"Die EU-Mitgliedschaft wird nicht dem Volk, sondern dem Kapital nützen"
Interview mit Prof.Dr. İzzetin Önder von Universität Istanbul
Talat Kaya und Murat Çakır
Seit Jahrzehnten bestrebt die Türkei in Westen anzukommen, sozusagen sich zu europäisieren. Der deutsche Bundeskanzler Schröder war in der Türkei und hat Ankara bei ihren Bemühungen um die EU-Mitgliedschaft Unterstützung zugesichert. So weit, so gut. Doch was wird die EU-Mitgliedschaft der türkischen Bevölkerung bringen?
Die positiven Aussagen des deutschen Bundeskanzlers während seines Türkeibesuchs sind wahrscheinlich wichtig für seine innenpolitische Situation. Das weiß ich nicht und will es nicht bewerten. Ihre Frage müsste in zwei Teilen gestellt und beantwortet werden. Nämlich, was wird die EU-Mitgliedschaft dem Kapital bringen und was der allgemeinen Bevölkerung. Ich bin nicht der Auffassung, dass für die Bevölkerung sich etwas verändern wird. Denn die EU ist eine kapitalistische Union. Also wird sie, was völlig Normal ist, darauf achten, die Fachkräfte des neuen Mitglieds für sich zu nutzen. So gesehen kann es dazu kommen, dass das türkische Kapital den unteren Abteilungen des EU-Kapitals montiert wird. Quasi als Subunternehmer. In Frage der Arbeitskraft wird man sicherlich qualifiziertem Personal wie Ärzten oder Diplom Ingeneuren Freizügigkeit gewährt werden. Aber der wenig qualifizierten Arbeitskräften wird man eine Grenze vorschieben bzw. neue Hindernisse aufstellen. Das sieht man auch bei den Gesprächen mit den neu aufzunehmenden Ländern. Daher bin ich der Meinung, dass die EU-Mitgliedschaft uns eine allgemeine Verbesserung nicht bringen wird. Um das verstehen zu können, sollten wir auf die Tagesordnung des Kapitalismus schauen.
Die EU hat jahrelang verschiedene Gründe aufgeführt, warum die Türkei nicht als Mitglied aufgenommen werden kann. Das waren meistens Fragen der Menschenrechte, Minderheitenrechte oder der Demokratisierung. Können wir bei diesen auf die Aufrichtigkeit der EU vertrauen?
Aus der geschichtlichen Perspektive gesehen, können wir sagen, dass insbesondere Europa lange Zeiten der Kolonialisierung hinter sich hat. Weltweit auf ihren Kolonien und in der eigenen Geschichte haben sie Menschenrechte nicht beachtet. Nach der Industrialisierung haben sie sich zu einem, mehr schlecht als recht, bürgerlichen Demokratie bekannt. Das sollte man natürlich in Verbindung mit dem Vorhandensein der UdSSR und des notwendigen Wohlstandsniveaus sehen. Von einer Türkei, die wirtschaftlich und sozial auf einem anderen Niveau steht, die Einhaltung bestimmter Kriterien zu fordern, halte ich für nicht aufrichtig. Ein weiteres Aspekt dafür ist, dass neben den Menschenrechtsverletzungen in der Türkei, in Sachen Arbeitslosigkeit, Gesundheit und Soziales unmenschliche Politik umgesetzt wird, dies aber von Europa keineswegs moniert wird. In Europa werden diese Punkte nicht als Menschenrechte gesehen. Dabei gehören uneingeschränkte Rechte auf Gesundheit, Bildung und Chancengleichheit zu den Grundrechten der Menschheit. Genau wie Minderheitenrechte. Daher wäre es nicht vermessen zu behaupten, wenn auf der einen Seite diese Rechte nicht angesprochen, aber auf der anderen Seite ständig auf ethnische Probleme hingewiesen wird, man versuche mit Hilfe von ethnischen Problemen gewisse Interessen über der Türkei zu verfolgen.
Während die EU immer mehr den Weg der Militarisierung eingeschlagen hat, werden immer mehr soziale und demokratische Rechte abgebaut. Zugunsten einer neoliberalen Wirtschaftspolitik werden Menschenrechte wie Recht auf Arbeit de facto ausgehöhlt. Wie sehen Sie das?
Wenn man den Durchschnitt in der Türkei und Europa vergleicht, sieht man dass der Durchschnitt in Europa bezüglich verschiedener Rechte viel weiter ist als die Türkei. Aber dennoch ist es zu beobachten, dass Europa in diesem Bereich mit steigender Geschwindigkeit Rückständiger wird. Das ist das Ergebnis der wirtschaftlichen Funktionsprozesse, als das Ergebnis einer kapitalistischen Dynamik. Trotz unterschiedliche Zahlen setzt sich in der EU eine durchschnittliche Arbeitslosigkeit von 6 bis 8 Prozent durch. In der Bildung, öffentlichen Verwaltung und insbesondere im Gesundheitsbereich wird immens abgebaut. Das ist eine europäische Tatsache.
