500 000 gegen Sozialabbau: Masse immer gleich Klasse?
Interview der Zeitung junge welt mit Malte Kreutzfeldt, Pressesprecher des globalisierungskritischen Netzwerks ATTAC Deutschland
Die größten Sozialproteste in der Geschichte der Bundesrepublik liegen hinter uns. Wie fällt Ihre Bilanz aus?
Der 3. April hat ein unübersehbares Zeichen gesetzt. Spätestens am Samstag muß die Bundesregierung begriffen haben, daß sie die Wut in der Bevölkerung nicht länger ignorieren kann, und falls doch, daß sie dann noch sehr viel größere Probleme mit den Menschen bekommt. Es war auch erfreulich zu sehen, wie kritisch sich die Gewerkschaften gezeigt und damit bewiesen haben, daß sie sich aus ihrer 120jährigen Ehe mit den Sozialdemokraten ein gutes Stück gelöst haben.
War das Wochenende die Geburtsstunde einer mächtigen sozialen Bewegung?
Es war auf jeden Fall ein wichtiger Schritt dahin. Es hat ein Bündnis aufgerufen, wie es dies in dieser Breite meines Wissens noch nicht gegeben hat. Ich glaube schon, daß damit eine neue soziale Bewegung im Entstehen ist.
In Kreisen von Sozialinitiativen und linken Gewerkschaftern wird beklagt, daß die kritischsten Kräfte am Samstag im Meer der Gewerkschaftsflaggen untergegangen seien. Muß Masse immer gleich Klasse bedeuten?
Natürlich waren die Veranstaltungen von außen betrachtet stark von den Gewerkschaften dominiert. In der öffentlichen Wahrnehmung ist die Breite des Bündnisses nicht so hundertprozentig rübergekommen. Man könnte sagen, das ist der Preis des Erfolges. Dennoch glaube ich, daß Masse notwendig ist. Es motiviert die Menschen, wenn sie sehen, daß sie in ihrem Widerstand gegen die herrschende Politik nicht allein stehen.
Die kritischsten Kräfte sind also nicht zu kurz gekommen?
Nein. Es stimmt zwar, daß wir mit dem Ablauf der Kundgebungen nicht voll einverstanden waren, etwa mit den Unterbrechungen durch Musikeinlagen. Die Tatsache aber, daß am Samstag Menschen wie Rainer Roth oder Peter Grottian neben Vertretern von ATTAC auf den Kundgebungen sprechen konnten, zeigt doch, daß die Gewerkschaften einen gewaltigen Schritt gemacht haben und bereit sind, sich den vielfältigen gesellschaftlichen Bewegungen sowohl organisatorisch und strategisch als auch inhaltlich zu öffnen. Das hilft über das ein oder andere Manko hinweg.
Sie sagten, daß der Spalt zwischen SPD und Gewerkschaften größer geworden ist. In den Reden der Gewerkschaftsbosse war der Begriff »SPD« nur selten zu hören und von konkreten Handlungsvorschlägen auch recht wenig.
Das sehe ich anders. Es wurden sehr wohl auch Alternativen zur Regierungspolitik angesprochen. Was DGB-Chef Michael Sommer vorgetragen hat, war eine der schärfsten Kritiken an Rot-Grün, die ich von gewerkschaftlicher Seite seit langem gehört habe. Es ist nur leider so, daß dies in der Medienberichterstattung zu kurz gekommen ist. Es widerspricht offensichtlich der Meinungshegemonie in diesem Land, die besagt, daß es zur herrschenden Politik keine Alternativen geben kann und darf.
Die Worte »Streik« oder gar »Generalstreik« haben die Gewerkschaftsspitzen aber nicht in den Mund genommen?
Trotzdem glaube ich, daß durch derartige Veranstaltungen die Debatte darüber, was als nächster Schritt folgen muß, in Gang gesetzt und beispielsweise in den Betrieben weitergeführt wird. Die Frage nach neuen Protestformen könnte sich zwangsläufig dann stellen, wenn den Menschen klar wird, daß selbst eine halbe Million Demonstranten auf den Straßen zu keinen politischen Veränderungen führen.
Aus: junge welt vom 06.04.04
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