Türkische Protestwahl
Ein Mandat für die Errichtung eines islamischen Gottesstaates haben die türkischen Wähler der Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei nicht erteilt
Von Gerd Höhler (Frankfurter Rundschau)
Monatelang klammerte sich der greise, gesundheitlich angeschlagene türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit an sein Amt und ignorierte starrsinnig alle Rücktrittsforderungen. Jetzt haben ihn die Wähler aufs Altenteil geschickt. Doch Ecevit ist nicht der einzige Altpolitiker, der bei dieser Wahl abgestraft wurde. Welche Gesichter sie nicht mehr auf der politischen Bühne sehen wollen, haben die türkischen Wählerinnen und Wähler bei ihrem Urnengang gestern ziemlich deutlich gemacht.
Aber was sie wollen, ist weniger klar. Die Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei verdankt ihren Aufstieg vor allem der Wirtschaftskrise, die Millionen Türken um ihre Jobs und ihre Ersparnisse brachte. Doch die Wurzeln der Partei liegen im politischen Islam. Ihr Vorsitzender Recep Tayyip Erdogan mag für die einen der Hoffnungsträger sein, für andere bleibt er ein rotes Tuch. Noch vor einem Jahrzehnt propagierte er eine "islamische Revolution". Viele nehmen ihm die Wandlung vom feurigen Fundamentalisten zum gemäßigten Reformer nicht ab.
Ob sich die Partei im Wahlkampf nur zahm gab, um die Türken zu täuschen und so an Macht zu kommen, oder ob man ihre Politiker beim Wort nehmen kann, wird sich bald zeigen. Ein Mandat für die Errichtung eines islamischen Gottesstaates jedenfalls haben die türkischen Wähler ihnen aber ganz sicher nicht erteilt. Solche Abenteuer sind auch nicht zu erwarten. Dafür dürften schon die türkischen Militärs sorgen, die als Wächter über die weltliche Verfassungsordnung im Hintergrund stehen.
Von Detlef D. Pries
Wenn Wahlen dazu führen, dass eine Partei, die 35 Prozent der Stimmen erhält, im Parlament 65 Prozent der Sitze belegen kann, während 45 Prozent der Wähler gänzlich ohne Vertretung bleiben, kann man das Wahlsystem schwerlich demokratisch nennen. Allerdings ist dieses Ergebnis der türkischen Parlamentswahlen ganz und gar nicht den Siegern also den Nutznießern dieses Systems anzulasten. Denn sie haben es nicht erfunden.
Wie durchaus auch anderenorts üblich, hatten die Herrschenden der Türkei das Wahlrecht Anfang der 80er Jahre zu ihrem Vorteil gestaltet. Die 10-Prozent-Hürde wurde erdacht, um aufsässige Kurden, Linke (sofern sie sich nicht nur so nennen, sondern es auch sind) und andere unliebsame Kräfte auszuschalten. Lediglich zwei, drei Parteien sollten sich in Parlament und Regierung streiten.
So gesehen, hat das System seinen Zweck erfüllt: Erstmals seit 40 Jahren hat die Türkei nun ein Zwei-Parteien-Parlament. Nur wurde diesmal nahezu allen etablierten Politikern der Stuhl vor die Tür der »Volksvertretung« gesetzt. Und das war kaum im Sinne der Erfinder.
Überraschen durfte das freilich niemanden. Ecevit, Yilmaz, Ciller und Co. haben die Türkei in die tiefste wirtschaftliche Krise der vergangenen 50 Jahre geführt. Es waren vor allem die arbeitslos Gewordenen, die Verarmten, die Betrogenen, die nach neuen, unbelasteten Leuten suchten und sie in der AKP des Tayyip Erdogan gefunden zu haben glauben.
Erdogan rezitierte einst: »Die Minarette sind unsere Bajonette.« Im Namen des politischen Islam vertrat er das »Nationale Heil«, die »Wohlfahrt« und die »Tugend« (alle drei Parteien wurden verboten), bevor er sich auf »Gerechtigkeit und Entwicklung« beschränkte und seither freundliche Worte sogar an EU und IWF richtet. Die Frage bleibt: Sind die Wähler auf einen weiteren »Heilsbringer« hereingefallen? Oder werden sich die »gemäßigten« Islamisten tatsächlich um eine Demokratisierung, um Menschenrechte, ein neues Wahlrecht, um die Sorgen ihrer Wähler kümmern? Die Überraschung steht den Türken wohl noch bevor.
