Albert: Es scheint mir so, dass die Bewegungen, wenn sie als einen Teil ihres Zieles eine gewisse Institutionalisierung erreichen wollen, sie Formen der Organisierung brauchen werden, welche diese Institutionen festigen und mit ihnen verschmelzen können, anstelle von Organisierungsformen, welche in Bezug auf die verfolgten Ziele neutral wären, oder ihre Erreichung behindern.
Ich bevorzuge solche Ziele wie Bezahlung für Anstrengung und Aufwand, Selbst-Verwaltung und Klassenlosigkeit durch Räte von ArbeiterInnen und KonsumentInnen, ausgeglichene Arbeitsaufteilungen und partizipative Planung.
Ich frage mich ob diese Ziele in Argentinien, in Ihrem Heimatland, auf Resonanz stoßen. Können sie uns ein Bild jener Bewegungen dort geben, welche lokale Versammlungen in Nachbarschaften und Arbeitsplätzen geschaffen haben? Sind diese Bewegungen eine frühe Form von Räten von ArbeiterInnen und KonsumentInnen?
Adamovsky: Vier Bewegungen haben sich in den letzten Jahren in Argentinien entwickelt, von denen ich glaube, dass sie mit der Idee von Parecon zusammenhängen: die Tauschmärkte, die „Piquetero-„Bewegung, die Nachbarschaftsversammlungen und die besetzten Fabriken.
Die Tauschmärkte entstanden als eine verrückte Idee zweier Typen, welche die erste Erfahrung damit vor nicht so langer Zeit in ihrer Garage machten. Grundsätzlich war es eine einfache Idee: Menschen welche ihre Jobs verloren hatten und deswegen an gar kein Geld mehr kommen konnten, könnten dennoch ihre Talente und Fähigkeiten mit anderen Menschen welche sich in einer ähnlichen Situation befinden austauschen. So könnte zum Beispiel ein Schneider die Kleidung von jemand anderem reparieren, im Austausch gegen, zum Beispiel, selbst gebackenes Brot oder Computertraining oder anderes. Indem sie ihre eigene „Währung“ verwendeten – anfangs schlecht gedruckte Papiere welche „Credits“ genannt wurden – waren sie imstande mit anderen Menschen Güter und Dienste auf nicht gegenseitiger Basis auszutauschen, das heißt, „Credits“ von einer Person zu bekommen, aber von einer anderen zu kaufen.
Im schlimmsten Moment der Wirtschaftskrise, so sagt man, haben mehr als 7 Millionen Menschen die Tauschmärkte benutzt um sich über Wasser zu halten. Leider begannen die Tauschmärkte später zu verfallen, was hauptsächlich damit zu tun hatte, dass einige Leute begannen sie als ein Mittel sich selbst zu bereichern missbrauchten, indem sie zum Beispiel die „Credits“ fälschten (was sehr leicht war) oder sich dort echte Credits verschafften, wo sie relativ billig waren, und sie in reicheren Gegenden, wo ihr Wert höher war, benutzten. Diese Art von Aktivitäten machte die Tauschmärkte immer unzuverlässiger. Obwohl es sie noch immer gibt ist ihre Bedeutung heute nicht mehr jene, die sie einmal war.
Die Piquetero-Bewegung ist eine Bewegung von arbeitslosen ArbeiterInnen, die sich nach 1996 zu organisieren begannen. Das ist nicht eine Gruppe, sondern viele verschiedene Organisationen (zumindest 15), mit unterschiedlichen Strategien. Aber sie sind wegen den Straßenblockaden („piquetes“), welche sie üblicherweise benutzten um Druck hinter ihre Forderungen zu stellen, alle als „Piqueteros“ bekannt. Die ersten „Piqueteros“ organisierten sich spontan um den neo-liberalen Programmen Widerstand zu leisten, und sie machten das, indem sie sich in demokratischen und „horizontalen“ (also hierarchielosen) Versammlungen trafen. Später „kopierten“ einige trotskyistische, kommunistische, maoistische und populistische Parteien die Strategie der Piqueteros, aber ohne die radikale horizontale Herangehensweise zu übernehmen.
In diesen Fällen (besonders in der Bewegung der Arbeitslosen ArbeiterInnen „Anibal Veron“) beinhalteten die Versammlungen Elemente von dem, was Sie ArbeiterInnen- und KonsumentInnen-Räte genannt haben. Zum Beispiel haben die MTD Anibal Veron und andere Gruppen ihre eigenen produktiven Projekte aufgebaut, kleine Kooperativen welche Brot, Ziegelsteine, Gewand und andere Produkte herstellen. Aber die Produktion folgt keinen Marktregeln, und wird auch nicht von einer „Koordinierungsklasse“ organisiert.
