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Wenn die Heimat global wird
von Regina Römhild
Katja ist 16 Jahre alt. Sie lebt im Gallusviertel in Frankfurt am Main und geht dort zur Schule. Nach Deutschland kam sie als Tochter russlanddeutscher Aussiedler aus Usbekistan. Viele ihrer Freunde sind "auch Russen", wie sie sagt. In andere Frankfurter Stadtteile, bis in die Region hinein, erstreckt sich das "russische" Netzwerk der Verwandtschaftsbeziehungen, das Geflecht der Cafés und Discotheken, in dem Katja sich bewegt. In ihrem eigenen Viertel und in ihrer Schulklasse hat sie mehr Berührung mit "Türken" und "Jugoslawen". Eine Freundin kommt aus Armenien. Katja legt Wert auf diesen Hinweis, denn die Freundin könnte vom Namen und vom Aussehen her für eine Türkin gehalten werden. Mit Türken aber will Katja angeblich nicht mehr so viel zu tun haben - dabei hat sie ein paar Sätze vorher noch ganz selbstverständlich von den türkischen Jungs in ihrer Clique erzählt.
Katjas Lebenswelt illustriert das, was Kulturanthrophologen die "Transnationalisierung" unserer Gesellschaft nennen. In Lebenswelten wie diese strömen kulturelle Einflüsse aus den unterschiedlichsten Weltregionen ein. Unter spezifischen lokalen Bedingungen verbinden sie sich zu neuartigen Formen des Zusammenlebens. Was dabei herauskommt, ist ein ganz normaler bundesrepublikanischer Alltag. Allerdings: Obwohl tausendfach gelebt, bleibt er doch weitgehend unsichtbar - auch in der gegenwärtigen Debatte über Zuwanderung. Denn Katjas Alltag widerspricht den gängigen Vorstellungen von Integration, vom Zusammenleben in einer Einwanderungsgesellschaft. Dieses Integrationsgebot sieht nämlich vor, dass sich die Zuwanderer in eine bestehende deutsche Kulturlandschaft einzugliedern haben. Sich wie Katja in einem Migrantennetzwerk zu bewegen, die Freizeit in "ethnischen", das heißt nicht von Deutschen frequentierten - Clubs und Vereinen zu verbringen gilt als Ausdruck fehlenden Integrationswillens, wenn nicht gar als böswillige Verweigerungshaltung. Hingegen wird die Eingliederung als gelungen betrachtet, wenn sich Migranten eindeutig auf ihre deutsche Heimat festlegen.
Aber eine Idee von Heimat, die von den vielfältigen globalisierten Beziehungen absieht, ist eine Fiktion. Die Wirklichkeit in Städten wie Frankfurt, Offenbach, München oder Stuttgart, in denen ein Drittel der Bevölkerung keinen deutschen Pass besitzt, spricht eine andere Sprache. Die meisten Jugendlichen, mit denen Katja in Schule und Freizeit zusammenkommt, stammen wie sie aus Migrantenfamilien. Manche sind hier geboren, andere als Kinder mit ihren Eltern eingewandert. Katja verbringt ihre Freizeit am liebsten in "jugoslawischen" Cafés und "russischen" Clubs. Sie fühlt sich wohl im Gallus, auch wenn es ihr in Höchst, wo sie vorher gewoht hat, noch besser gefallen hat: Hier gab es mehr russische Treffpunkte, war insgesamt mehr los. Beide Stadtteile sind ehemalige Arbeiterviertel, in denen heute viele Migranten wohnen. Katjas Erfahrungshintergrund, ihre Herkunft aus einer Einwandererfamilie wird hier als ganz normal empfunden. Dass die Deutschen per Geburt in der Bundesrepublik eigentlich die Mehrheit stellen, fällt in diesem Umfeld kaum auf. Aus dieser Sicht erscheint eher Katjas Klassenkameradin Anika als Ausnahme: Sie ist als Deutsche in Deutschland geboren. Wenn es mit ihr Streit gibt, wird Anika schon mal "Kartoffel" genannt.