Türkei bleibt auf EU-Kurs
Nach dem Wahltriumph der religiös-konservativen AKP will EU weitere Reformen am Bosporus "genau verfolgen". Bundesregierung sieht positive Signale. Union: Türkei nicht reif für EU-Beitritt
ANKARA/BRÜSSEL afp/dpa/taz Nach dem deutlichen Wahlsieg der religiös-konservativen AK-Partei in der Türkei hat die EU der künftigen Regierung in Ankara ihre Zusammenarbeit angeboten. In einer gestern veröffentlichten Erklärung äußerte die EU-Kommission die Erwartung, "dass die Türkei ihr Eintreten für die Reformen bekräftigt, die für einen Beitritt nötig sind". Die Kommission werde die Fortschritte bei den Reformen "genau verfolgen". Erweiterungskommissar Günter Verheugen sagte, es komme jetzt darauf an, sich auf die Politik und nicht auf die Religion zu konzentrieren.
In den anderen Hauptstädten der EU rief der Wahlausgang unterschiedliche Reaktionen hervor. Die deutsche Bundesregierung erklärte, sie habe die ersten Signale der AKP mit Wohlwollen zur Kenntnis genommen. Zu einer eingehenden Beurteilung müssten aber noch die Regierungsbildung und das Regierungsprogramm abgewartet werden.
Demgegenüber wertete die Opposition das Wählervotum als Beleg dafür, dass die Türkei für einen EU-Beitritt noch nicht reif sei. Die absolute Mehrheit der AKP drohe das Land weiter von der EU zu entfernen, sagte der europapolitische Sprecher der Unionsfraktion, Peter Hintze.
Griechenlands Außenminister George Papandreou kündigte an, den proeuropäischen Kurs der Türkei, seines langjährigen Erzrivalen, unterstützen zu wollen. Demgegenüber gab Frankreichs Exaußenminister Hubert Védrine seine Zurückhaltung auf. "Die Türkei ist kein Land Europas und hat nicht mehr Grund, der Europäischen Union anzugehören, als die EU, Mitglied der Organisation Afrikanischer Einheit zu sein", sagte er der belgischen Zeitung La Libre.
Bereits kurz nach der Wahl hatte der Chef der AKP, Recep Tayyip Erdogan, eine unbedingte Fortsetzung des proeuropäischen Kurses angekündigt. Unklar war gestern, wer neuer Ministerpräsident werden soll. Die AKP werde am Dienstag und Mittwoch zusammenkommen, um über die Nominierung zu entscheiden, sagte Erdogan der Zeitung Milliyet.
Der amtierende Ministerpräsident Bülent Ecevit trag gestern nach der schweren Wahlniederlage zurück. Auf Bitten des Präsidenten Ahmet Necmet Sezer will er aber die Geschäfte bis zur Bildung einer neuen Regierung weiterführen.
Wochenzeitschrift FOCUS:
Der Wahlsieg der gemäßigten Islamisten ist von der Europäischen Union verhalten aufgenommen worden. Die EU-Kommission in Brüssel nahm den Wahlsieg der konservativ-religiösen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) am Montag lediglich zur Kenntnis. Die Behörde sei „bereit, mit der neuen Regierung zusammenzuarbeiten“, hieß es in einer Erklärung. „Wir nehmen auch zur Kenntnis, dass die beiden im Parlament vertretenen Parteien eine pro-europäische Politik fortsetzen wollen.“
Ein Sprecher der EU-Kommission betonte, es komme nun darauf an, was die neue Regierung tue, und nicht, was sie sage: „Was zählt, sind Taten und nicht Worte.“ Was die Aufnahme der Türkei in die EU angehe, so seien weiterhin eine funktionierende Marktwirtschaft und ein demokratisches politisches System die Voraussetzungen.
Der außenpolitische EU-Vertreter Javier Solana bewertete das Ergebnis dagegen positiver. Die Wahl sei ein Zeichen dafür, dass die türkische Demokratie erwachsen geworden sei. „Die türkische Bevölkerung hat ihre Bereitschaft für Demokratie und Wohlstand deutlich ausgedrückt“, erklärte Solana in Brüssel. Den gewählten Volksvertretern gratulierte Solana zu deren Erfolg. Die EU werde auch mit der neuen türkischen Regierung konstruktiv zusammenarbeiten.
Nach seinem Erfolg hatte der AKP-Vorsitzende Recep Tayyip Erdogan erklärt, wichtigste Aufgabe sei es, den Prozess des EU-Beitritts zu beschleunigen. Die Türkei ist zwar EU-Beitrittskandidat, mit dem Land haben die Verhandlungen über eine Aufnahme aber noch nicht begonnen. Auf ihrem Gipfel Mitte Dezember in Kopenhagen will die EU über das weitere Vorgehen entscheiden. Die alte türkische Regierung hatte von der EU ein konkretes Datum verlangt, wann die Verhandlungen beginnen sollen. Eine solche Zusage gilt allerdings als unwahrscheinlich.
