Risse im Gebäude.

In Lateinamerika gerät das neoliberale Modell aus den Fugen

von Simón Ramírez Voltaire

Argentiniens Präsident Duhalde spricht von einem neuen Wirtschaftsmodell und vom Ende der neoliberalen Ära. In Bolivien ist eine gegen den Neoliberalismus gerichtete Opposition mit 28 Prozent im Parlament vertreten. Der venezolanische Präsident Chávez reklamiert die wirtschaftliche Unabhängigkeit eines geeinten Lateinamerikas. Bei den in Brasilien, Ekuador und Uruguay anstehenden Wahlen haben linke Parteien gute Aussichten. Ist der Neoliberalismus in Lateinamerika bankrott?

In der Nacht zum 12.September 1973 brauchte Augusto Pinochet dringend ein Wirtschaftsprogramm. Eiligst wurde der Text einer Gruppe junger chilenischer Ökonomen (den so genannten Chicago-Boys, die bei Milton Friedman in Chicago studiert hatten) um Sergio de Castro vervielfältigt. Einer von ihnen hatte das Manuskript, das noch in der Schreibmaschine gesteckt hatte, den Militärs zugespielt. Am Tag nach dem Militärputsch lag der Plan auf den Schreibtischen aller Generäle, die Regierungsfunktionen übernommen hatten.

Er wurde zum Herzstück der Wirtschaftspolitik der Pinochet-Diktatur und erst 1992 unter dem Titel "El Ladrillo" (Der Ziegelstein) der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Darin war bereits alles ausformuliert, was heute noch zum ABC einer "guten" Regierung gehört: Deregulierung der Märkte und Arbeitsverhältnisse, Dezentralisierung und Privatisierung staatlicher Betriebe, Abbau des "paternalistischen" Sozialstaats, Installierung einer totalen, von äußeren (staatlichen) Einflüssen befreiten Marktwirtschaft mit klaren, automatischen und unpersönlichen Mechanismen der Belohnung und der Strafe. "El Ladrillo" wurde als Programm einer faschistischen Diktatur gegen die kommunistische Bedrohung zum wirtschaftspolitischen Dogma, das heute in der ganzen Welt als Neoliberalismus bekannt und hegemonial geworden ist.1

Lange Zeit galten lateinamerikanische Staaten als Vorbilder für neoliberale Umstrukturierungen, die makroökonomischen Ergebnisse wurden hoch gelobt und die sozialen Folgen verdrängt. Spätestens seit der Krise in Argentinien und Uruguay gerät dieses Bild jedoch ins Wanken. Großkonferenzen, die mehr oder weniger radikal die Ablehnung des Kapitalismus und des Freihandels thematisieren, werden über Lateinamerika verteilt organisiert. So fand im Juli diesen Jahres in Guatemala das Mesoamerikanische Forum gegen den Plan Puebla Panamá (siehe iz3w 263) statt. Im August trafen sich zehntausend ALCA-Gegner2 in Buenos Aires zu einem Sozialforum und bis Ende Oktober finden in der ekuadorianischen Hauptstadt Quito die Kontinentalen Mobilisierungen gegen das ALCA statt.

Serien des Widerstands

Doch nicht nur auf den Gegengipfeln, wo sich soziale Bewegungen, Intellektuelle und reformerische Organisationen treffen, wird über Alternativen zum Neoliberalismus nachgedacht. Auch mit dem erbitterten Widerstand der Bauern-, Indígena- und Arbeitslosengruppen und den gleichzeitigen, parlamentarischen Erfolgen anti-neoliberaler Parteien hat das kapitalistische Herrschaftsgebäude in Lateinamerika Risse bekommen.

In Peru provozierte der geplante Verkauf der staatlichen Stromerzeuger Egasa und Egesur an das belgische Unternehmen Tractebel im Juni diesen Jahres Massenproteste. Die Demonstranten befürchteten Arbeitsplatzverluste und höhere Strompreise. Während der Streiks, Ausschreitungen und Straßenblockaden gab es hunderte Verletzte und zwei Tote. Für eine Woche verhängte Präsident Alejandro Toledo den Notstand für das Departemento Arequipa. Der Innenminister Fernando Rospigliosi und der Chef der staatlichen Privatisierungsbehörde Pro Inversión traten von ihren Ämtern zurück. Rospigliosi sprach sich gegen Privatisierung aus. Die Proteste hatten vorerst Erfolg, die Privatisierung wurde bis auf Weiteres verschoben.

In Ekuador organisieren seit Jahren Indígena- und Bauernorganisationen Demonstrationen und Straßenblockaden gegen die Verschlechterung ihrer Situation. Die Vorgaben des IWF, Preiserhöhungen und die korrupte politische Klasse wurden für die Misere verantwortlich gemacht. Im Januar 2000, als die Regierung den US-Dollar als Währung einführen wollte, waren die Proteste so stark, dass Präsident Jamil Mahuad zurücktreten musste. Seinem Nachfolger Gustavo Noboa gelang es zwar, die Dollarisierung durchzusetzen, die versprochene Stabilität der Preise sowie Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit blieben jedoch aus. Stattdessen wurden ekuadorianische Produkte, auch im Vergleich zu Produkten der USA und Europa, erheblich teurer. Die Einkommen stagnierten, die Inlandsnachfrage wurde abgewürgt.