Die ganze Bewegung unterstützt die produktiven Projekte und trifft Entscheidungen über neue Investitionen und so weiter, und die „Profite“, wenn es welche gibt, gehen nicht nur an jene welche in diesen Projekten arbeiten, sondern an die ganze Bewegung. Das Kriterium welches hier dahinter steht ist, dass jede Art von Arbeit wertvoll ist, also müssen alle bezahlt werden, also eben nicht nur jene welche Brot backen, sondern auch jene welche sich um die öffentliche Erziehung und die Umsetzung von Kampagnen und anderem kümmern.
Die Nachbarschaftsversammlungen sind ein relativ neues Phänomen. Sie sprangen nach der Rebellion des Dezembers 2001 sofort überall auf. In den Hauptstädten begannen die Nachbarn sich spontan an den Straßenecken zu treffen, um zu diskutieren und um sich über ihre eigenen Probleme klar zu werden. Nach einer anfänglichen Periode der Reinwaschung – die Leute erzählten einander einfach ihre Probleme, Ängste, Frustrationen – begannen sie herauszufinden, was die Ursachen der Krise waren, und die möglichen Auswege zu diskutieren. Im Fall der Versammlungen gibt es kein klares Element von ArbeiterInnen-Räten – obwohl einige der Versammlungen wie die Piqueteros ebenfalls produktive Projekte gestartet haben.
Elemente von KonsumentInnen-Räten sind sichtbarer. Zum Beispiel organisierten viele Versammlungen Gemeinschaftseinkäufe, das heißt, den Kauf von großen Mengen von Gütern von Großhändlern, um sie dann unter den Nachbarn gemäß anderen Kriterien zu verteilen. Ein anderes Beispiel ist der Druck den sie auf Elektrizitäts-,Gas- und Telefonunternehmen ausgeübt haben, um zu verhindern, dass sie die Preise erhöhen, und nicht jene Leute von der Zuleitung trennen, welche ihre Rechnungen nicht bezahlen konnten.
Und schließlich sind die besetzten Fabriken die neueste Bewegung. Sie besteht aus ArbeiterInnen von (manchmal gar nicht wirklich) bankrotten Fabriken, welche sich weigern arbeitslos zu werden. Wenn die FabrikbesitzerInnen ankündigen die Fabrik zu schließen, weigern sie sich diese zu verlassen, besetzen die Fabrik, und beginnen damit sie selbst zu betreiben. Was witzig ist, ist dass es ihnen im Gegensatz zu allen Vorhersagen und trotz unzählbarer Hindernisse, dabei recht gut geht. Die ArbeiterInnen können relativ große Unternehmen betreiben – wie Zanon Keramik, zum Beispiel – und diese nicht nur zur Produktion bringen, sondern sie auch noch profitabel machen. Die besetzten Fabriken organisieren sich gemäß anderer Kriterien. Aber im Allgemeinen fallen die wichtigsten Entscheidungen in horizontalen Versammlungen von ArbeiterInnen, und die Löhne neigen dazu gleichmäßiger verteilt zu sein, als unter den alten Bossen.
Gemeinsam mit diesen vier Bewegungen gibt es auch unzählige kleinerer Sachen welche am Laufen sind, von BauerInnen welche Land besetzen und gemeinsam produzieren, zu KünstlerInnen und unabhängigen JournalistInnen, welche Möglichkeiten außerhalb der Korporationen finden ihre Arbeiten herzustellen und zu verteilen. In den letzten Jahren war Argentinien ein einzigartiges Laboratorium für neue wirtschaftliche und politische Arten sich gemeinsam zu organisieren und miteinander zu leben.
Albert: Es ist schade, dass so interessante Projekte von denen man etwas lernen kann so wenig internationale Aufmerksamkeit bekommen – aber das ist eben vollkommen vorhersehbar. CNN will Argentiniens Innovationen nicht übertragen.
Ich frage mich ob eine große Anzahl von Menschen welche an einer mitwirkenden wirtschaftlichen Vision wie Parecon teilhat, oder zum Beispiel, Bezahlung für Anstrengung und Aufwand fordert, aber sich weigert, für Produktion oder natürlich für Macht oder Eigentum zu bezahlen, den argentinischen Prozessen geholfen hat, glauben Sie das?
