Als die Griechen frech geworden
Ihr einstiger Streit mit den übermächtigen Römern spiegelt Europas heutige Probleme mit der Weltmacht Amerika
Von Peter Bender
Wie verhalten sich kleine Länder zu einem übermächtigen großen? Wenn sie einem Eroberer erliegen, folgen die alten Geschichten von Aufstand und Befreiung oder Resignation und Unterwerfung. Wenn der übermächtige Große ein Freund und Befreier ist, spalten sich die Gefühle. "Jeder westeuropäische Staatsmann", schrieb Alfred Grosser, "empfindet zwei gegensätzliche Gefühle: Befreiung darüber, dass die USA existieren, und Ärger darüber, dass das Leben und Wohl seiner Mitbürger in großem Maße von den Entscheidungen eines fremden und fernen Präsidenten abhängen."
Das Problem ist zeitlos. Im Frühsommer des Jahres 196 vor Christus strömte alles, was in Griechenland Rang und Namen hatte, in Korinth zusammen, um zu hören, was Rom über Hellas beschlossen hatte. Anderthalb Jahrhunderte lang waren die Griechen von den makedonischen Königen unterdrückt worden, jetzt hatten die Römer den gewalttätigen Philipp V. geschlagen und zum Verzicht auf alle seine griechischen Besitztümer gezwungen. Sie hatten den Krieg im Namen der griechischen Freiheit geführt, aber alle Erfahrung sprach dafür, dass man nur den Herrn wechseln werde.
Mit einem Trompetenstoß gebot der Herold der Versammlung Schweigen und verlas die Botschaft des Senats: "Wir geben Freiheit und Selbstverwaltung, ohne Besatzungen zu lassen und ohne Tributzahlungen zu fordern", dann folgten die Namen der bis dahin makedonisch beherrschten Städte und Völkerschaften. Viele glaubten nicht recht zu hören, der Herold musste seine Botschaft noch einmal verlesen, dann brach, berichtet der Historiker Polybios, "ein derartig ohrenbetäubender Lärm los, dass es unmöglich ist, dem heutigen Leser eine Vorstellung davon zu geben".
Die Römer hielten Wort. Sie regelten die unklaren Verhältnisse in Griechenland und zogen zwei Jahre später ihre Legionen zurück. Sie hatten Frieden geschaffen, aber nur sie konnten diese Ordnung erhalten. Sie mussten Beschützer, Vermittler und Schiedsrichter sein und wurden bald zur letzten, fast alles entscheidenden Instanz. Der Befreier entwickelte sich zum Herrn, die Befreiten entwickelten die gegensätzlichen Gefühle, die Grosser beschrieb.
Zwei Politiker des Achäischen Bundes auf der Peloponnes geben den Gefühlen Ausdruck. Der eine meinte: "In der Politik kommt es auf zweierlei an, auf die Ehre und den Nutzen. Wer die Kraft hat, seine Ehre zu wahren, muss es tun; wer das nicht kann, soll sich bescheiden und auf seinen Vorteil achten. Das eine wie das andere zu verfehlen ist schlechte Politik. Und deren macht sich schuldig, wer zu jedem Befehl bedingungslos Ja sagt, ihn dann aber widerwillig und murrend befolgt. Deshalb gibt es für uns nur zwei Möglichkeiten: Entweder wird bewiesen, dass wir imstande sind, Nein zu sagen, oder aber niemand wagt, das zu behaupten. Dann müssen wir bereitwillig auf alle Wünsche der Römer eingehen."
Der Führer der anderen Partei zog die umgekehrte Konsequenz: "Ich bin nicht so weltfremd, um nicht den Unterschied zwischen der Macht Roms und unserer Macht zu erkennen. Aber jede Übermacht hat von Natur aus die Neigung, immer schärfer jene zu unterdrücken, die ihr unterlegen sind. Was ist da unser Interesse? Sollen wir dieser Neigung nichts entgegensetzen, sie gar noch unterstützen, damit wir möglichst bald nur noch nach der Pfeife der Römer tanzen? Oder ist es im Gegenteil unser Interesse, uns ihnen zu widersetzen, solange wir dazu in der Lage sind? Wir können das, denn wir haben uns als zuverlässige Verbündete der Römer glänzend bewährt!"
