt. Das hat uns gleich Ärger gebracht. Es hieß, wie stellten uns gegen Amerika.
Ich fragte nach der Einmischungsunlust davor...
...es gibt in der Satzung der Akademie diesen merkwürdigen Beratungsauftrag der Regierung, mit dem Zusatz: "in künstlerischen Angelegenheiten". Dahinter steht die Erinnerung, dass sich die Akademie im Jahr 1933 - nicht ohne eigenes Zutun - vom NS-Regime gleichschalten ließ. Auf diese Sorte Einverständnis will der demokratische Staat ausdrücklich verzichten. Mit staatsfrommen Künstlern wäre auch ihm selbst nicht gedient. Aber auch oppositionelle Reflexe unterliegen dem Gesetz der Inflation. Also: was soll die Akademie, wie stellt sie sich öffentlich dar? Soll die Akademie ihre Lautstärke erhöhen, um den Geräuschpegel des laufenden Kulturbetriebs zu durchdringen oder durch den Abstand auffallen, den sie dazu bezieht? Nur: es gibt keine "dröhnenden Stillen". Und doch finde ich den Ratschlag, den wir von intelligenten Zeitgenossen erhalten, bemerkenswert: Zieht euch aus dem öffentlichen Raum in den voröffentlichen zurück. Produziert euer Ding im ungeschützten Gespräch der Mitglieder untereinander, fangt das Neue und noch nie Bedachte auf, das daraus hervorgehen kann. Weil: diese Mitglieder sind internationale Künstler aus sechs Abteilungen der Kultur - von der Baukunst bis zur Filmkunst -, deren Reibung Energie erzeugt, und diese unerwartete Ideen und Konzepte. Dieser intime Dialog ist eine Ressource, der die Akademie Sorge tragen muss. Findet dieser Dialog vor Mikrofonen und Kameras statt, wird er "ausgewogen" oder dient der eigenen Profilierung, da geht ihm jene Qualität verloren. In einer Talkshow herrschen andere Bräuche als in einer "geschützten Werkstatt", wo man für den eigenen Schutz nicht zu sorgen braucht, wo es Wichtigeres gibt als das eigene Profil. Das ungeschützte Sprechen ist aber auch für das öffentliche Handeln kein Luxus.
Die "Rolle" der Akademie darf also nicht von der öffentlichen Erwartung vorfabriziert sein. Für meinen Vorgänger György Konrád war sie durch seine Persönlichkeit und seine Geschichte gegeben: er war Teil der den Ostblock auflösenden subversiven Kraft gewesen und begleitete die politische Osterweiterung mit einem Programm, das sie unter veränderten Bedingungen zur Geltung brachte und für die gemeinsame demokratische Kultur nutzte. Der große Humanist, der ehemalige und auch fortgesetzte Dissident, der ungarische Schriftsteller jüdischer Herkunft: das war eine glückliche Konstellation für die Präsenz der Akademie.
Konrád hat für mich vor allem die Leistung vollbracht, dass nach der Osterweiterung der Akademie unter seinem Vorgänger Walter Jens - ich rede jetzt nicht von Europa, sondern der innerdeutschen - die Akademie durch Harmonie und Arbeitsruhe aufgefallen ist. Ganz sicher ist das eine Leistung von György Konrád und war eine Phase, die stattfinden musste. Persönliche Fehden und Beleidigungen der Mitglieder untereinander haben nicht mehr stattgefunden...