In den Beziehungen der Jugendlichen untereinander spielt die Zuordnung nach Nationalitäten durchaus eine Rolle - schließlich will man sich ja von anderen unterscheiden. Doch man trifft sich auf der Ebene vergleichbarer Erfahrungen wieder: Die Herkunftsländer sind verschieden, doch gemeinsam ist die Migrantengeschichte, mit der sich alle auf ihre jeweils eigene Weise auseinander setzen.
Katja war in diesem Jahr in Usbekistan. Sie hat sich gefreut, ihren Großvater wiederzusehen. Aber dem dortigen Dorfleben kann sie jetzt nicht mehr viel abgewinnen. Sie schätzt die Freiräume, die sich ihr in der Großstadt Frankfurt bieten. Die Situation der Jugendlichen in Usbekistan fand Katja deprimierend. Eine Rückkehr dorthin schließt sie, fürs Erste jedenfalls, aus. Sie hat andere Pläne: Nach der mittleren Reife möchte sie eine Ausbildung als Arzthelferin machen. Katja sieht ihre Zukunft hier, in einem Deutschland, das sie mit vielen anderen teilt, die ähnliche Welterfahrungen gemacht haben.
Ohne diese neuen Erfahrungsräume zu würdigen, wird Integration von offizieller Seite jedoch noch immer als "kulturelle und soziale Annäherung von Zuwanderern und einheimischen Deutschen und als Angleichung ihrer Lebenslagen" definiert. So ist es in einer kürzlich veröffentlichten Studie zum Stand der Integration in Frankfurt am Main einmal mehr nachzulesen. Das Gallusviertel, in dem Katja wohnt, schneidet in dieser Untersuchung gut ab: Hier seien die Zuwanderer schon weitgehend "in die alltäglichen sozialen Verkehrskreise alteingesessener deutscher Stadtteilbewohner eingebunden". Doch wenn Katja "integriert" ist, dann eher in einen Mikrokosmos der Einwanderungsgesellschaft, wie er inzwischen für unsere Städte typisch ist. Der Kulturwissenschaftler Mark Terkessidis spricht in diesem Zusammenhang von "Selbsteingliederung": Gemeint sind die Anstrengungen von Migranten, die sich ihren Platz in dieser Gesellschaft selbstständig suchen müssen und ihre Lebenswelt kreativ gestalten. Diese Strategien der Selbsteingliederung beinhalten aber nicht nur eine Auseinandersetzung mit den Lebensgewohnheiten der alteingesessenen Deutschen. Es geht dabei auch um die Verständigung zwischen Einwanderern verschiedener Nationalität.
Einheimische Deutsche auf der einen, nicht-deutsche Einwanderer auf der anderen Seite: Bildet das die Wirklichkeit, in der wir leben, noch zureichend ab? Katja kam als Aussiedlerkind nach Deutschland; sie und ihre Eltern sind damit rechtlich Deutsche, mit deutscher Staatsangehörigkeit, mit deutschem Pass. Aber Katja zählt sich zu den "Russen" in Deutschland, sie sieht sich als Migrantin wie viele andere auch. Viele ihrer Schulkameraden sind hier geboren, gelten aber noch immer als "Türken" oder "Jugoslawen" - ein Fremdbild, das sich zum Teil durchaus mit ihrem Selbstbild deckt, auch wenn viele vom neuen Staatsbürgerschaftsrecht Gebrauch machten und jetzt ihrem Pass nach Deutsche sind. So verwischen sich die Grenzen, durchdringen sich die scheinbar eindeutigen Kategorien gegenseitig. Auf der Seite der Deutschen finden sich viele Menschen mit Migrationserfahrung: Aussiedler, eingebürgerte Ausländer, mobile Deutsche, die beruflich oder privat viel Zeit im Ausland verbringen. Auf der Seite der "Einwanderer" gibt es dagegen viele Angehörige von Familien, die schon seit zwei oder drei Generationen hier leben. Sie sind ein fester Bestandteil unserer Gesellschaft, die sie als Schüler, Studenten, als Arbeitnehmer, Unternehmer, als Politiker und Künstler aktiv mitgestalten.
