Lulas Samba-Revolution
Von Matthias Matussek
Brasilien hat zum ersten Mal einen Sozialisten zum Staatspräsidenten gewählt. Mit Tränen in den Augen gedachte Wahlsieger Luis Ignacio Lula da Silva in dieser Nacht seiner Mutter. Ihr und vielen anderen hätte er diesen Sieg gern geschenkt und die Geschichte erzählt, dass ein barfüßiger Bauernjunge aus Pernambuco, ein Gewerkschafter, ein linker Kämpfer, Einzug hält in den brasilianischen Präsidentenpalast.
Die ersten roten Banner der "Petistas", der Aktivisten der Arbeiterpartei PT, wurden bereits am frühen Nachmittag über dem Strand von Ipanema geschwenkt. Nachdem am frühen Abend dann der Erdrutsch-Sieg von Lula feststand, wurde auch die Copacabana in eine riesige Open-Air-Strand-Disco verwandelt. Da lagen sich dann alle in den Armen und sangen gemeinsam Lulas Wahl-Samba, besonders hier in Rio, dem Bundesstaat, der Lula mit 80 Prozent Zustimmung das landesweit beste Ergebnis beschert hatte.
Doch Lula, der ehemalige Malocher, ist ein Präsident für alle: Über 61,48 Prozent brasilianischen Wähler hatten ihm das Vertrauen geschenkt - insgesamt knapp 52 Millionen Wähler. Einer der ersten Gratulanten war Venezuelas Staatschef Chavez, der Lula "brüderliche" Grüße schickte und mit dem er wahrscheinlich schnellstmöglich an einer südlichen "Achse des Bösen" herumschmieden möchte.
Schneller als Chavez war eigentlich nur das PR-Team von Volkswagen, das dem brasilianischen Volk im Fernsehen in einem opulenten Werbespot zu seiner Wahl gratulierte, noch ohne Namen zu nennen. Doch Volkswagen sieht sich eindeutig als Verkörperung des neuen Lula-Stils - die Zukunft gehört wieder den Malochern und der Industrieproduktion, und nicht diesen Schaumschlägern vom Neuen Markt oder vom Finanzsektor.
Da Lulas Sieg quer durch die Schichten als Sieger feststand, wurde dieser Wahltag von vornherein begangen wie ein Festtag. In Rio zogen die Familien entweder an den Strand oder sie picknickten im Botanischen Garten, wo sie nur noch auf die Höhe von Lulas Wahlsieg tippten.
Selbst die Gangster patzten
Die geradezu tektonische Links-Verschiebung des brasilianischen Riesen, vor wenigen Jahren noch eine Ungeheuerlichkeit, wurde mit einer geradezu stoischen Ruhe begleitet. Alles blieb friedlich. Selbst Rios Gangster hatten es verpatzt - ein großangelegtes Befreiungsunternehmen für die inhaftierten Bosse war im letzten Moment verraten worden. Bemerkenswert an dem Wahlkampf der letzten Monate war vor allem die Fairness, ja, der Zuspruch für Lula in den Medien.
Ganz besonders der Konzern "O Globo" gab sich Mühe. Vor zwölf Jahren noch hatte "Globo" alles mobilisiert, um Lula zu verhindern. Der statt Lula gewählte Präsident Collor wurde nach ganzen elf Monaten wegen Korruptionsskandalen aus dem Amt gejagt.
Man hatte man wohl etwas gutzumachen, und übertrieb dabei ein wenig. "Beginn einer neuen Ära", titelte "O Globo", die Tageszeitung bereits am Wahlmorgen - suggestiver hätte auch Lulas Partei PT selber nicht an die Urnen rufen können.
Der TV-Sender des Konzerns, größter südamerikanischer Produzent von Soap-Operas, hatte im Übrigen längst erkannt, dass Lulas unbeirrter Aufstieg an die Macht genau jener Stoff ist, aus dem die Hoffnungen, ja die Träume eines Volkes gewebt sind. So ging das TV-Magazin "Globo-Journal" vorbereitet in die Nacht. Neben Analysten-Runden und Jubelfeiern zeigte der Sender immer wieder Bilder aus dem Leben des Mannes, der als barfüßiges Bauernkind auf den rissigen, trockenen Böden des Nordostens groß wurde. In Video-Clips die Hütte seiner Tante in Pernambuco, Lehmziegel, Tücher, die die Türen ersetzen, ein bisschen wie "Central Brasil" das alles, und die Erinnerungen der "Tia" an den Jungen, der ein "guter Junge war und immer gelernt hat".
