Also doch: Inder statt Kinder!

Laura Diekmann

Aufgrund der stark sinkenden Geburtenraten in Europa stellt sich für Experten die Frage, ob gezielte Zuwanderung nicht sogar notwendig ist, um die Volkswirtschaften in Schwung zu halten.

Eine aktuelle Studie des EU-Statistikamts eurostat belegt, dass die Anzahl der Lebendgeburten in allen 15 EU-Staaten von 18,3 pro 1.000 im Jahre 1960 auf 10,7 1999 gesunken ist. Die Kinderzahl liegt jetzt etwa bei 1,7 Kindern je Frau. Zur Aufrechterhaltung des Bevölkerungsbestands wären allerdings 2,1 Kinder je Frau erforderlich. Und es wird prognostiziert, dass in Zukunft die Geburtenzahl in Europa noch weiter abnehmen wird. Besonders drastisch sieht dies in Spanien und Italien aus, wer hätte das gedacht. Spanien hat heute sogar die weltweit niedrigste Geburtenrate.

Laut Prognosen der UNO wird im Jahr 2050 die spanische Bevölkerung um fast 24 Prozent geschrumpft sein. In Italien sieht dies ähnlich aus. Dort werden 28 Prozent weniger Menschen leben als heute. Die Italienerinnen belegen mit 1,2 Kindern vor Spanien den zweitletzten Platz. Als Gründe dafür werden die zunehmende Berufstätigkeit der Frauen und ungenügende staatliche Unterstützung angegeben. Stagnation oder gar einen Aufwärtstrend können dagegen Franzosen und Skandinavier dank erfolgreicher Familienpolitik verzeichnen.

Ostdeutschland bald menschenleer?

In Deutschland ist schon jetzt zu bemerken, dass aufgrund der besonders geringen Geburtenraten und Landflucht in Ostdeutschland ganze Landstriche veröden. Doch auch im Westen tut sich was. In Essen in Nordrhein-Westfalen sank auf Grund niedriger Geburtenraten die Zahl der Einwohner von 728.000 im Jahr 1960 auf heute 599.000.

Die große Zahl der Frauen aus den geburtenstarken Jahrgängen der 60er Jahre werden nun ihr gebährfähiges Alter überschreiten. An ihre Stelle tritt die geringe Zahl der Frauen, die den geburtenschwachen Jahrgängen von 1965 bis 1975 angehören. Daher wird der Anteil der über 65-jährigen in Zukunft zunehmen. Die UN prophezeit, dass beispielsweise in Spanien ihr Anteil von heute 17% auf 37% im Jahre 2050 steigen wird.

Einbruch des Wohlstandsniveaus

Aufgrund dessen stellt sich die Frage, wie die europäischen Sozialsysteme auch in Zukunft funktionieren sollen, wenn immer weniger Junge immer mehr Alte versorgen müssen. Ein solcher Bevölkerungsrückgang hätte Folgen für die Renten-, Kranken- oder Pflegeversicherung und für den Bestand von Kindergärten und Schulen.

Der Bevölkerungswissenschaftler Rainer Münz sagte hierzu in einem Spiegel-Interview: "Zwar wird die Arbeitslosigkeit in den kommenden Jahren abnehmen, weil es in Deutschland weniger Junge gibt, die die Schule verlassen, als Alte, die neu in Rente gehen. Zugleich verteilt sich aber die Finanzierung von Renten- und Krankenversicherung auf immer weniger Schultern. Die Nachfrage nach Immobilien und langlebigen Konsumgütern wie Autos oder auch Küchengeräten sinkt. Mit einer dynamisch wachsenden Wirtschaft ist dann höchstwahrscheinlich nicht mehr zu rechnen."

Im Gegenteil: einer OECD-Prognose zu Folge würde es ohne Gegensteuern zu einem Einbruch des Wohlstandniveaus in Europa um 18% kommen - gemessen am Bruttosozialprodukt. In Italien macht sich dies bereits bemerkbar: Das Wirtschaftswachstum war dort in den letzten zwei Jahren so niedrig wie fast nirgendwo anders. Dagegen verzeichnet Frankreich ein Wirtschaftswachstum von circa drei Prozent. Dort stieg auch im letzten Jahr die Einwohnerzahl um etwa 300.000.

458.000 Zuwanderer jährlich gebraucht

Die deutsche Bevölkerung würde laut einer UNO-Studie von heute 82 Millionen auf knapp 59 Millionen im Jahr 2050 sinken, wenn nicht mehr Menschen zuwandern. Das würde einen Rückgang von 28 Prozent bedeuten. Anders ausgedrückt, bedeutet es die Einwohnerzahl Ostdeutschlands, Hessens und Rheinland-Pfalz zusammen. Die Zahl der Erwerbstätigen würde um 41 Prozent abnehmen, während die Zahl der Rentner um etwa ein Drittel ansteigen würde. Künftig müssten nicht mehr vier, sondern zwei Beschäftigte einen Rentner versorgen.