„Türkei steht am Scheideweg“
Auch aus Deutschland gab es erste Reaktionen auf den Wahlsieg der AKP. Die Bundesregierung hofft auf eine stabile Regierung. „Erste positive Signale“ nach der Parlamentswahl seien in Berlin „mit Wohlwollen zur Kenntnis genommen worden“, sagte ein Regierungssprecher. Dazu gehörten die Ankündigungen der AKP, weiter mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) zusammenzuarbeiten und einen pro-europäischen Kurs zu verfolgen.
Härtere Töne schlug die Union an: Die absolute Parlamentsmehrheit der islamischen Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei droht nach Auffassung der Unionsfraktion im Bundestag die Türkei weiter von der EU zu entfernen. Die Türkei stehe nun innen- und außenpolitisch am Scheideweg, erklärte der europapolitische Sprecher der Unionsfraktion, Peter Hintze (CDU), in Berlin.
In den kommenden Wochen werde die AKP unter ihrem Vorsitzenden Recep Tayyip Erdogan beweisen müssen, dass sie ihrer Ankündigung, am pro- europäischen Kurs der Türkei festzuhalten, Taten folgen lassen wolle. Es wäre verheerend, wenn die AKP ihre absolute Mehrheit dazu nutzen sollte, am Rande Europas einem islamischen Fundamentalismus Vorschub zu leisten, erklärte Hintze. Die Festlegung eines Datums für Beitrittsverhandlungen beim EU-Gipfeltreffen Mitte Dezember in Kopenhagen sei mit der Entscheidung der türkischen Wähler ausgeschlossen.
Erdrutschsieg der Islamisten
Nach Auszählung von 99 Prozent der Stimmen lag die konservativ-religiöse Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung am Montagmorgen bei einem Anteil von 34,2 Prozent. Dies reicht für die absolute Mehrheit im 550-köpfigen Parlament, da nur zwei Parteien die Zehn-Prozent-Hürde überwinden konnten.
Zweitstärkste Kraft wurden die Sozialdemokraten der Republikanischen Volkspartei mit 19,4 Prozent. Die Partei des rechten Weges der früheren Ministerpräsidentin Tansu Ciller kam den vorläufigen Ergebnissen zufolge auf 9,5 Prozent und verpasste damit den Sprung ins Parlament knapp. Die Demokratische Linkspartei des bisherigen Ministerpräsidenten Bülent Ecevit erhielt nur noch ein Prozent der Stimmen und ist im künftigen Parlament ebenfalls nicht mehr vertreten. Insgesamt traten 18 Parteien zur Wahl an.
Der 48-jährige frühere Istanbuler Bürgermeister Erdogan, der die Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) zum Sieg geführt hatte, sagte nach der Wahl, seine Partei werde für mehr Freiheiten, ein Ende der Korruption sowie „Arbeit und Brot“ sorgen. Erdogan selbst kann wegen einer Vorstrafe wegen Volksaufhetzung nicht Ministerpräsident werden. Die AKP wollte ihren Kandidaten für das Regierungsamt in kürzester Zeit benennen. Angesichts der Jubelfeiern der AKP-Anhänger rief Erdogan zur Besonnenheit auf. Die Freude über den Sieg solle sie nicht zu unüberlegten Aktionen verleiten.
Katzenjammer herrschte bei den Wahlverlierern. Regierungschef Ecevit, der sich bis zuletzt gegen Neuwahlen gewehrt hatte, sagte: „Wir haben Selbstmord begangen.“ Seine Demokratische Linkspartei (DSP), die 1999 noch mit 22 Prozent stärkste Partei geworden war, schrumpfte diesmal auf wenige Prozent. Die Partei der Nationalen Bewegung (MHP) kam auf 8,4, die liberal-konservative Mutterlandspartei (ANAP) auf 5,2 Prozent.
Am nächsten an die Zehn-Prozent-Hürde kam mit 9,4 Prozent die konservative Partei des Rechten Weges (DYP) der früheren Ministerpräsidentin Tansu Ciller heran. Auf weiteren Plätzen folgte die Jung-Partei (GP) des Medienunternehmers Cem Uzan mit 7,2, die prokurdische DEHAP mit 6,2 Prozent.
Die Abstimmung in den 81 türkischen Provinzen war weitgehend ruhig verlaufen. Angaben zur Wahlbeteiligung lagen zunächst nicht vor. In der Türkei besteht Wahlpflicht. Dadurch wurden bei vergangenen Wahlen durchweg mehr als 80 Prozent Beteiligung erzielt. Unter strengen Sicherheitsmaßnahmen fand die Abstimmung in den überwiegend von Kurden bewohnten Südostprovinzen statt. Erstmals hielten sich auch ausländische Wahlbeobachter in der Türkei auf.
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