In der Türkei führen EU-Diskussionen zu verschiedenen Spekulationen, sogar Verschwörungstheorien werden in diesem Zusammenhang immer wieder aufgeworfen. Die USA machen Druck, damit die Türkei in die EU aufgenommen wird. In einigen Kreisen in Europa wird das, als der Versuch der USA verstanden, neben Groß Britannien ein neues trojanisches Pferd nach Europa einzuschleusen. Ist die Türkei ein trojanisches Pferd der USA?
Wäre möglich natürlich. Aber es ist schwer in dieser Frage eine Zukunftsprognose zu machen. Dennoch scheint es so, dass die USA ein solches politisches Ziel verfolgen. Die USA hat das ja schon vorgemacht. Während des Irakkrieges wurden zuerst England, dann Italien, Spanien und einige andere Länder auf US-Linie gebracht. Das hat in der EU für Missstimmung gesorgt und die USA schauten zufrieden zu. Eigentlich sind im Rahmen der kapitalistischen Dynamiken und gerade nach dem Niedergang des sowjetischen Blocks Konflikte zwischen den kapitalistischen Staaten an der Tagesordnung. Vielleicht könnten wir sagen, dass der Dritte Verteilungskrieg oder der zweite Kalter Krieg zwischen der USA und Europa sich abspielt. Wenn wir das aus diesem Aspekt sehen, ist es normal, dass die USA alle Maßnahmen ergreifen wird, um die EU zu schwächen und zu separieren. Das liegt in der Natur der Sache. Die USA wird alles tun, damit die Türkei mit seiner vollen Größe, seinem Kraft und seiner wirtschaftlichen Rückständigkeit in die EU aufgenommen wird. Währenddessen hat die USA mit Hilfe der militärischen Pakten und den bilateralen Wirtschaftsverträgen die Türkei fest an sich gebunden. Insofern wird die Türkei nicht als ein armes Land in die EU eintreten. Sondern als ein Land, das mit Verträgen an die USA gebunden ist. Wenn natürlich die EU, die Türkei so aufnimmt.
Die Ziele der USA sind bekannt. Sei es Zypern, Ägäis, oder das aserbaidschanische Erdöl bzw. Länder wie Irak, Iran oder Syrien, wenn wir aus diesem Rahmen die Entwicklung anschauen, welche Ziele könnte die EU über der Türkei haben?
Die mit der USA konkurrierende EU (eine EU, die aufgrund dieser Konkurrenz sich zusammenschließt) könnte zwei wichtige Ziele verfolgen. Zum einen versucht die EU, die absolute Herrschaft der USA in dem Gebiet von dem arabischen Halbinsel bis Mittelasien, möglichst wirkungslos zu machen. Das ist ein wichtiges Ziel und betrifft auch die Türkei. Und zum zweiten hat die EU türkeibezogene Ziele. Die Türkei hat in dieser strategisch sehr wichtigen Region militärisch wie wirtschaftlich ein sehr hohen geostrategischen Wert. Und diese Türkei wird von den USA beeinflusst. Insofern hat die EU festgestellt, dass die Türkei bei einer ablehnenden Haltung noch mehr in den Schoss der USA geschoben wird. Und das widerspricht den Interessen der EU in Nahem Osten. Daher wird die EU, auch wenn sie die Türkei nicht als Mitglied aufnehmen will, die Türkei zu mindestens nicht offiziell ablehnen und ihr Hoffnung geben. Oder durch andere Maßnahmen den Einfluss der USA auf der Türkei versuchen zu brechen. Dazu gehört die Separierung von Gebieten, in denen die Türkei quasi Hausrecht hat. Zum Beispiel wie in Zypern, wo die USA über die Türkei dort militärisch Fuß fassen will. Natürlich wir die EU, wie de USA versuchen über der Türkei ihren Einflussgebiet im Nahen Osten zu erweitern. Die EU wird, sowohl wegen dem Erdöl, als auch anderen Energiereserven, die Türkei weder politisch noch wirtschaftlich alleine lassen. Die Politik des Hoffnungsgebens aber nicht Aufnehmens wird so lange es geht weitergeführt werden.
Zwischen der AKP Regierung und den militärischen Machtteilhabern gab es Konflikte. Wird die AKP, diesen zweiten Staat im Staate während des EU Prozesses besänftigen und gewinnen können?
