Zaun und Tür

Von Martin Winter

Wer in der EU glaubt, sich an einem Zuwanderungskonzept vorbeimogeln zu können, der provoziert ein Desaster - nicht nur für die Zuwanderer, sondern auch innerhalb Europas, weil Rechtspopulisten starken Aufwind bekämen

Endlich wenden sich die Länder der Europäischen Union einem Problem zu, das ihnen schon lange auf den Fingernägeln brennen sollte: der Zuwanderung. Es geht dabei um das rechte Verhältnis von Tür und Zaun.

Das Elend der Welt klopft immer lauter an Europas Pforten. Wohlstand, soziale Sicherheit und politische Liberalität haben die EU zum bevorzugten Ziel jener Menschen aus Asien, Afrika und Osteuropa gemacht, die auf der Suche nach einem besseren Leben auch gefährliche Schleichwege zu gehen bereit sind. Denn dem Zaun fehlt eine Tür, solange Zuwanderung in die Mitgliedstaaten der EU - von wenigen Ausnahmen abgesehen - illegal ist. Auf dem Migrationsmarkt geht es darum zu wie im Drogenhandel: Kriminelle haben die Sache in die Hand genommen. Menschenschmuggler machen ein Milliardengeschäft. Aber auch ein mörderisches. Tausende verlieren auf dem Weg nach Europa ihr Leben.

Will es seine Werte nicht verraten, muss Europa diesem Zustand ein Ende setzen. Das ist eine moralische Verpflichtung. Aber es muss auch aus eigenem Interesse getan werden. Denn Europas offene Demokratien geraten in Gefahr, wenn in ihnen Schattengesellschaften von Illegalen entstehen. Die Folgen solcher Entwicklungen kann man am Beispiel von Chinatown in New York studieren. Hinter der exotischen Fassade herrschen Sklaverei und die Gesetze der Unterwelt.

Die Demokratien sind aber noch auf eine andere Weise gefährdet. Wird das Problem nicht gelöst, dann gerät es zum Nährboden rechtspopulistischer Bewegungen. Was daraus werden kann, ist in Österreich, Italien, Portugal, Dänemark und nun auch in den einst toleranten Niederlanden zu besichtigen. Es ist also höchste Zeit, etwas zu tun. Die Absicht der Staats- und Regierungschefs der EU, auf ihrem heutigen Gipfel in Sevilla entschiedene Schritte gegen die illegale Einwanderung zu beschließen, greift aber zu kurz.

Der Kern des Problems ist nämlich nicht die illegale Zuwanderung, sondern das Fehlen eines europäischen Zuwanderungskonzeptes. Das ist von allen Regierungen verschlampt worden, obwohl man sich vor drei Jahren versprochen hatte, eines auf die Beine zu stellen. Nur wenn es klare Regeln und jährliche Quoten für die legale Einwanderung gibt, kann der illegale Zustrom verringert werden. Wer sich für eine gesetzmäßige Einwanderung bewerben kann, der wird nicht so schnell den Weg in die Illegalität gehen. Und politisch können harte Abwehrmaßnahmen erst dann gerechtfertigt werden, wenn es legale Einwanderung gibt. Wenn der Zaun auch eine Tür bekommen hat.

So schwierig sollte das nicht sein. Im Prinzip sind sich die EU-Staaten ja einig, dass sie schon allein aus wirtschaftlichen Gründen Zuwanderung brauchen. Die Schwierigkeit liegt im "wie viel" und "wer". Denn um eines darf sich niemand herumlügen: Ein dicht besiedelter Kontinent wie Europa kann nicht beliebig viele Menschen aufnehmen. Die Regierungen müssen ehrlich sein und sagen, was geht und was nicht.

Zu einem vernünftigen Zuwanderungskonzept gehören neben Tür und Zaun aber noch zweierlei: Abschreckung und das Verriegeln der Hintertüren. Erstens darf sich Menschenschmuggel nicht mehr lohnen. Er sollte als Kapitalverbrechen behandelt und verfolgt werden. Zweitens muss die EU unmissverständlich klarlegen, dass Asylbewerber und Kriegsflüchtlinge ungeachtet ihrer Zahl weiter Schutz in Europa genießen. Aber auch, dass weder Asyl noch Flucht ein Hintereingang zur Zuwanderung sind. Wird dieser Weg nicht versperrt, dann werden die Schlepper ihn bald systematisch nutzen. Zum Schaden der wirklich Verfolgten.

Angesichts der Debatte über illegale Einwanderung fürchten manche, dass sich Europa zu einer Festung macht. Emotional ist diese Furcht verständlich, aber sachlich fehlt ihr die Basis. Zum einen nämlich sind die Abertausende von Grenzkilometern der EU zu Lande und zu Wasser gar nicht richtig dichtzumachen. Das ist schon physisch unmöglich. Zum anderen gibt es ja durchaus einen Konsens in der EU, eine positive Zuwanderungspolitik auf die Beine zu stellen. Die Regierungen müssten nur mal kräftig daran erinnert werden. Sehr kräftig. Denn natürlich stehen sie in der Versuchung, mit Polizeioperationen gegen illegale Einwanderer beim Wähler zu punkten, anstatt sich dem mühsamen und kontroversen Geschäft eines Zuwanderungskonzeptes zu widmen. Das Gewürge um das deutsche Zuwanderungsgesetz hat den europäischen Partnern nicht gerade Appetit gemacht.

Wer in der EU aber glaubt, dass er sich an einem Zuwanderungskonzept vorbeimogeln kann, der provoziert ein Desaster. Verstärken die Regierungschefs in Sevilla nur den Zaun, dann werden die Schleuser neue und noch gefährlichere Schlupflöcher suchen. Das wird den Rechtspopulisten kräftig Aufwind geben und sie bis in die Mitte der Gesellschaft tragen. Dann wird es bald nicht mehr genug Regierungen in Europa geben, die auf die Vernunft geregelter Zuwanderung setzen. Bitter für die Zuwanderer, bitter aber auch für Europa.

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