Häftling Nummer 12717
Danach der Umzug nach Sao Paulo - seine Mutter versucht den Mann wieder zu finden, der sie mit acht Kindern hatte sitzen lassen. Dann Lula als junger Mann, der Barrikadenkämpfer mit den hochgekrempelten Ärmeln, ein mächtiger Rumpf, eine mächtige Megaphon-Stimme, ein bärtiger Agitator, der zu zig Tausenden spricht während eines Streiks der Metaller in Sao Paulo, durchaus eine Mutprobe während der Militär-Diktatur.
Prompt war er unter der Nummer 12717 inhaftiert worden. Und nun erinnert sich der Polizist, der ihn hops nahm. Auch er sagt: "Ein Gewerkschafter als Präsident - wer hätte das gedacht". Imponierend die Persistenz des Mannes. Seine Frau hilft ihm, drei schwere Wahlniederlagen zu überstehen, bis er nun beim vierten Anlauf mit der höchsten Quote gewählt wird, mit der je ein brasilianischer Präsident ins Amt gesetzt wird.
Tatsächlich geht die sanfte Samba-Revolution Lulas in beide Richtungen: Er selber ist nach rechts gewandert, und das Volk nach links. Er hat gelernt, dass revolutionäre Phrasen kein Volk satt machen. Und das Volk, dass die Voodoo-Rezepte der neoliberalen Marktwirtschaft immer nur ihren Voodoo-Priestern nützen.
Die Arbeitslosigkeit in Sao Paulo, dem Wirtschaftskraftwerk des Landes, ist in den letzten 20 Jahren der Reformen stetig gewachsen. Ähnlich verheerend sieht es in Rio aus, wo viele Hochschulabsolventen in die so genannten "informellen" Wirtschaft abgetaucht sind: ehemalige Banker und Computerspezialisten, die vom Straßenhandel leben.
Ein Arbeiter im Palast
Und diese nicken, als Lula fast unwirsch wird, als ihm die bange Frage nach den Märkten gestellt wird. Wichtiger als die Finanzwelt sei ihm der produktive Sektor, sagt er. Es gehe darum, Arbeit zu schaffen und die Produktion anzukurbeln. Die Spekulanten würden sich schon wieder beruhigen. Ist es nicht aber absurd, setzt er hinzu, dass die Landeswährung in den letzten Monaten zum Dollar die Hälfte ihres Wertes verloren habe?
An seiner Seite stellt sich der Unternehmer Jose Alencar mit seiner Frau dem Wahlvolk. Ihm, seinem Vize, dankt Lula ganz besonders. "Ohne Ze wäre das nicht möglich gewesen". Erst die Nähe zu Leuten wie Alencar hat dem Mittelstand Vertrauen eingeflößt. Und jenen ganz Armen, die einem "Ungelernten" normalerweise misstrauen und deshalb immer wieder den Ganoven in die Arme laufen. Alencar hat ihn wählbar gemacht. Er hat diese große Schichten übergreifende gesellschaftliche Koalition mitgebildet, auf die sich Lula stützen kann. Und an die er jetzt, in dieser Nacht auf einer Bühne in Sao Paulo, appelliert. "Ich schaffe es nicht alleine", sagt er. "Ich brauche euch, Unternehmer und Arbeiter und Studenten und Beamte - um unser Land neu aufzubauen." Ein gewaltiges Vorhaben, selbst für eine gewaltige Koalition.
Ganz zum Schluss seiner Adresse an die Presse dankt Lula in dieser Nacht Fernando Henrique Cardoso, der noch bis zum Jahresende Brasiliens Präsident ist. "Er hat enorm dazu beigetragen, dass dieser Machtwechsel der reibungsloseste in der Geschichte des Landes wird." Cardoso wird auch vom Wahlverlierer Jose Serra gerühmt für seine Fairness und seine Unparteilichkeit. Und vielleicht ist es das, was als größte Leistung dieses Präsidenten in die Geschichte eingehen wird: Über acht Jahre hinweg hat er den Glauben an die Demokratie gefestigt, im Volk, in den Parteien, in den mächtigen Interessengruppen.
Politik wird heute anders betrieben, als vor seinem Amtsantritt vor acht Jahren. Argumentativer, und wesentlich weniger kriminell. Und die Presse ist hartnäckiger und unbequemer. Korruption wird plötzlich bestraft. Bis zu einem gewissen Grad.
Das ist Cardosos Sieg: Die Wähler, die mit Lula einen grundehrlichen Arbeiter in den Präsidentenpalast gehoben haben, haben gleichzeitig eine ganze Reihe jener Dinosaurier beerdigt, die sich über Gouverneurs- oder Bürgermeister-Wahlen in die Politik hatten zurückzocken wollen, der ehemalige Staatspräsident Collor genauso wie Sao Paulos korrupter Maluf. Nicht, dass Ehrlichkeit in der Politik das A und O wäre. Aber besonders in Lateinamerika ist sie schon mal ein guter Anfang.
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