Deshalb halten Bevölkerungswissenschaftler eine gezielte Migration für unverzichtbar. Wenn die heutige Bevölkerungszahl konstant gehalten werden soll, müssten bis 2050 jährlich 324.000 Ausländer einwandern. Zur Erhaltung der heutigen Zahl der 15- bis 64jährigen würden 458.000 Zuwanderer jährlich gebraucht. Das entspräche bis 2050 einer Summe von 25,2 Millionen.

Ein weiteres UNO-Szenario untersucht den Bedarf, wenn das zahlenmäßige Verhältnis zwischen 15- bis 64-jährigen und Älteren gewahrt würde. Deutschland müsste dann bis 2050 unglaubliche 188,5 Millionen Einwanderer aufnehmen. Das entspräche einem Zuwachs der Einwanderungszahl von insgesamt 299 Millionen Menschen. Der Anteil von Einwanderern und ihren Nachkommen an der Bevölkerung würde 80 Prozent betragen.

Ohne Einwanderer erst mit 77 in Rente?

Nach Frankreich müssten gemäß der UN-Studie bis 2050 jährlich 99.000 und nach Großbritannien 114.000 Ausländer einwandern, will man die Zahl der Erwerbstätigen zwischen 15 und 64 Jahren auf dem Stand von 1995 halten. Deshalb rät die UN-Studie zur Migration und Bevölkerungspolitik den Industriestaaten, ihren Geburtenrückgang durch zusätzliche Einwanderungen auszugleichen. Hierbei spricht man oft von "Bestandserhaltungsmigration".

Es bezieht sich auf die Zahl der Zuwanderer, die ein Land benötigt, um zu vermeiden, dass seine Bevölkerung aufgrund niedriger Geburten- und Sterblichkeitsraten abnimmt und überaltert. Über diesen Begriff wird allerdings diskutiert, da manche darin eine Reduzierung der Migranten auf rein wirtschaftliche Interessen sehen.

Billiglohnarbeiter genauso gefragt wie IT-Spezialisten

Schon in den sechziger und frühen siebziger Jahren fand in Westdeutschland gezielte Migration statt. Aufgrund eines Arbeitskräftemangels wurden Gastarbeiter aus dem Mittelmeerraum in die BRD geholt. Auch die DDR beschloss in den achtziger Jahren, Vertragsarbeiter aus der Dritten Welt anzuwerben. Heute ist dies schon aufgrund der GreenCard-Diskussion in Deutschland wieder ein Thema. Schon jetzt ist die BRD das größte Einwanderungsland Europas.

Doch benötigt werden laut des Instituts der Deutschen Wirtschaft nicht nur qualifizierte Arbeitskräfte. Jeder zweite Job sei an gering qualifizierte Arbeitnehmer zu vergeben. Etwa 400.000 freie Stellen sind im Frühsommer 2000 offiziell gemeldet worden. Nach Meinung von Arbeitsmarktexperten waren es aber effektiv etwa dreimal so viele. Besonders im Hotel- und Gaststättengewerbe werden Arbeitskräfte gebraucht, ebenso wie Ingenieure und Computer- und Softwarespezialisten. Auch Altenheime, Krankenhäuser und Pflegedienste beklagen den Mangel. Aufgrund der steigenden Überalterung wird besonders in diesem Bereich der Bedarf steigen.

Doch trotz dieser Fakten sehen es viele als vorrangig an, sich mit der Ausbildung der Deutschen zu beschäftigen. Nur 19 Prozent der Deutschen wollen laut einer Forsa-Umfrage Einwanderer anwerben. So sagte zum Beispiel SPD-Generalsekretär Franz Müntefering der "Neuen Presse" aus Hannover:"Wir dürfen nicht zuerst auf Zuwanderung setzen und alle Spezialisten der Welt zu uns einladen." Er plädierte für einen staatlich geförderten Niedriglohnsatz. "Die schlichte Wahrheit ist, dass es Arbeit gibt, die niemand will, weil sie niedrig bezahlt ist und wenig Ansehen hat."

Die gezielte Suche nach Arbeitskräften geht los

Während in Deutschland noch diskutiert wird, wurden in anderen EU-Ländern schon Konsequenzen aus ihrer niedrigen Geburtenrate gezogen. Italien will beispielsweise in diesem Jahr über 60.000 Einwanderer aus Nicht-EU-Staaten aufnehmen, und Spanien hat ein Gastarbeiterabkommen mit Marokko abgeschlossen. Dort fehlen Arbeitskräfte in der Landwirtschaft und im Bausektor. Offensichtlich beschäftigen sich also alle EU-Länder mit gezielter Familienpolitik und Migration. Und auch in Zukunft wird das Thema nicht an Brisanz verlieren.

Quelle: europa-digital.de

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