Wenn man hier "Amerikaner" statt "Römer" schriebe, hätte man eine aktuelle Diskussion europäischer Politiker über ihr Verhältnis zu Amerika. Die Umstände und die Schwierigkeiten erscheinen vergleichbar. Damals wie heute: Man spricht auf beiden Seiten viel von Freundschaft und hat gegen starke Feinde fest zusammengehalten, Rom und die Achäer gegen die Großmächte Makedonien und Syrien, Amerika und Westeuropa gegen die Sowjetunion. Doch seit die Feinde überwunden sind, spüren die Kleinen immer stärker ihre Abhängigkeit. Römer und Amerikaner bestreiten den Griechen und Europäern nicht deren Selbstständigkeit, die Römer haben nicht einmal Truppen in Griechenland und die Amerikaner nur Truppen in Europa, deren Anwesenheit von den Europäern gewünscht wird. Zwar gibt es Rom-Feindlichkeit, besonders in den armen Volksschichten, und Antiamerikanismus, aber die verantwortlichen Politiker sind sämtlich von der Notwendigkeit des Bündnisses mit Rom und Amerika überzeugt.
Beide jedoch mussten und müssen sich fragen: Was können wir tun, ohne in Rom oder Washington nachfragen zu müssen? Innenpolitisch fast alles, aber außenpolitisch wenig. Der Achäische Bund geriet immer wieder in Konflikt mit Rom, wenn er versuchte, die ganze Peloponnes an den Bund anzuschließen; in seinen Dauerstreit mit Sparta griff der römische Senat stets ein. Die Europäer riskieren und bekommen Konflikte mit Washington, wenn sie mit dem Iran anders umgehen, als es einem "Schurkenstaat" gebührt.
Wann und wie lange kann man nein sagen, wenn der Große etwas will? In Wirtschaftsfragen zweifellos, in zweitrangigen zuweilen, in wesentlichen niemals, und was wesentlich ist, bestimmen Rom und Washington. Manche Griechen empfahlen, römische Anweisungen nicht immer abzuwarten, sondern ihnen gelegentlich schon vorzugreifen, in der Bundesrepublik heißt das "vorauseilender Gehorsam". Andere Griechen meinten, wenn alles Verhandeln und Bitten um Verständnis nichts nützten, müsse man nachgeben, aber nur unter Protest.
Was war zu tun, wenn die Wünsche der Römer nicht mit der Verfassung in Einklang zu bringen waren? Der Stratege (höchste Wahlbeamte) Lykortas meinte, wenn man den Römern klar mache, dass die Achäer ihre Verfassung brechen müssten, um dem Senatsbefehl zu folgen, würden sie einlenken. Die Gegenmeinung war: Weder "Eid noch Gesetz, noch in Stein gehauener Vertrag" dürfe mehr gelten als der Wille der Römer. Das deutsche Grundgesetz verbietet die Todesstrafe. Die Frage lautet darum: Wie weit wird, kann und darf Deutschland Amtshilfe für einen amerikanischen Terroristenprozess leisten, in dem die Todesstrafe droht?
Was geschieht, wenn die Großen einen Krieg führen, der den Kleinen nicht behagt? Als Rom im Jahr 171 gegen den Makedonenkönig Perseus zu Felde zog, plädierte im Achäischen Bund die radikale Rom-Partei für uneingeschränkte Unterstützung, die Mehrheit hingegen für Neutralität und militärische Hilfe nur auf ausdrückliche Anforderung.
Was werden die Europäer tun, wenn Präsident Bush gegen den Irak losschlägt? Schicken sie Soldaten freiwillig oder nur auf Anforderung? Soldaten für den Kampf oder als Wachschutz nach dem Kampf? Bezahlen sie den Krieg und räumen nachher auf, was die Amerikaner zerbombt haben? Verweigerung kann in Isolierung führen, Beflissenheit in Peinlichkeit enden. Rom schickte die zunächst angeforderten 5000 achäischen Soldaten ebenso nach Hause, wie Amerika die angebotene Hilfe der europäischen Nato-Länder für den Afghanistan-Kampf weitgehend ignorierte.