Adamovsky: Das erste was man wissen muss ist, dass wir eine stark hierarchisch und führer-orientierte politische Kultur hatten, bevor all diese Bewegungen entstanden sind. Ich beziehe mich hier nicht nur auf die Mainstream-Politik (man denke an den Peronismus und die unzähligen militärischen Coups welche wir erlitten), aber auch an die Gewerkschaften (welche, im Allgemeinen, eine höchst korrupte Bürokratie sind) und die Linke. Fast jede vorherige Erfahrung welche wir hatten, kam aus einer Tradition des Leninismus und der nationalen Befreiung, welche sehr hierarchisch und oft autoritär sind.
Als die ersten Piquetero-Gruppen, Tauschmärkte, Versammlungen und Visionen emporkamen, war es nicht die Frucht von Jahren geduldiger Organisation (es gab fast niemanden, welcher diese Arten der Organisierung befürwortete, bevor sie geboren waren), sondern spontan, ich würde es eine intuitive Erschaffung nennen. Das ganze wirtschaftliche und politische System kollabierte, die Menschen trauten keiner der Parteien, der FührerInnen oder der Gewerkschaften, die es gab, also trafen sie sich einfach mit Leuten wie sich selbst und fragten einander „Habt ihr eine Ahnung, was hier vor sich geht? Was können wir machen, um unsere Leben zu schützen?“ Aber anders als andere Länder (wie, vielleicht, die USA), hatten wir keine Tradition darin, miteinander zu reden und einander zuzuhören. Wir wussten einfach nicht, wie man ein Nachbarschaftstreffen abhält. Ich erinnere mich noch an die ersten Treffen meiner Nachbarschaftsversammlung: die Leute kämpften buchstäblich darum, das Megaphon zu benutzen. Ich meine: mit Fäusten kämpfen.
Wenn man dies berücksichtigt, würde ich sagen, dass jede Gruppe welche Erfahrung mit einfachen Prozeduren der direkten Demokratie gehabt hätte sehr hilfreich gewesen wäre. Wir mussten uns alles selbst auf die harte Art beibringen. Ich glaube, dass die Gruppe von „PareconistInnen“, welche Sie sich vorstellen, sehr hilfreich gewesen wäre um ihre Erfahrungen zu teilen, wenn sie da gewesen wären. Aber ich muss leider sagen, dass es unmöglich gewesen wäre irgendeine der ausgeklügelteren Prinzipen Parecons umzusetzen, bevor wir uns selbst in direkter Demokratie unterrichtet hatten.
Heute ist die Situation anders. Nach all dem Kampf den Argentinien durchgemacht hat, wurde es den Menschen in den Bewegungen bewusst, dass sie tatsächlich mit einer neuen Art von linker Politik experimentierten, ganz ungleich allem, was sie in der Vergangenheit gesehen haben. Und sie waren im Allgemeinen eifrig etwas über neue Ideen welche sich auf Prinzipen der direkten Demokratie, Autonomie und horizontaler Organisation stützen, zu lernen. Indem es die Aussicht auf eine Welt welche von diesen Prinzipien geleitet wird bietet, könnte Parecon uns inspirieren wieder Vertrauen zu gewinnen, und einen stärkeren Sinn dafür zu entwickeln wohin unsere Anstrengungen ausgerichtet sind.
Was die Bezahlung für Anstrengung und Aufwand betrifft, glaube ich, dass die Erfahrungen in den besetzten Fabriken und, in einem gewissen Ausmaß auch in den produktiven Projekten der Piqueteros, von diesen Ideen profitieren würden. Ich weiß, dass sie Diskussionen über die beste Art sich selbst zu entgelten hatten (und auch noch haben), und ich glaube, dass es eine natürliche Tendenz für jene Art von Ideen gibt, welche Parecon verschlägt. Es wäre ohne Zweifel sehr hilfreich für sie gewesen, die praktische Seite der Bezahlung in die weitere Perspektive der wirtschaftlichen Aussicht welche Parecon vorschlägt einzubetten.
Albert: Kennen Sie die Methoden, welche sie derzeit verwenden? Behalten sie in den Fabriken die alten Lohnstrukturen bei, zahlen sie gleichmäßig oder zumindest gleichmäßiger – als Verbesserung -, oder Zahlen sie nur nach Zeit, je nach Produktion, oder wie machen sie es? Wie schwierig wäre es, dazu überzugehen, gemäß Anstrengung und Opferbringung zu zahlen? Wer würde dies bekämpfen? Wer würde dies bevorzugen, was glauben Sie?