...sie sind entweder an ihm abgeprallt oder die Leute haben sich nicht getraut. Er genoss den Schutz eines Respekts, mit dem man sich in Deutschland auch von der eigenen Geschichte absetzt. Aber auch mit dieser Tatsache wusste er souverän und oft überraschend umzugehen, etwa in seiner Stellungnahme gegen die jetzt ausgeführte Gedenkstätte zur Ermordung der europäischen Juden. Er war deutlich und brauchte darum nicht laut zu werden. Manchmal ist auch Gelassenheit eine kulturelle Errungenschaft. Dass die Vereinigung beider Akademien so kollegial abgelaufen ist, verdankt sich Walter Jens und seinem Gegenpart Heiner Müller. In jener Situation war ausnahmsweise wirklich Ruhe die erste Bürgerpflicht. Heute ist die Forderung nach politischer "Überprüfung" aller Mitglieder des öffentlichen Dienstes und kultureller Institutionen wieder sehr laut geworden. Dieser Lärm dringt auch in die Akademie. Sie begegnete kürzlich in einer großen Zeitung der Frage, warum sie in den neunziger Jahren - unter meinen Vorgängern - die Nachforschungen nach IMs unter den Akademie-Angestellten abgebrochen habe. Es stimmt: wir haben bei Neueinstellungen nicht weiter geschnüffelt. 14 Jahre nach der Wende brauchen wir in unserem Haus keine McCarthy-Stimmung mehr, die Mitarbeiter summarisch und quasi vorsorglich unter Verdacht stellt. Der Tatbeweis loyaler Zusammenarbeit reicht mir für die Glaubwürdigkeit einer Person. Was sie an sich selbst allenfalls zu revidieren hat, steht in ihrer persönlichen Verantwortung, es fällt nicht in die Zuständigkeit eines Amtes.
Sie werden weitere Stasi-Überprüfungen von Akademiemitgliedern ablehnen?
Ich wurde zum Präsidenten der Akademie gewählt, nicht zu ihrem Sittenrichter. Dazu stehe ich, und dafür würde ich auch kämpfen.
Kunst und mit ihr die Kunstakademie stellen Fragen - sie geben keine Antworten. Diese Konsens-Formulierung haben Sie kürzlich in einem Artikel weitergeführt durch die Formulierung: Künstler sind dazu berufen, die gefundenen Antworten wieder in Fragen zu verwandeln. - Das klingt nach geschliffener Sprache eines Schriftstellers, aber damit ist über die künftige Praxis der Akademie nichts Konkretes gesagt. Bei welchen Themen könnten sich solche Grundsätze einlösen?
Ich könnte meinen ganzen Lebenslauf nicht anders beschreiben. Es ist das Poppersche Prinzip: Die Falsifikation als Ablehnung einer Hypothese ist so wichtig wie deren Bestätigung - und gegebenenfalls wichtiger. Wenn etwas meiner Erwartung widerspricht, bekomme ich die Chance, dazu zu lernen und weiter zu kommen. Ein Beispiel massiver Falsifikation, das wir gerade erleben: die Annahme, die amerikanische Demokratie sei die passende, ja die einzig mögliche Antwort auf die Probleme des Irak. Der Krieg, mit dem die Bush-Administration die Probe auf ihre Annahme gemacht hat, brachte keinen Frieden für niemanden: der Hydra des Terrorismus wachsen jeden Tag mehr Köpfe nach, als man ihr abschlagen kann. Antworten, die ohne Fragezeichen operieren, sind nun einmal keine menschengerechten Antworten, auch wenn sie sich lauter Menschlichkeit auf die Fahne schreiben. Nicht nur in der Kunst ist "gut" meist das Gegenteil von "gut gemeint". Noch jede Ideologie ist natürlich die einzige richtige gewesen, und noch keine hat die Gesellschaft humanisiert. Die Ideologie der Freiheit macht keine Ausnahme: es scheint, diese Erfahrung müssen wir noch machen.
Aber die Akademie wird ohne Antworten - auch der Akademie - in der öffentlichen Debatte nicht auskommen...