Die Griechen sahen sich damals in der gleichen Schwäche wie die Europäer heute. Panhellenische Einigkeit gab es noch weniger als eine gemeinsame Außenpolitik der Europäischen Union. Umso leichter hatten es die Römer und haben es die Amerikaner, ihre Verbündeten gegeneinander auszuspielen, die Eifrigen zu belohnen und die Widerspenstigen zu bestrafen, die dann sogar im eigenen Lager vielleicht allein stehen.
Oft wurde und wird die Meinungsverschiedenheit, wie man sich zu dem Großen stellen soll, nicht zu Hause ausgetragen, sondern dem Großen zugetragen. Der Achäer Kallikrates forderte Rom unverblümt zur Intervention in Griechenland auf: "Wenn der Senat nur ein Zeichen des Missfallens gibt, werden die Romkritiker sofort umfallen und zur römischen Partei übergehen, aus Angst wird ihnen die Menge folgen." So weit wird Edmund Stoiber nicht gehen, wenn er demnächst nach Amerika fliegt, um dort deutlich zu machen, "dass die Misstöne nicht die gesamte deutsche Gesellschaft repräsentierten". Aber auch er wird den innerdeutschen Zwist vor der Großmacht ausbreiten, über die der Streit geht. Rom und Amerika werden noch stärker und die abhängigen Kleinen noch abhängiger.
Andererseits galt außenpolitisches Auftrumpfen "beim Volk als rühmlicher und ehrenhafter", griechische Politiker nutzten es. Auch Gerhard Schröder wusste, dass ein demonstratives Nein zu einem amerikanischen Irak-Krieg Stimmen bringen werden. In beiden Fällen mischten sich, modern gesprochen, nationale und soziale Gründe. Das Elend in Griechenland wuchs, und die Römer begünstigten nur das Establishment; europäische Kritik an Amerika richtet sich nicht nur gegen die Großmacht, sondern auch gegen die Vormacht des Kapitalismus.
Wenn man Römer und Amerikaner gemeinsam fragen könnte, was sie von alledem halten, würden sie im Chor zunächst die Undankbarkeit der Griechen und Europäer beklagen: Rhodos und Pergamon, würden die Römer sagen, haben uns gegen den wüsten Eroberer Philipp von Makedonien zu Hilfe gerufen, unsere Legionen haben ihn besiegt und den Griechen die Freiheit gegeben, danach sind sie nach Hause gegangen. Kleinasiatische Griechenstädte haben uns dann um Schutz vor dem Imperialisten Antiochos gebeten, wir haben uns nicht damit begnügt, den König aus Europa zu vertreiben, sondern haben ihn bis nach Syrien zurückgejagt und auch in Asien Freiheit geschaffen.
Und Amerika würde argumentieren: England bestürmte uns, ihm gegen Hitler beizustehen, wir haben Europa von der Tyrannei der Nationalsozialisten und Faschisten befreit und dann die Freiheit der Westeuropäer gegen den sowjetischen Kommunismus verteidigt. Wir haben mit einer hundertjährigen Tradition gebrochen, als wir uns dauerhaft militärisch in Europa verpflichteten, die Nato wurde auf Drängen der Westeuropäer gegründet. Auch nach dem Ende der Sowjetunion wünschte nunmehr ganz Europa, dass wir und die Nato blieben. Und im Osten, von Estland bis Bulgarien, stehen sie Schlange, um in die Nato aufgenommen zu werden und amerikanischen Schutz zu erhalten.
Nachdem sie die Undankbarkeit beklagt haben, würden Römer und Amerikaner kühl daran erinnern, dass weder die Griechen noch die Europäer in der Lage waren und sind, ihr eigenes Haus in Ordnung zu halten. Von Pergamon bis Athen reichten sich die Gesandtschaften die Klinke in die Hand, um sich über ihre Nachbarn zu beschweren, ohne Unterlass musste der Senat Beauftragte in den Osten schicken, die dort die ewigen Streitereien schlichteten und sogar Kriege verhinderten oder beendeten. Ohne Rom wäre dort das alte Chaos weitergegangen. Und Amerika? Seine Antwort: Die Europäer haben zwar - mit unserer amerikanischen Nachhilfe - ein respektables Maß an Einigkeit erreicht, aber als auf dem Balkan Zwergvölker übereinander herfielen, waren sie außerstande, dort Ruhe zu schaffen. Wir mussten erst kommen und das Ende von Mord und Vertreibungen erzwingen. An der Art, wie wir das taten, hatten sie dann sofort herumzumäkeln.