Die AKP ist mit einer absoluten Mehrheit, mit der sie sogar die Verfassung ändern kann, an die Macht gekommen. Bei den nächsten Kommunalwahlen ist es ihr noch ernster. Denn, wenn sie auch die Kommunalwahlen gewinnt, wird sie ein sehr wichtiges Hindernis überwunden haben. Aber vor ihr stehen mit der Zypern-Frage und EU-Mitgliedschaft zwei wichtige Hindernisse. Hier könnten aus der militärischen Teilen des Staates, aber auch anderer Teile wie die Staatsbürokratie unterschiedliche Gewichtungen kommen. Aber ich bin der Auffassung, wenn die AKP die Macht hat, sogar den Staatspräsidenten zu bestimmen, dann wird sie auch diese Teile mit zukünftigen Versprechungen stillhalten können. Aus was auch dieser Staat im Staate bestehen mag, ist es möglich Versprechungen für die Zukunft zu machen, damit kein Widerstand entsteht. Aber wenn ein solcher Mechanismus vorhanden ist, dann ist es auch möglich, dass sich Teile des Staates nicht darin wiederfinden und so können Konflikte, bis hin zu Aufständen entstehen. Denn die Versprechungen können nur für die obersten Verantwortlichen gemacht werden, nicht für das ganze. Wiederum ist es möglich, dass größere Staaten ein eventuell entstehende Konfliktsituation entschärfen können. Also, wenn die USA unsere Armee als ganzes, wie im Nahen Osten, Irak und sogar in Zypern kontrollieren kann, können sie auch eventuelle Konflikte beseitigen. Die USA, aber auch die EU beabsichtigen die AKP als eine Partei darzustellen, die im Inneren alles in Griff hat, Probleme anpackt und stark ist. So wollen sie ihre wirtschaftlichen, militärischen und politischen Interessen wahren. Aus diesem Grund greifen die großen Staaten in solche innerstaatlichen Mechanismen ein. Mit einer AKP, die über eine solche Mehrheit verfügt und an der Macht ist, sind diese Szenarien sehr wahrscheinlich.
Aus Europa sehen wir eine AKP, die in dieser Hinsicht sehr bereitwillig ist. Eine AKP, die ihre Interessen mit denen der USA oder anderer Länder kompatibel macht. Aber unabhängig davon wäre es interessant zu erfahren, wie die Bevölkerung der Türkei über den EU-Prozess denkt. Kennt das Volk überhaupt die EU?
Nein, auf keinen Fall. Und Sie fragen auch noch ob das Volk etwas weiß. Hätten Sie gefragt, wie die Bürger darüber denken, könnte ich als Bürger aus meiner Sicht schon einiges sagen, aber das Volk... Nein, auf keinen Fall. Das Volk sieht alles aus der Sicht der gleichgeschalteten Medien. Auch unsere Universitäten kommen ihrer Rolle, ein Decoder bzw. Codeknacker zu sein, nicht nach. Nun, auch die Universitäten werden in ihrer Mehrzahl von den Holdinggesellschaften kontrolliert. Es gibt zwar einige Hochschullehrer, die dagegen hinwirken, aber sie sind in der Minderzahl. Daher denkt der ‚Otto Normalverbraucher’, „Wir werden in die EU aufgenommen und die Freiheiten werden sofort gegeben“. Noch absurder ist es, dass die meisten denken, dass wir wie mit einer Zauberhand, sofort reicher werden. Also, dass das durchschnittliche Einkommen von 5000 auf 9 10000 Dollar steigen, mehr Wirtschaftswachstum und weniger Arbeitslose haben werden. Das Volk hat keine Ahnung über die Arbeitslosigkeit in Europa. Aber die Medien geben ein anderes Bild und das bestimmt das Denken der Menschen.
Gibt es noch Punkte, die Sie hinzufügen möchten?
Nein, aber es macht mich traurig, dass nicht nur wir in der Türkei, sondern auf der ganzen Welt uns auf einen schlimmen Weg befinden und dabei denken, dass wir uns dort verwirklichen können. Es geht bei diesem Spiel um den Prozess der Kapitalakkumulation. Das absurde dabei ist, dass uns in diesem Prozess suggeriert wird, die Globalisierung uns Wohlstand, mehr demokratische Rechte, mehr Menschenrechte usw. bringen werde. Langfristig gesehen, eigentlich mittelfristig, in 20 bis 30 Jahren werden wir in einen Zeitalter eines unglaublich brutalen Kapitalismus erleben. Dort werden weder Menschenrechte vorhanden sein, noch andere Rechte. Mit der Zentralisierung des Kapitals wird sogar das Kapital der Randländer wertlos werden. Auch sie werden versklavt und die gesamte Bevölkerung wird in den Armut, in die Proletarisierung gedrängt.
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