... es gab einmal in den sechziger Jahren einen Witz: Auf einem Spiegel stand geschrieben: Christus ist die Antwort. - Ein anderer hat dazu gesetzt: Was war die Frage? Dass jemand sich für die Frage interessiert, das ist für mich Europa. Sokrates hat mit dem wirklich radikalen Denken begonnen, wenn er dem anderen zeigte, dass der nichts weiß. Nicht aus Hochmut oder Besserwisserei: aus intellektueller Hochachtung. Nicht-Wissen ist die Voraussetzung für Wissen-Wollen. Ich bin vollkommen überzeugt, dass die schnellen Antworten, die wir jetzt etwa von der Gen-Technologie erwarten - wenn wir das Gen-Alphabet in allen möglichen Kombinationen durchrechnen - bestenfalls eine Grundlage für größere Fragen abgibt. Jedes Wissen vermehrt exponentiell unser Nichtwissen, und nur in diesem Sinn ist unser Wissen grenzenlos. Ich habe den Verdacht, dass frühere Zivilisationen, die wir rasend überholt haben, von viel weniger viel mehr gewusst haben.
Ihr Start im Amt zeigt, dass Sie Ihre Präsidentschaft mit dem Thema Europa verbinden. Europa ist für Sie - das haben Sie bereits deutlich erklärt - der Traum von kultureller Vielheit und einem Kultur-Föderalismus. Wie wird sich diese Vielheit für Europa produktiv erhalten lassen? Die Wirtschaft wird kaum dabei helfen. Sie braucht das Einheitliche, die Globalisierung. Wie können Kunst und Künstler helfen, die Vielheit und das föderale Prinzip zu einem europäischen Grundmuster zu machen?
Ich glaube, auch die Wirtschaft ist eine Fiktion. Die Global Players haben andere Interessen und Strategien als die kleinen und mittleren Betriebe. Von ihnen würden ganze Schichten an der Globalisierung kaputt gehen. Bei den Bauernhöfen angefangen. - Um einmal etwas Nettes über die Schweiz zu sagen: Ich meine, dass die Schweiz im Sandkasten ein Beispiel geliefert hat, wie gut das funktionieren kann, wenn man aus heterogenen Gliedern etwas Ganzes macht - das galt jedenfalls für die Entstehung der modernen Schweiz im 19. Jahrhundert. Appenzell und Genf haben weder Sprache noch Konfession noch Mentalität gemeinsam, und trotzdem haben sie sich zu einem haltbaren Bündnis zusammengeschlossen - verbunden durch gemeinsames Interessen und, was mehr ist - durch gemeinsame Erfahrungen. Warum sollte das in Europa zwischen Estland und Portugal anders gehen? Ich wünsche Europa sehr, dass es die Erfahrung macht, welche die Schweiz ein wenig vergessen hat.
Vielleicht geschah es in der Schweiz als eine Art Wagenburgmentalität, keine Identität im Inneren, nur nach außen?
Im 20. Jahrhundert hat sich die Wagenburg bezahlt gemacht. Da hat man die Grenzen zweimal dicht machen können. Das war eine enorme identitätsbildende Maßnahme. Die älteren Jahrgänge, deren prägende Erinnerung diese Grenzbesetzung war, wollen keine Handbreit ihrer Schweiz hergeben - um so weniger, als sie immer weniger die Ihre ist. Für die war ich ein Nestbeschmutzer, als ich sagte: Öffnet die Grenze! Die Erinnerung daran, dass alles, was gut war an der Schweiz, europäische Ursprünge hat, hat sich aber auch bei den Jüngeren verloren, denn die lesen ja keine Geschichtsbücher mehr. Bei der Gründung des Bundesstaates angefangen, vom Militärwesen bis zum Personal der ersten Universitäten waren es zu einem bestimmenden Anteil Ausländer, demokratische Flüchtlinge aus allen Ländern Europas, die das Fundament der modernen Schweiz gelegt und gefestigt haben. Die Schweiz war im 19. Jahrhundert ja noch ein Entwicklungsland. Diese Art von Offenheit hat sie verloren. Sie ist zu satt und zu selbstgefällig geworden. Aber das ändert sich seit einigen Jahren.
Und wann wird die Schweiz in die EU eintreten?