Adamovsky: Es gibt derzeit angeblich über 200 besetzte Unternehmen. Die Situation ist in jedem von diesen anders. Viele von ihnen produzieren noch nicht: Die ArbeiterInnen arbeiten noch immer an den Voraussetzungen dazu. Anderen, wie Zanon Keramik, geht es so gut, dass sie sogar neue ArbeiterInnen „anstellen“ mussten (was überraschend ist, wenn man berücksichtigt, dass die früheren BesitzerInnen behaupteten, dass es nicht möglich sei, Zanon profitabel zu machen). Aber im Großen und Ganzen muss man sich darüber bewusst sein, dass viele der besetzten Fabriken noch immer sehr angestrengt kämpfen, einfach nur um zu überleben, was für sie bedeutet, zwei „Feinde“ zugleich zu bekämpfen. Zuerst, Argentiniens andauernde wirtschaftliche Krise. Und außerdem, die Belästigung durch Polizei und Gerichte, welche die Produktion immer wieder zerstören.
In diesem Kontext, glaube ich, wäre es schwierig radikale Neuerungen in kurzer Zeit zu riskieren. Es gab jedoch, soweit ich weiß, einige Änderungen in den Lohnstrukturen, zumindest in einigen Fällen. Die Löhne neigen dazu gleichmäßig zu sein, und man zahlt lediglich nach Zeit (ich weiß nichts davon, dass irgendeine der besetzten Fabriken, je nach Produktion zahlt). Ich glaube, dass die ArbeiterInnen zustimmen würden, dass eine Bewegung hin zur Zahlung gemäß Anstrengung und Opfer gerechter wäre. Ich kann mir aber vorstellen, (aber dies ist sehr hypothetisch), dass sie sich zurzeit nicht stark genug dazu fühlen würden, viel Energie für die Einführung einer solchen Änderung einzusetzen, was die Auffindung von genauen Messarten für die Anstrengung mit einschließt, was weitere Treffen zu jenen hinzufügen würde, welche es schon für andere Themen gibt (Produktion, Strategie mit den Gerichten, Verteidigung gegen Repression, politische Strategie, usw.).
Albert: Okay, wie sieht es mit Selbst-Verwaltung aus? Glauben Sie, dass eine klare Ausformulierung dieses Ziels – dass Menschen ihre Entscheidungen so stark beeinflussen können sollten, wie sie selbst von ihnen betroffen sind – den Bewegungen geholfen hätte? Wäre es nützlich gewesen zu verstehen, dass Konsens und Wahlen mit Mehrheitsentscheidung und anderen Herangehensweisen Taktiken sind, und dass es entscheidend ist unter ihnen auszuwählen, um das Prinzip der Selbstverwaltung zu erfüllen, und dazu die Idee, von Räten in verschiedenen Ebenen natürlich? Wie glauben Sie, hätte eine weit verbreitete Befürwortung davon, die derzeitige Praxis und die derzeitigen Programme beeinflussen können?
Adamovsky: Selbstverwaltung ist ein altes Ziel der anti-kapitalistischen Bewegungen in Argentinien und anderswo. Und, natürlich schließt die Idee der Selbstverwaltung die Idee der direkten Demokratie und von Räten mit ein. Aber auch in diesem Fall gibt es glaube ich hier in Argentinien und anderswo wenig praktische Erfahrung damit wie man Selbstverwaltung organisiert. Es ist ein weiter Weg von allgemeinen Prinzipien zu konkreter Organisation. Man nehme zum Beispiel die Entscheidungs-Findung durch Versammlungen oder Räte. Es gibt viel magisches Denken darüber: manche Leute neigen dazu zu glauben, dass alles was notwendig ist, so viele Leute wie möglich dazu zu bringen zu diskutieren und abzustimmen, und Bingo!, man wird immer das richtige Resultat haben.
Aber das ist nicht wahr, wie wir schmerzvoll erfahren. In meiner Versammlung standen wir zum Beispiel oft vor einer Situation, in welcher jeder das gleiche Recht hatte über eine gewisse Sache zu entscheiden (und jeder verteidigt dieses Recht leidenschaftlich), aber dann betreffen uns andererseits diese Entscheidungen wieder nicht alle im gleichen Ausmaß. Und diese nicht bewussten Unterschiede betreffen uns schließlich auf unerwartete Arten: Leute die sich gegenseitig beschuldigen, wenn etwas falsch läuft, usw.
Einmal hatten wir eine Abstimmung darüber, ob sechs von uns, welche für Hausfriedensbruch angeklagt worden sind, vor Gericht erscheinen sollten oder nicht; Das war eine Entscheidung, welche nur diese sechs Leute treffen hätten sollen. Aber niemand brachte dies damals zur Diskussion.