Dagegen nimmt die Zahl der sesshaften Deutschen kontinuierlich ab - jene nationale Mehrheit also, auf die sich das Integrationsideal noch immer bezieht. Aber immer weniger Menschen werden in Zukunft ihr ganzes Leben dort verbringen, wo sie geboren wurden. Und noch die Sesshaftesten werden erleben, dass sich die Welt um sie herum unaufhaltsam verändert; dass die Welt zu ihnen nach Hause kommt, auch wenn sie selbst sich nicht vom Fleck bewegen. Die Salsa-Szene oder die esoterischen Netzwerke in den Städten sind Beispiele für die Entwicklung neuer kultureller Marktplätze, in denen sich auch Deutsche gemeinsam mit Nicht- oder Semideutschen aktiv an der Globalisierung ihrer Lebenswelten beteiligen.
Wir leben längst in einer globalisierten Gesellschaft, und zwar nicht nur im wirtschaftlichen, sondern auch im kulturellen Sinn. Migration ist eine der Ursachen dafür. Mit ihr werden Menschen, Dinge und Ideen mobil. Fremden zu begegnen und mit ihnen umzugehen ist eine alltägliche Erfahrung geworden. Nur: In die Theorien darüber und in die Vorstellungen, die wir uns davon machen, hat diese Alltagserfahrung noch nicht genügend Eingang gefunden. Migration, so glaubt man noch immer, verändere nur die Lebenswelt und die Biografie der Migranten, nicht aber der daran beteiligten Gesellschaften insgesamt. Nationalstaaten wie Deutschland verstehen sich, so ein Bild des Migrationsforschers Ludger Pries, als "Behälter", die Menschen und Kulturen zusammenhalten müssen. Bewegungen zwischen den einzelnen Behältern werden folgerichtig als Störung dieses Ordnungssystems aufgefasst. Der angestrebte Ruhezustand ist erst wieder erreicht, wenn das Bewegliche am neuen Ort fest eingefügt - "integriert" - wurde.
Doch schon die Geschichte der "Gastarbeiter" in Deutschland hat gezeigt, dass Menschen eigene Migrationsprojekte entwickeln, die von Nationalstaaten nur bedingt kontrollierbar sind. Die Arbeitsmigranten der ersten Generation, die hier blieben, brachen die Brücken zur alten Heimat keineswegs ab, sondern hielten die familiären, sozialen und ökonomischen Beziehungen aufrecht. Internationale Migration schafft immer auch neue Verbindungen zwischen Ländern und Kulturen, macht die gedachten Behälter der Nationalstaaten durchlässig. So haben die "Gastarbeiter" durch ihre "transnationalen" Netzwerke Modernisierungsentwicklungen der europäischen Peripherie in Gang gesetzt. Sie haben damit eine grenzüberschreitende Europäisierung "von unten" vorangetrieben.
In der Nationalstaatslogik gilt ein Leben mit zwei - oder gar mehr - Heimaten als Problemfall. Mehrstaatlichkeit erzeuge im Individuum ein Spannungsverhältnis, das nach der einen oder anderen Seite aufgelöst werden müsse. Vor allem Migrantenkinder betrachtet man als "Zwischenweltler", die an einer Identitätskrise litten, weil sie ihre kulturellen Wurzeln verloren hätten und nun nicht mehr wüssten, wo sie hingehören. Ganze Sparten der Sozialarbeit, der Ausländer- und später der interkulturellen Pädagogik bemühten sich, den Menschen aus diesem gleichsam pathologischen Zustand herauszuhelfen, ihnen zu einer neuen kulturellen Verwurzelung in Deutschland zu verhelfen. So als seien Fragen der Identität mit einer Entweder-oder-Entscheidung zu beantworten.
Eine ethnografische Studie von Sven Sauters trägt den programmatischen Titel Wir sind Frankfurter Türken. So beschreiben Jugendliche der zweiten Einwanderergeneration ihre Position im kulturellen Raum, für den die Sprache der Integration keinen Namen hat. Diese deutsch-türkischen Jugendlichen entwickeln eine eigenständige Art des "Türkischseins", die sich nicht auf die ländliche Heimat ihrer Eltern bezieht. Frankfurt am Main ist vielmehr der Ort, von dem aus sie diese Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft führen. Die Stadt Frankfurt ist der Ort, der ihnen diese Auseinandersetzung abfordert - und sie überhaupt erst ermöglicht. Denn Frankfurter Türke zu sein ist ein kollektives Projekt, das als Teil der Jugendkultur erlebt und gelebt wird.