Im "Krieg ums Wasser" in Bolivien legten Zehntausende im Frühjahr 2000 die Provinzhauptstadt Cochabamba über Monate vollständig lahm. Das Unternehmen Aguas del Tunari, mit dem gerade erst die Wasserversorgung der Region privatisiert worden war, hatte die vertraglich vereinbarten Investitionen nicht aus eigenem Kapital erbringen können und die Preise um 200 Prozent angehoben. Die aufgebrachten und vor Gewalt nicht zurückschreckenden Massen - Indígenas, Bauern, Angestellte, Lehrer, Studierende und Händler - setzten durch, dass die Privatisierung rückgängig gemacht wurde. Seither ist Bolivien nicht mehr zur Ruhe gekommen. Die sehr gut organisierten Koka- sowie die Hochlandbauern blockieren regelmäßig die Verkehrswege des Landes. Sie fordern mehr Rechte für die Indígenas, gerechte Landverteilung und den Erhalt der lebensnotwendigen Kokafelder und wehren sich gegen das neoliberale Projekt. Bei den Parlamentswahlen im Juli 2002 erlangten antineoliberale Parteien insgesamt rund 28 Prozent der Stimmen. Hat sich das Modell erschöpft? - eine Frage, die mittlerweile nicht nur in Bolivien von vielen gestellt wird.

Mobil gegen Konzerne

Den Protestbewegungen in Ekuador, Peru, Bolivien, aber auch in Mexiko (EZLN), Brasilien (MST) und Argentinien (Piqueteros) ist eines gemeinsam: Da es keine Massen von FabrikarbeiterInnen mehr gibt und die ausgebeuteten Schichten nicht mehr in der Produktion intervenieren können, stören sie die Zirkulation, was sich als sehr effektiv erwiesen hat. Es wäre verkehrt, die Proteste als anarchische Armenaufstände und wilde Plünderei anzusehen, wie es einige Medien im Falle Argentiniens nahe legen wollten. In Argentinien wurden nämlich nicht kleine Läden geplündert, sondern transnationale Konzerne wie Wal Mart und Carrefour. Es handelt sich also um spontan-zielgerichtete Aktionen mit klarem Gegner. Sie verlaufen zwar ohne Vorstellung davon, wie es weiter gehen soll, drücken aber eine bewusste Haltung gegen den Neoliberalismus aus. Dabei werden auch Fundamente des Kapitalismus den Bedürfnissen untergeordnet: "Wenn es um das Schicksal der Gesellschaft geht, muss das Privateigentum eben zurückstehen", sagt Luis Caro, Berater mehrerer argentinischer Betriebe, die von den ArbeiterInnen übernommen wurden und nun in der Nationalen Bewegung der Zurückeroberten Betriebe (MNER) mit insgesamt 100 Selbstverwalteten Betrieben organisiert sind.3

Neuer Protektionismus?

Den linken, sich im Aufschwung befindenden Parteien in Ekuador, Bolivien, Venezuela und Brasilien ist ihr starker Basisbezug gemeinsam. In Ekuador, wo am 20. Oktober gewählt wird, setzen die sozialen Bewegungen auf Lucio Gutiérrez, den Kandidaten der Partei Patriotische Bewegung 21. Januar. Er wird von vielen Gewerkschaften und von CONAIE unterstützt, der größten Indígena-Organisation des Landes. Der auf das politische Projekt des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez setzende Gutiérrez könnte einen ähnlichen Erfolg wie Evo Morales von der Bewegung zum Sozialismus (MAS) in Bolivien haben. Die MAS wurde mit 21 Prozent zur zweitstärksten Partei und kündigte eine "Kombination aus parlamentarischen und sozialen Kämpfen" in der Opposition an.

Nach jahrzehntelangem Ausverkauf staatlicher Betriebe, teilweiser Marktöffnung und in nicht seltenen Fällen großem Einfluss der US-Botschafter auf die nationalen Regierungen, ist es in Lateinamerika zumindest ein rhetorisches Muss, verstärkt nationale Interessen zu vertreten. Selbst Duhalde und der Ex-Präsident Jorge Quiroga in Bolivien, beide bisher keine ausgewiesenen Gegner der Weltmarktintegration, schlagen solche Töne an. Letzterer versuchte mit der Anrufung der nationalen Souveränität den Abgang seiner Nationaldemokratischen Aktion (ADN) bei den letzten Wahlen zu verhindern. Ob aus diesen über Länder, Sektoren und Parteien verstreuten Ansätzen ein neuer einzelstaatlicher Protektionismus entsteht, ist jedoch angesichts der "Sachzwänge" und der protektionistisch-integrativen Zwischenlösungen der regionalen Blockbildung (MERCOSUR, Andenpakt, CARICOM) zu bezweifeln.