Ein anderes Beispiel: Ich erinnere mich wie ich vor nicht langer Zeit eine Unterhaltung mit einem Arbeiter von Grissinopolis hatte, einer der besetzten Fabriken, und sie standen vor ähnlichen Problemen. Der Grad des Einsatzes der ArbeiterInnen für das Projekt der Selbstverwaltung war sehr variabel – einige der ArbeiterInnen glaubten nicht daran, dass sie die Fabrik ohne ManagerInnen betreiben konnten, und waren daher nicht gewillt Verantwortungen zu übernehmen, während andere 24 Stunden am Tag und 7 Tage die Woche daran arbeiteten, um diesen Traum zu verwirklichen. Und dennoch hatten alle eine Stimme bei jeder einzelnen Entscheidung, was für den Arbeiter mit dem ich sprach, unfair schien. Er war offensichtlich aufgebracht und verwirrt. Zusammenfassend kann man sagen, dass wir noch keinen Weg gefunden haben Entscheidungsmacht mit dem jeweils echt vorhandenem Engagement oder mit den unterschiedlichen Konsequenzen unserer Entscheidungen in Verbindung zu setzen.
Das ist der Grund warum ich mich sofort zu den Ideen welche Parecon ausspricht hingezogen fühlte: dass Menschen Entscheidungen in dem Ausmaß beeinflussen sollten, wie sie von ihnen betroffen sind. Es ist ein sehr einfaches Prinzip, sehr einfach zu verstehen und in Bezug zu setzen, aber eines welches die ganze Logik und Praxis der Entscheidungfindung vollkommen verändert. Ich glaube, dass die politischen Strukturen welche Parecon vorschlägt – Räte auf unterschiedlichen Ebenen und mit unterschiedlichen Funktionen – auf eine ähnliche Art für die ArbeiterInnen in den besetzten Fabriken und ganz allgemein für die horizontalen Bewegungen sehr nützlich gewesen wären. Es hätte uns dabei geholfen konkrete und effiziente Arten herauszufinden um allgemeine Prinzipien (wie direkte Demokratie und Selbstverwaltung) in konkrete Praxis umzusetzen.
Albert: Wissen Sie wie die Entscheidungen in den besetzten Fabriken zurzeit getroffen werden? Es klingt so, als würden Entscheidungen in den Nachbarschaftsversammlungen meistens auf der Basis von Wahlen mit Mehrheitsentscheidung getroffen werden. Aber wie schaut es auf den Arbeitsplätzen aus? Und bei diesen, gibt es noch immer ManagerInnen und andere planende ArbeiterInnen, und neigen sie dazu die Agenda zu bestimmen, im Alltag die Macht zu haben, oder sogar mehr Stimmen oder anderweitige größeres Gewicht in größeren Entscheidungen zu haben, usw.? Glauben Sie, dass Treue zur Idee der Selbstverwaltung zu Veränderungen in diesen Belangen, den Zusammenhängen bei der Entscheidungsfindung, führen könnte, welche sich sonst wahrscheinlich nicht so spontan verändern, und sehr wahrscheinlich wieder in alte Muster zurückfallen?
Adamovsky: Auch in diesem Fall ist wieder jede Fabrik eine andere Welt. In den Fällen die ich kenne werden die großen Entscheidungen von ArbeiterInnenVersammlungen getroffen, in welchen jede Person eine Stimme hat und fünfzig Prozent plus eine Person entscheiden. Das heißt aber nicht, dass „planende ArbeiterInnen“ nicht dazu neigen, die Agenda zu bestimmen. So weit ich davon weiß, haben üblicherweise die politischen Figuren innerhalb der Fabriken, und jene mit mehr Wissen über die Produktionsprozesse, dazu, in der Praxis mehr Macht als der Rest.
