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Glaubwürdige EU-Verfechter
von Jürgen Gottschlich
In der Türkei hat ein beispielloses politisches Erdbeben stattgefunden, doch niemand regt sich auf. Es gibt keine Umzüge, keine rivalisierenden Parteianhänger, die aufeinander losgehen, und es gibt keine Panik an der Börse. Im Gegenteil, der Börsenindex schoss nach oben, und die türkische Währung gewann an Wert, obwohl doch nun vermeintliche Islamisten mit absoluter Mehrheit das Land regieren werden.
Es ist so eine Sache mit den Etiketten, und gerade für die jetzt gewählte "Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei", die AK-Partei, fällt es schwer, die richtige Schublade zu finden. Tatsächlich kommt der größte Teil der Parteiaktivisten aus der Tradition des politischen Islam, doch wurde die Partei mit der erklärten Absicht gegründet, der Religion nur noch den Rang eines privaten Bekenntnisses einzuräumen. Die AK-Partei will analog zu den christlich-demokratischen Parteien Westeuropas eine muslimisch-demokratische Partei sein, die das religiöse Bekenntnis ihrer Mitglieder in das säkulare parlamentarische System integriert.
Zwar wurde im Wahlkampf von der Konkurrenz noch versucht, der AK-Partei mit einer Angstkampagne nach dem Motto "Mit denen kommt die Scharia" Stimmen abzujagen. Doch diese Kampagne war bereits in der Wahlnacht vergessen. Geglaubt hat das sowieso kaum jemand, und im Nachhinein geben auch die Gegner zu, dass der Erfolg der Partei und ihres Vorsitzenden Tayyip Erdogan hauptsächlich der dramatischen wirtschaftlichen Krise und nicht dem Bedürfnis nach iranischen Verhältnissen geschuldet ist.
Ein Wechsel war überfällig, und deshalb reagiert die Gesellschaft jetzt so gelassen auf den Umbruch. Dasselbe empfiehlt sich auch für die EU und die Verbündeten der Türkei. Wer glaubt, die Wahlen bedeuteten eine Abwendung von Europa, missversteht die Entwicklungen am Bosporus gründlich. Die AK-Partei hat nicht nur mehrfach erklärt, sie strebe mindestens genauso überzeugt nach Westen wie ihre Vorgänger - sie kann das auch viel glaubwürdiger tun. Denn wenn die AK-Partei ihre Anhänger für die Ziele der EU mobilisiert, dann geht es nicht mehr nur um eine kleine, westlich orientierte Schicht der türkischen Gesellschaft, sondern um die breite anatolische Masse. Und die gilt es schließlich für das Projekt der Moderne zu gewinnen. Mit der AK-Partei könnte erstmals glaubwürdig eine Synthese zwischen islamischer Tradition und westlicher parlamentarischer Demokratie gelingen.
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