Die Identifikation mit der Stadt findet man in allen Migrationszentren der Republik: in Berlin ebenso wie in Stuttgart, München oder Offenbach. Für Frankfurt ist sie mit Zahlen belegt: Laut der schon genannten Integrationsstudie fühlen sich zwei Drittel der befragten Jugendlichen als Frankfurter, knapp die Hälfte fühlt sich - zum Teil gleichzeitig - dem Herkunftsland der Eltern verbunden, aber noch nicht einmal ein Fünftel identifiziert sich als deutsch. Lässt sich daraus schließen, wie es das Fazit der Studie nahe legt, dass sich "die Mehrheit der Befragten mit der deutschen Aufnahmegesellschaft verbunden" fühlt? Ist die Stadt der kleinste gemeinsame Nenner, der Integration ins Leben der Deutschen ermöglicht - wenn schon nicht auf nationaler, dann doch wenigstens auf lokaler Ebene? Die Frankfurter Türken widersprechen dem: Es ist nicht das deutsche Frankfurt, das sie meinen, nicht die Stadt als Teil der nationalen Republik, sondern die potenziell weltstädtische Metropole, die den sozialen und kulturellen Rahmen für ihre besonderen Lebensentwürfe bietet.
Migration erzeugt kulturelle Pluralisierung. Denn was hier entsteht, ist nicht die Einheitskultur des Global Village. Wenn das Globale mit dem Lokalen in Kontakt tritt, differenzieren sich die Kulturen weiter aus; sie vervielfältigen sich in immer neuen Verknüpfungen. Ayse Caglar und Levent Soysal zeigen einen Ausschnitt davon in ihren Studien zur deutsch-türkischen Jugendkultur in Berlin. Deutsch-türkischer HipHop und Rap werden inzwischen auch von einem deutschen Publikum als musikalische Avantgarde wahrgenommen und goutiert. Die deutsch-türkischen HipHopper wiederum stellen eine Verbindung her zur afroamerikanischen Jugendkultur, die sie für ihre sprachliche und musikalische Selbststilisierung nutzen. Bands wie White Nigger Force geben schon mit ihrem Namen dem Gefühl ihrer Fans Ausdruck, die "Schwarzen von Deutschland" zu sein. Kreuzberg und Brooklyn werden zu Symbolen einer kulturellen Verwandtschaft im globalen Raum.
Gerade die zweite Generation der Einwanderer artikuliert sich inzwischen offensiv und bezieht dabei auch politisch Stellung: Ihre Sprachrohre sind Musiker, Filmemacher und Literaten wie der Schriftsteller Feridun Zaimoglu, der die "Kanak Sprak", den Jargon der Deutsch-Türken, salonfähig gemacht hat, oder die politische Aktionsgruppe Kanak Attak. Sprache und Kultur der "Ghetto-Kids" sind allerdings Teil der kommerzialisierten deutschen Multikultur geworden. Es gibt aber auch andere, weniger spektakuläre Formen solcher kulturellen Globalisierung: Cafés und Clubs, die in den teuren Innenstadtvierteln entstehen, sich also mitten im Mainstream etablieren und dennoch ein fast ausschließlich türkisches Publikum, insbesondere aus der etablierten Mittelschicht, ansprechen. Hier läuft türkischer Pop, wie er auch in Istanbul oder Ankara gespielt wird; die Inneneinrichtung ist urban und modisch gestylt. Hier wird weder das Ghetto inszeniert noch auf arabeske Folklore gesetzt. Imaginärer Bezugsraum dieser Szene ist die urbane Türkei, die als modern und europäisch verstanden wird. Von solchen Orten bekommt das deutsche Publikum wenig mit. Denn die deutsche Multikultur hat andere Institutionen: Der sprichwörtliche "Grieche" mit Suflaki, Sirtaki und Hirtenteppichen an der Wand ist eine solche Einrichtung, in die sich aber kaum je ein Grieche verirrt.
Die kulturelle Praxis der Einwanderungsgesellschaft hält sich weder an die ethnischen Sortiermuster der etablierten Multikultur, noch lässt sie sich in einen interkulturellen Anpassungsdialog zwingen. Kulturen lassen sich weniger denn je in Grenzen und Vorgaben pressen. Sie wandern und verändern sich mit den Menschen.
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