Aber die Dynamik der Selbstverwaltung und der direkten Demokratie können dies manchmal umdrehen. Vor einigen Wochen entschieden sich zum Beispiel die ArbeiterInnen von Brukman (Textilien) gegen den Willen ihrer sichtbarsten SprecherInnen dagegen, irgendwelche ArbeiterInnen als KandidatInnen für linke Parteien antreten zu lassen. Während die Kongresswahlen 2003 heranrücken machten die trotskyistischen Parteien alles (mit eingeschlossen der Drohung mit Rückzug jeder Art von Unterstützung, auch finanzieller Art) um ArbeiterInnen von selbstverwalteten Fabriken dazu zu bringen als KandidatInnen anzutreten. Ihr Ziel ist es natürlich von der Legitimität welche diese ArbeiterInnen haben, zu profitieren. Celia, das wahrscheinlich aktivste und bekannteste Gesicht von Brukman, hatte Verbindungen mit der PTS (einer kleinen trotskyistischen Partei), und entschied sich als Kandiatin anzutreten. Aber ihre KollegInnen votierten, dies nicht zu erlauben, da Brukman nicht unter der Vormundschaft einer Partei sein sollte, sondern die Unterstützung von jedem suchen sollte. Es ist ziemlich interessant, dass die PTS dann den Wert der individuellen Freiheit „wieder entdeckte“, und jetzt argumentiert, dass die ArbeiterInnen-Versammlung hier nicht entscheiden kann, weil sie damit das „individuelle Recht“ Celias einschränken würde, zu tun was sie will...
Zusammenfassend kann man sagen, dass noch immer viel getan werden muss, um Entscheidungsmechanismen aufzubauen, welche Selbstverwaltung und Gleichberechtigung ermutigen und dabei ein Level an Effektivität und Fairness bieten. Auf den vorgestampften Pfad zurückzufallen ist immer eine starke Wahrscheinlichkeit. Selbstverwaltung real zu machen bedeutet harte und geduldige Arbeit, und ein starkes Engagement für eine politische Vision welche sich auf solche Prinzipien stützt.
Albert: Was ist mit ausgeglichenen Arbeitsaufteilungen? Glauben Sie, hätte es geholfen die verwendeten Strukturen, und vielleicht auch einige der Forderungen, die gemacht worden sind, zu finden, wenn die Idee einer neuen Aufteilung der Arbeit, um neue Methoden zur Entscheidungsfindung zu erlauben und zu unterstützen, und dadurch auch das mit ihnen verbundene Verständnis der Klassenbeziehungen zu bieten, welches nicht nur ArbeiterInnen und BesitzerInnen kennt, sondern auch die Koordinatorenklasse, vorherrschend gewesen wäre und sich als die Kämpfe zunahmen ausgeweitet hätte?
Adamovsky: Was das angeht gibt es eine fast intuitive Tendenz hin zum Prinzip, dass Menschen die schweren und unangenehmen Aufgaben teilen sollten. In meiner Versammlung reagieren die ArbeiterInnen sofort mit Ablehnung, wenn jene mit besserer Ausbildung oder höherem sozialen Hintergrund nicht dabei mithelfen die Böden zu reinigen, zu kochen, schwere Gegenstände zu heben, usw.
Genauso weiß ich, dass einige der Piquetero Gruppen [diesem Problem] große Aufmerksamkeit widmen, und auch allgemeiner dem Versuch, jeden fähig zu machen die kompliziertesten und qualifiziertesten Aufgaben durchzuführen – was auch politische Fähigkeiten mit einschließt.
Im Allgemeinen mögen die Leute in den Bewegungen die „KoordinatorInnen“ oder „mandones“ nicht (also jene, welche sich wie Chefs verhalten), auch wenn die Idee, dass es so etwas wie eine „Koordinatorenklasse“ gibt überhaupt nicht üblich ist. Ich weiß auch, dass die ArbeiterInnen in den besetzten Fabriken einige der Aufgaben teilen welche zuvor im alleinigen Bereich spezialisierter ArbeiterInnen oder von vollkommen unausgebildeten ArbeiterInnen waren. Aber die alten Angewohnheiten sterben nur langsam aus. Besonders in einem marktwirtschaftlichen Klima mit all den Meldungen welche die Medien übertragen und mit all dem Rest, was dieses Klima verstärkt. Wenn die Bewegungen in Argentinien eine klar ausformulierte Logik für die Veränderung der Arbeitsaufteilung hätten, und besonders was die Einsicht betrifft, warum mit klassenlosen Arbeitsaufteilungen nicht nur die Arbeit besser als zuvor gemacht werden würde, sondern was sogar noch wichtiger ist, alle Arten von brutalen Hierarchien zerstört werden würden, würde es sogar jenen helfen, welche am engagiertesten für diese Veränderungen arbeiten, und es würde auch sicherlich jedem anderen helfen gegen die alten Gewohnheiten zu kämpfen, und auch gegen die Leute, welche diese beibehalten wollen. Wenn man dieses Thema in die Perspektive einer alles umfassenden Vision so wie sie Parecon vorschlägt stellen würde, wäre dies sicherlich hilfreich.
