"Die anderen 500"
Von Luiz Inácio Lula da Silva
(Brasilia, April 2000, alai-Poonal).- Die brasilianische Gesellschaft sieht sich zwei Visionen über die 500 Jahre unseres Landes gegenüber. Eine offizielle, völlig denkmalträchtige, die von fast allen
Kommunikationsmedien unterstützt und gefördert wird. Die andere, alternative, kritische, welcher repräsentative Organisationen der Indios, der Schwarzen, der Landlosen, der Frauen, der Gewerkschafter sowie Nicht-Regierungsorganisationen und politische Parteien vorstehen.
Was lernen unsere Kinder in der Schule über die Geschichte Brasiliens? Beispielsweise lernen sie, dass die Indios faul waren und die Portugiesen deswegen Sklaven aus Afrika zum Arbeiten in Brasilien
importierten. Zwei große Lügen, geschaffen von den Kolonialherren und verbreitet bis heute.
Die Indios leisteten in ihrer großen Mehrheit der portugiesischen Herrschaft Widerstand. Sie unterwarfen sich nicht der Sklaverei und wurden bekriegt. Die Schwarzen waren freie Menschen in Afrika. Militärisch geschlagen, wurden sie gefangen genommen, aus ihrer Heimat entführt und in Ketten hergebracht, um in Brasilien zu arbeiten und zu sterben.
Ich pflege mit dem Hinweis auf einige Historiker zu sagen, dass die Portugiesen während unserer Kolonisierung kompetent waren: sie schafften es, das Land mit einer einzigen Sprache geeint zu halten; sie bauten Militärlager an allen wichtigen Flussmündungen dieses weiten Küstenstreifens; und sie verhinderten die Universitätsgründungen in unserem Land, um das Volk in Unwissenheit und unsere Kultur in Abhängigkeit von der europäischen zu halten. Das alles war für die portugiesische Herrschaft eindeutig sehr gut.
Die Regierung will das Ereignis der 500 Jahre mit einer Atmosphäre der brasilianischen Fußballmannschaft umgeben, eines "Vaterlandes der Schätze", eines "Brasilien, liebe es oder verlass es". Ein Maximum an Fiesta und ein Minimum an Reflexion.
Die Zerstrittenheit angesichts der Feierlichkeiten ist nicht künstlich. Ein Volk, dass seine Geschichte nicht kennt, ist dazu verdammt, sie unverändert zu lassen.
Der soziale Ausschluss ist ein Kennzeichen dieser 500 Jahre. Der Sklave wurde wie ein einfaches Arbeitsmittel behandelt. Heute verdienen etwa 40 Prozent der Bevölkerung nur 7 Prozent des
Nationaleinkommens, während die 10 Prozent der Reichsten etwa 51 Prozent einbehalten. Das ist die höchste Einkommenskonzentration auf der ganzen Welt.
Darum kümmern sich beispielsweise die Regierenden in keinerlei Weise um die Erhöhung des Mindestlohnes für Millionen Arbeiter und Rentner. So als ob immer noch die Sklavenmentalität vorherrschen würde. Schließlich kann eine Person mit 84 Dollar (151 Reales) Monatseinkommen nicht unbedingt versichern, frei zu sein.
Eine andere Frage, die die Geschichte unseres Volkes spaltet, ist die Gewalt. Kann sich jemand vorstellen, eine Sklavengesellschaft aufrecht zu erhalten, ohne die Gewalt gegen die Sklaven regelmäßig und systematisch anzuwenden? Die Gewalt ist im Laufe der Zeit durch den Staat legitimiert worden: die "Oberen" hatten, wie jeder weiß, immer die Macht über Leben und Tod bezüglich ihrer Angestellten und Diener.
Die große Mehrheit der einfachen Bevölkerung, die in Lagern, in den "Favelas", in den Randbezirken der Städte lebt, wird von der Polizei oder der Sondermilizen mit Feuer und Schwert bekämpft, wenn sie Unzufriedenheit äußert oder den Interessen der Mächtigen widerspricht. Viele, die Macht und Geld in diesem Land haben, tun weiterhin so als ob sie über den Gesetzen und der Justiz stünden.
In unserer Geschichte erscheinen die Volksführer wenig und werden nicht hervorgehoben. Oft werden sie wie Banditen behandelt. Zumbi, Anführer der Quilombos; Sepé Tiaraju, der große Chef der Guaraní; Antonio Conselheiro, Held der Canudos; und so viele andere aus Aufständen wie denen von Cabanadas, Balaiadas und Farroupilhas.
Die große Herausforderung dieser 500 Jahre ist die soziale Ungleichheit. Das Land hat territoriale Einheit, aber keine Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen. Konflikte zu verstecken oder zu leugnen ist immer das Interesse der Herrschenden, nicht das der Beherrschten. Die Konflikte enthüllen gesellschaftliche Unzufriedenheit, wirklichen oder potentiellen Kampf und die Möglichkeit der Veränderung. Wer herrscht und von der Herrschaft profitiert, hat kein Interesse an Veränderung. Das
angemessene Kriterium, um die Regierungen und die Etappen unserer Geschichte zu bewerten, müssten sein: Haben sie dazu beigetragen, die sozialen Ungleichheiten des Landes abzuschaffen oder nicht?
In diesen 500 Jahren hat unser armes Volk - in großer Mehrheit Schwarze, Indios und so viele (andere) sozial Ausgeschlossene - zwar das Recht erobert, seinen Hunger herauszuschreien. Aber das Recht zu essen, hat es noch nicht erobert.
|