Nicht alle Römer und Amerikaner wollten wahrhaben, dass es weniger ihre Liebe zur Freiheit als ihr, wie auch immer verstandenes, Eigeninteresse war, das sie nach Hellas und Europa brachte. Und nicht alle würden zugeben, dass sie zuweilen arrogant auftreten. Aber beide Großmächte würden fragen: Wie soll man gegenüber diesen Leuten nicht arrogant werden? Zu oft werden sie entweder frech oder devot. Frech wie dieser Lykortas, der Rom kurzerhand das Recht absprach, Spartaner gegen achäische Gewaltakte zu schützen, oder devot wie die vielen Parteileute, die flehentlich unsere Hilfe gegen ihre innenpolitischen Feinde erbaten.
Bei "frech" denkt jeder Amerikaner sofort an Charles de Gaulle, der sich einbildete, Paris könne mit Washington von Gleich zu Gleich verkehren. Der die Nato, also Amerika, aus Paris auswies und die Militärorganisation der Allianz verließ, wobei er genau wusste: Im Ernstfall wird Amerika Frankreich schützen. Bei "devot" fallen den USA zuerst die Deutschen ein, die schon auf leise "Zeichen des Missfallens", wie Kallikrates empfahl, ängstlich um gut Wetter baten. Wenn Washington nur ein paar Soldaten abziehen wollte, wurden die Deutschen sofort hysterisch und fragten unablässig, ob Amerika sie noch liebte.
Am Ende entscheidet die Macht. Solange es zu Rom und Amerika noch ein Gegengewicht gab oder zu geben schien, waren beiden Großmächten Grenzen gesetzt. Die Verbündeten wurden gebraucht, und einige konnten sich der Illusion hingeben, zwischen zwei Großen mehr Spielraum zu erhalten. Viele Griechen wünschten, dass sich Makedonien unter König Perseus gegen Rom behaupten und dessen Übermacht einschränken werde. Ähnlich dachte Charles de Gaulle, als er der versammelten Sowjetführung seine Zufriedenheit kundtat, dass Moskau die Übermacht Washingtons in Europa ausgleiche. Die erfreuten Mienen der Zuhörer verdunkelten sich aber, als er hinzufügte, er sei ebenso froh darüber, dass Amerika die Übermacht der Sowjetunion in Europa balanciere.
Rom machte Makedonien ein Ende, die Sowjetunion löste sich selbst auf, Rom und Amerika bleiben die einzigen Weltmächte ihrer Zeit. Rom bestrafte in Griechenland selbst die treuesten Verbündeten, wenn die auch nur vorsichtig versuchten, einen Frieden mit Perseus zu vermitteln. Europäische Amerika-Kritiker müssen keine Deportation befürchten, wie sie zweitausend griechische Politiker erlitten, darunter auch unser Berichterstatter Polybios. Amerika fühlt sich nicht mehr als Hegemon, sondern als Herr, es braucht weder die Verbündeten noch das Bündnis. Sie sollen akklamieren und zur Verfügung stehen, Washington entscheidet, was es von wem für welchen Zweck benötigt.
Gegen die Macht gibt es keine Argumente, sondern nur den Beweis eigener Kraft. Die Griechen hatten im 2. vorchristlichen Jahrhundert keine Chance, auch der stärkste Verfechter der achäischen Unabhängigkeit wusste, "dass einmal für die Griechen die Zeit kommen wird, da sie gezwungen sind, alles zu tun, was ihnen befohlen wird". So war es dann auch, aber in Europa ist es nicht so.
Frankreich ist nicht Athen, England nicht Rhodos, Deutschland nicht Pergamon. Europa ist sehr viel stärker als das alte Griechenland und der Großmacht Amerika wirtschaftlich sogar ebenbürtig. Die Europäer haben die Wahl, die den Griechen versagt blieb. Wenn sie überzeugt bleiben, ohne Amerika in äußere und innere Unsicherheit zu fallen, sollten sie weniger der "Ehre" als dem "Nutzen" folgen und sich ohne "Murren" in die transatlantische Abhängigkeit fügen. Wenn sie den Mut zur wirklichen Selbstständigkeit aufbringen, dürfen sie nicht mehr nach Washington starren, ob sich dort ein "Zeichen des Missfallens" regt.
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