Albert: Sie scheinen zu sagen, dass die Beteiligten aus der Arbeiterklasse in diesen Bewegungen sich mit der Idee die Privilegien und Macht der Koordinatorenklasse abzuschaffen anfreunden würden – aber glauben Sie, dass sie dies tun würden, indem sie ausgeglichene Arbeitsaufteilungen einführen würden? Und wie viel Widerstand, glauben Sie, gäbe es von gut ausgebildeten und sich in einer Machtposition befindenden KoordinatorInnen, wenn diese Art der Orientierung beginnen würde sich stark bemerkbar zu machen?
Adamovsky: Das führt vielleicht ein bisschen zu weit. Es ist eine Sache die KoordinatorInnen nicht zu mögen (und die meisten ArbeiterInnen mögen sie nicht). Aber es gibt eine ziemliche Kluft zwischen dieser Abneigung und dem Vorschlag die Koordinatorenklasse abzuschaffen. Einer der durchdringenden Wirkungen des Kapitalismus ist, dass die ArbeiterInnen in einem solchen Ausmaß entmachtet werden, dass sie nicht mehr glauben, ihre eigenen „ManagerInnen“ sein zu können. Ein Arbeiter von Grissinopolis erzählte mir mit einem traurigem Ausdruck im Gesicht wie schwierig es sei seine ArbeitskollegInnen davon zu überzeugen, dass sie die Firma selbst betreiben können. Anfangs dachten sie er wäre verrückt. Manche ArbeiterInnen brauchten sehr lange um herauszufinden, dass sie nicht schlechter waren als irgendwelche von den ManagerInnen die zuvor da waren, und dass, sie den Job sogar viel besser konnten. Tatsächlich haben sich die Hälfte der ArbeiterInnen entschieden das Schiff zu verlassen und einen „normalen“ Job unter „normalen“ ManagerInnen zu suchen.
Ich kann mir vorstellen, dass der Widerstand gegen das Prinzip von ausgeglichen Arbeitsaufteilungen sehr stark sein würde, nicht nur von Seiten der KoordinatorInnen, welche ihre Privilegien verteidigen würden, sondern auch von den ArbeiterInnen. Menschen die sich entmachtet fühlen neigen dazu sich auf die „Erfahrung“ und das „Wissen“ jener zu verlassen, bei denen das nicht der Fall ist. Und es ist einfach eine Tatsache, dass niemand nur durch einen Akt des Willens ein „Manager“ oder eine „Managerin“ seiner selbst werden kann. Alle relativ komplizierten sozialen Unternehmen – sei es die Leitung eines Unternehmens, die Organisierung eines politischen Ereignisses, usw. – benötigen ein gewisses Wissen, Vertrauen und Erfahrung, ohne welche die ganze Sache wahrscheinlich schiefgehen wird.
Wenn Menschen also glauben, dass sie nicht die Fähigkeiten für etwas haben, werden sie „freiwillig“ eine Koordinatorin oder einen Koordinator herbeirufen. Das passierte mir in der Versammlung oft. Weil ich ein guter Redner bin wollten meine Freunde und Freundinnen, dass ich sie vertrete, wenn das notwendig ist. Aber natürlich gab mir das die Möglichkeit mich als Redner zu verbessern, während die anderen still blieben, was die Ungleichheit in diesem speziellen Gebiet wiederholte und verstärkte. Also entschied ich mich an einem Punkt, dass ich mich bei einigen Gelegenheiten weigern würde die Versammlung zu vertreten, was andere Menschen dazu „zwingen“ würde hervorzukommen und es selbst zu probieren. Das witzige ist, dass ich einem Druck von ihnen widerstehen musste, die Koordinator-ähnliche Rolle zu behalten, und manchmal wurden sie sogar ärgerlich. „Du kannst das besser, warum machst du das nicht“, würden sie sagen. Für einige von ihnen war das Wagnis Kontrolle und Verantwortung zu übernehmen schmerzlich, und es war viel einfacher, sich auf jemand anderen zu verlassen.
Aber natürlich liebten sie es und gaben es nie wieder auf, nachdem sie ihre Trägheit überwunden und herausgefunden hatten, dass sie selbst dazu fähig sind neue Dinge zu machen.
