Triumph der Protestwähler
Von Christiane Schlötzer
Erstmals wird in der Türkei eine gemäßigt-islamische Partei mit absoluter Mehrheit regieren. Und auf den Oppositionsbänken sitzt ausgerechnet die sozialdemokratische CHP des Republikgründers Kemal Atatürk, die sich diese Macht-Konstellation nur in schlimmsten Albträumen ausgemalt hat. Eine Mehrheit der türkischen Wähler aber hatte genug von den etablierten Kräften und der Selbstbedienung ihrer Eliten. Sie entschied sich für den Protest. Allerdings viele Stimmen fielen wegen der Zehn-Prozent-Hürde unter den Tisch. Dies wirft einen Schatten auf das Wahlergebnis. Über der neuen Regierungspartei stehen zudem dunkle Sturmwolken. Die staatliche Justiz verfolgt die AKP mit einem Verbotsverfahren, und sie lässt ihren charismatischen Führer Tayyip Erdogan nicht ins Parlament. Erdogan wird sich dennoch nicht so leicht aus den Vorzimmern der Macht vertreiben lassen. In der CHP wird er eine harte Opposition finden. Die CHP kann sich dabei auf die Zustimmung jener stützen, die sich vor einer AKP-Regierung fürchten und davor, dass die Partei mit religiöser Basis das Land polarisieren könnte. Der politische Spielraum der neuen Regierung ist begrenzt. Erdogan kann angesichts der ruinierten Staatsfinanzen die Kredite beim Internationalen Währungsfonds nicht kündigen. Auch in der Außenpolitik wird seine AKP keinen neuen Kurs einschlagen. Sie wird den Weg der Türkei in die EU nicht abschneiden, weil auch ihre Wähler von Europa träumen. Die Parteien der EU-Gegner haben es nicht mehr ins Parlament geschafft. (Süddeutsche Zeitung, 4.11.2002)
|
|