Im national-protektionistischen Trend befinden sich allerdings nicht nur Ultrarechte und Konservative, sondern auch viele linke Gruppierungen und Parteien. Diese Tendenzen - und gerade der Umstand, dass Linke und Rechte mit dem Thema der nationalen Souveränität bei den Menschen ankommen - sind Resultate der neoliberalen Umverteilung und der dadurch verstärkten sozialen Widersprüche. Sie zeigen zwar das Aufbrechen der ideologischen Hegemonie des Neoliberalismus und der Strukturanpassungsmaßnahmen an, aber auch das drohende Abkippen ins Reaktionäre und Völkische.

Druck gegen den neuen Protektionismus wird auf mehreren Ebenen gemacht: Im April sollte Hugo Chávez - bedeutendster Verfechter eines integrierten Südamerikas - mit Unterstützung der USA weggeputscht werden. Die USA wollen die Umsetzung des ALCA auf 2003 vorziehen und versuchen mit bilateralen Freihandelsabkommen (zuletzt mit der Erneuerung des "Andean Trade Preference Act - ATPA" für Kolumbien, Ekuador, Peru und Bolivien und mit den Bestrebungen zwischen Chile und den USA) die eigenständigen südlichen Integrationsbemühungen zu durchlöchern. Auch die Pläne einer multinationalen Militärintervention in Kolumbien mit Beteiligung Chiles, Argentiniens, Ecuadors, Uruguays und Perus unter US-Führung und mit UNO-Mandat dürfen in diese Richtung interpretiert werden. Im Falle Brasiliens scheint der IWF gegen eine Linksregierung vorbeugen zu wollen. Mit dem kürzlich gewährten 30-Milliarden-Kredit zwingt er das Land schon im Vorfeld der Wahlen in ein vom IWF geschnürtes Korsett.

Ringen um Hegemonie

In Argentinien war es die Mittelschicht gewesen, die das neoliberale Projekt konsensual getragen hatte. Dieser Konsens, den der argentinische Wissenschaftler Alberto Bonnet auch mit "sozialer Disziplinierung" (siehe den nachfolgenden Beitrag) beschreibt, war jedoch angesichts der massiven Krise Ende 2001 nicht mehr aufrecht zu erhalten. Die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse, die Privatisierungen und der Abbau des Sozialsystems waren nur durchsetzbar, solange der Peso mit dem Dollar gleichwertig war und somit den für diese Schichten identifikatorischen Konsum ermöglichte. Als die argentinische Regierung die Bankguthaben einfror, war damit Schluss. In den Augen der Mittelschicht hatte die Bourgoisie ihren Teil des Kontraktes nicht mehr eingehalten.

Sowohl der radikale Widerstand der Ärmsten in Lateinamerika als auch die reformerischen Kräfte, die derzeit Druck auf das neoliberale Projekt ausüben, bedeuten noch keinen grundsätzlichen Wandel. Die Zehntausende, die protestieren, sind eine Minderheit und oftmals weiterhin in alte Loyalitäten verstrickt. Reformideen dagegen wie internationales Insolvenzrecht, stärkere Kontrolle der Finanzmärkte und auch eine stärkere Mecrosur-Integration könnten vielleicht den Status der südlichen Länder graduell verbessern. Diese Ideen sind aber chronisch abhängig von den Stichwortvorgaben des hegemonialen weltpolitischen Diskurses. Ihre Umsetzung würde an seiner strukturellen Herrschaftsförmigkeit nicht viel ändern und sogar zu seiner Modernisierung beitragen. Die Freihandelszone Mercosur z.B. könnte sich mittelfristig sogar als logistischer und ideologischer Wegbereiter des ALCA erweisen.

Die Durchsetzung des Neoliberalismus, dessen historische Marke die Pinochet-Diktatur setzte, folgte keinen mechanischen Zwängen aufgrund von Veränderungen in der Kapitalakkumulation. In Chile musste das Modell gar totalitär und mit heftigster Repression durchgedrückt werden. Das zeigt aber auch an, wie sehr die Hegemonie des ideologisch-ökonomischen Verhältnisses namens "Neoliberalismus" das immer wieder umstrittene Ergebnis gesellschaftlicher Auseinandersetzungen ist. In dieses umkämpfte Feld sind nun verstärkt die vielfältigen antineoliberalen Kräfte Lateinamerikas eingedrungen.

Anmerkungen:

1 De Castro, Sergio (u.a.): "El Ladrillo"-Bases de la política económica del gobierno militar chileno, mit einem Prolog von Sergio de Castro, Editorial Centro de Estudios Públicos, Santiago de Chile 1992.

2 ALCA: Área de Libre Comercio de las Américas (Freihandelszone der Amerikas). Oft wird auch die Bezeichnung Free Trade Area of the Americas (FTAA) verwendet.

3 Vgl. den Bericht von Pablo Stancanelli: "Apropiarse de la fuente de trabajo". In: Le Monde diplomatique / el dipló / Agosto 2002 (Edición Cono Sur).

Simón Ramírez Voltaire ist Mitarbeiter im iz3w.

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