Das weiß ich nicht. Sie können es an der Börse ablesen. Solange EU-Bänker ihren Schweizer Kollegen zuflüstern: Macht die Dummheit nicht, uns beizutreten! Wir brauchen noch unser Hongkong auf dem Kontinent, eine Wasch- und Verdunkelungsanlage für große Geldbewegungen, solange ändert sich wohl nichts. Erst wenn das Bankgeheimnis mehr kostet, als es bringt, rechne ich mit einem förmlichen EU-Beitritt der Schweiz. Aber unter der Hand findet er natürlich doch statt und ist nicht aufzuhalten.
Was könnte die Akademie leisten, damit die großen und die kleinen Länder, die nördlichen, die westlichen, südlichen und östlichen gleichberechtigt, getragen von einem kulturellen Netzwerk Europa diese Vielstimmigkeit geben? Derzeit hat die Akademie rund ein Drittel nichtdeutsche Mitglieder. Ist das die Chance, durch neue Berufungen europäischer Mitglieder iese Zielstellung zu unterstützen?
Wenn man ernst damit macht, dass die Mitglieder die Ressource einer Akademie sind, dann ist das unsere Chance. Aber die produktivsten Leute haben natürlich Dringenderes zu tun, als nach Berlin zu den Akademiesitzungen zu reisen. Das könnte sich erst ändern, wenn die Mitglieder dort etwas finden, was sie für sich und ihre Arbeit brauchen: nicht nur Ehre, sondern - in bestimmtem Sinn - ein Laboratorium, Inspiration, produktive Verbindungen, freundschaftliche Kontakte über die Grenzen der Sprachen, Kulturen und Künste hinweg. In dieser Hinsicht erwarte ich gerade vom "neuen Europa" im Osten und Südosten viel. Kollegen aus diesen Ländern sind noch nicht saturiert. Es liegt ihnen daran, aus dem Schatten der Geschichte herauszutreten und im Dialog - auch in ihrem Gegensatz und Widerspruch - wahrgenommen zu werden. Wenn dieses Gespräch gelingt, wird das ein Beitrag für Europa sein. Die Länder, die vor dem Irak-Krieg diesen Treue-Brief an Bush geschrieben haben, haben sich unbequem in Erinnerung gebracht. Um so besser: so wird klar, dass Länder und Künstler mit lebenslanger Diktaturerfahrung andere Prioritäten setzen. Diese Differenz bekommt dem europäischen Dialog. In diesem Zusammenhang nehme ich gern das Goethe-Wort auf: "Dulden heißt beleidigen". An die Stelle von "Toleranz" müssen die Neugier, das Interesse, die Provokation treten: das gilt zuerst für eine Akademie. Sie lebt vom zivilen Widerspruch, auch mit sich selbst. In ihren großen und nötigen Debatten fragt sie nicht nach der "Identität", sondern nach dem Anderssein und seinen guten Gründen. Im Falle Polens etwa muss ich zur Kenntnis nehmen, dass die Verbindung von katholischer Frömmigkeit und nationaler Würde untrennbar ist: das ist vielleicht ein Sonderfall in Europa. Aber Europa besteht aus Sonderfällen, und es steht oder fällt mit ihrer Anerkennung.
Ich biete Ihnen drei Begriffe an, von denen Sie sich einen als Beschreibung für Ihre Rolle an der Spitze der Akademie aussuchen können: Hofnarr, Fürstenerzieher, Moderator. - Welche Rolle möchten Sie übernehmen?
Hofnarr! Der Fürst - lies: der Staat - betrachtet sich selbst ja am liebsten als Sonne ohne Makel - wenn er intelligent ist, weiß er, dass es kein Licht ohne Schatten gibt, und dass er eine freie Agentur braucht, die ohne Furcht sagen darf, wo der Schatten liegt. Der Hofnarr ist der Gegenspieler, der für diesen Schatten spricht. Er darf böse sein, ohne dass man ihn dafür anschwärzt oder exkommuniziert. Für mich ist die Akademie ein solcher Gegenspieler - eine unbeugsame Herausforderung an das Spielverständnis der Macht; nur so verdient das Spiel den Namen Kultur.
Das Gespräch führte Michael Hametner
Quelle: Die Wochenzeitung Freitag