Die Türkei im Umbruch
Für die AKP bietet die Wahl die Chance, sich als Regierungspartei zu bewähren und sich einen festen Platz im politischen Spektrum zu sichern - für die Türkei eröffnet sich mit dem Wahlsieg der AKP die Gelegenheit, den politischen Islam in das politische System zu integrieren und damit zu zähmen
Die Türkei erlebt den radikalsten politischen Umbruch seit dem Ende der Militärdiktatur vor 19 Jahren. Damals waren es die Generale, die mit der Auflösung aller traditionellen Parteien und der Zwangspensionierung der Spitzenpolitiker einen Neuanfang herbeizuführen versuchten. Diesmal sind es die Wähler, die alle etablierten Parlamentsparteien disqualifizierten und damit für völlig veränderte Kräfteverhältnisse in der Nationalversammlung sorgten.
Seinerzeit setzten die Türken ihre Hoffnung auf den Wirtschaftsfachmann Turgut Özal. Er befreite das Land aus dem Korsett des Dirigismus und führte es binnen weniger Jahre in die Marktwirtschaft. Erstmals seit Özals Wahlsieg vor fast zwei Jahrzehnten hat nun mit der AKP, der Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei, wieder eine Partei die absolute Mehrheit der Mandate. Und zum ersten Mal seit der Einführung des Mehrparteiensystems 1946 gibt es im neuen Parlament nur noch zwei Fraktionen. Klare Verhältnisse also.
Sind von der AKP ähnliche Impulse für die Türkei zu erwarten, wie sie damals von der Özal-Regierung ausgingen? Zumindest im Wahlkampf versuchten die AKP-Politiker, diesen Eindruck zu erwecken. Ob das nun ernst gemeint war oder nur ein Täuschungsmanöver, um die Macht zu erschleichen: Jetzt ist die AKP am Zug. Die Partei wird schon bald vor schwierigen Entscheidungen stehen.
Ihren Wahlsieg verdankt sie zwar der Wirtschaftsmisere. Aber diese Krise schränkt zugleich den Handlungsspielraum der neuen Regierung erheblich ein. Zu dem Sanierungskonzept, mit dem sich die abgewählte Koalition bei den Wählern so unbeliebt machte, gibt es keine Alternative. Damit sind für jene Türken, die von der AKP ein Wirtschaftswunder erwarteten, Enttäuschungen bereits programmiert.
Von der neuen Regierung wird aber nicht nur die Fortsetzung der bereits auf den Weg gebrachten Wirtschaftsreformen erwartet. Dringlicher noch ist der bisher kaum in Angriff genommene Umbau des politischen Systems, denn dort liegen die Wurzeln der ökonomischen Dauerkrise. Wie fragwürdig zum Beispiel das türkische Wahlgesetz ist, zeigte sich gerade jetzt. Dass eine Partei für etwa ein Drittel der Wählerstimmen fast zwei Drittel der Parlamentsmandate bekommt, ist absurd. Und dass fast die Hälfte der Wählerstimmen bei der Vergabe der Sitze einfach unter den Tisch fallen, weil sie sich auf kleinere Parteien verteilen, ist ebenso fragwürdig.
Überarbeitungsbedürftig ist aber vor allem das türkische Parteiengesetz. Es verhindert bisher innerparteiliche Demokratie, gibt den Parteivorsitzenden fast unumschränkte Macht und fördert damit Nepotismus und politische Stagnation. Hier liegt der eigentliche Grund für das Scheitern der etablierten Parlamentsparteien. Sie waren unfähig zum inneren Wandel, unfähig und wohl auch nicht willens, die Probleme des Landes zu lösen. Dafür hat die alte Politikerkaste jetzt die Quittung bekommen.
In der innenpolitischen Reformdiskussion muss die Türkei nun aber auch die Frage beantworten, wie sie mit einer Partei wie der AKP, die im politischen Islam wurzelt, umgehen will. Diese Frage richtet sich vor allem an die Militärs, die sich als Wächter über die weltliche Verfassungsordnung verstehen. Auf ihr Betreiben wurden bereits viermal in der Vergangenheit islamische Parteien verboten. Aber nach jedem Verbot kamen die Islamisten unter neuem Namen scheinbar gemäßigt und immer gestärkt in die politische Arena zurück.
Ob der Wahlsieg der AKP einen weiteren Schritt in diesem Läuterungsprozess darstellt oder die geschickt getarnte Machtergreifung religiöser Fanatiker, die ihre wahren Absichten bisher verschleiern, darüber wird in den kommenden Wochen noch viel gestritten werden. Aber um der politischen Stabilität willen ist zu hoffen, dass nun nicht sofort wieder der Ruf nach einem Verbot der AKP ertönt. Eine Zwangsauflösung der Partei würde die Türkei ins politische Chaos stürzen.
Auch den argwöhnischen Militärs sollte man raten, endlich die politische Auseinandersetzung mit den religiösen Kräften zu suchen. Sie ist längst überfällig. Auf seinem Weg nach Westen hat der Republikgründer Atatürk zwar die ohnehin europäisch geprägte intellektuelle Elite, die Wirtschaftsführer und die Streitkräfte mitgenommen. Große Teile seines Volkes aber ließ Atatürk zurück, weil seine Staatsdoktrin die islamische Tradition der Türkei auszublenden und alle Brücken zur Vergangenheit abzubrechen versuchte.
So könnte diese Wahl der Türkei neue Perspektiven eröffnen. Für die AKP bietet sie die Chance, sich als Regierungspartei zu bewähren und sich einen festen Platz im politischen Spektrum zu sichern. Für die Türkei eröffnet sich mit dem Wahlsieg der AKP die Gelegenheit, den politischen Islam, oder was davon noch übrig geblieben ist, endlich in das politische System zu integrieren und damit zu zähmen. Damit würden sich auch die Aussichten auf engere Bindungen der Türkei an die Europäische Union verbessern.
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