Zusammenfassend könnte man glaube ich sagen, dass der Widerstand gegen das Prinzip von ausgeglichenen Arbeitsaufteilungen wahrscheinlich sowohl von oben als auch von unten sehr stark sein wird. Es wird wahrscheinlich eine lange und geduldige Arbeit jener, welcher sich diesem Ziel gewidmet haben nötig sein, um ihr Wissen zu teilen und andere selbstständig zu machen, ohne sich selbst als KoordinatorInnen zu etablieren. Es ist eine riskante Sache, denn in der langen Übergangsphase könnten die KoordinatorInnen von den von unten kommenden Forderungen wie ich sie gerade beschrieben habe profitieren, um eben wieder ein Koordinatorentum zu kreieren. Parecon ist in diesem Zusammenhang ein notwendiger visionärer Aussichtspunkt, denn es bietet eine klare Analyse der negativen Effekte sowohl der besitzenden, als auch der koordinierenden Klassen.
Albert: Sie erwähnten die Existenz verschiedener leninistischer, trotskyistischer, und anderer Parteien alten Stils, mit Mitgliedern welche auch bei den anderen Unternehmungen mitmischen. Ohne Zweifel gab es ernsthafte Konflikte. Glauben Sie, dass weit verbreitete Klarheit über die Ablehnung von Koordinatorentum, was oft marktwirtschaftlicher oder zentral geplanter Sozialismus genannt wird, die Teile der Bewegung gegen die zentralisierteren Teile gestärkt hätte, welche sich mehr auf Mitwirkung und Demokratie verlassen? Würde die Forderung, dass unsere Projekte Strukturen haben sollten, welche unsere Werte verkörpern, und mit unseren Zielen verträglich sind, Druck auf das Verhalten und die Strukturen dieser Parteien ausüben, und dadurch auch Ansätzen welchen diesen entgegengesetzt sind helfen?
Adamovsky: Ohne Zweifel. In der Erfahrung mit meiner Versammlung, hatten einige Leute von Anfang an Vorurteile gegen linke Parteien, andere hatten keine. Aber in beiden Fällen verteidigten sie die Autonomie und Horizontalität der Versammlung gegen linkes Koordinatorentum, wie Sie es nennen. Das war und ist noch immer ein andauerndes Thema in den meisten Versammlungen – Ich habe gerade ein E-Mail von einer Versammlung in einer anderen Nachbarschaft bekommen, mit der Verlautbarung, dass nach unzähligen Problemen, die Mitglieder der Trotskyite Partido Obrero darum gebeten werden die Versammlung zu verlassen und nicht mehr zurück zu kommen!
Als die Mitglieder der Versammlung gegen linkes Koordinatorentum ankämpften, stießen wir auf Texte und Ideen, welche uns halfen ein Bewusstsein darüber zu gewinnen, dass nicht-hierarchische Strategien möglich sind, und dass die Linke was dieses Thema angeht überall auf der Welt ziemlich gespalten ist. Unzweifelhaft hätte Parecon eine ähnliche Auswirkung gehabt. Es würde den Menschen helfen mehr Vertrauen in unsere eigene nicht-hierarchischen Politik zu gewinnen und in das Prinzip, dass die Art wie wir heute kämpfen so aussehen muss, wie wir wollen, dass die Zukunft aussieht. Mittel und Ziele können nicht auseinanderklaffen.
Albert: In ihrer kurzen Beschreibung der Dinge die passiert sind, sah ich nicht viel über Kämpfe innerhalb existierender Arbeitsplätze, welche nicht vollkommen übernommen worden sind. Kämpfe gegen BesitzerInnen und ManagerInnen um bessere Bedingungen, Löhne, mehr Mitspracherecht, und so weiter. Gibt es diese Art von Kampf innerhalb existierender Regierungsinstitutionen und privater Korporationen in Argentinien? Ist er mit den Bewegungen welche Sie beschrieben haben verbunden? Und glauben Sie, dass Werte in der Art von Parecon bei diesen Kämpfen und bei diesen Verbindungen mithelfen hätten können?
Adamovsky: Der traditionelle Arbeitskampf ist, wie Sie wissen, in Zeiten wirtschaftlicher Krise und hoher Arbeitslosigkeit besonders schwierig. In Argentinien sind über 25% der Bevölkerung ohne Arbeit, was sicherlich viele ArbeiterInnen daran hindert zu streiken, oder auf andere Art innerhalb ihrer Betriebe Widerstand zu leisten. Man muss hier noch die Tatsache hinzufügen, dass die meisten Gewerkschaften nicht viel mehr als eine Mafia sind, und man kann sich ein Bild davon machen, wie schwierig die Lage für die ArbeiterInnen ist. Und dennoch hat es auf diesem Gebiet einige interessante Entwicklungen gegeben.
Einige Gewerkschaften – zum Beispiel SIMECA, eine neue Gewerkschaft von Nachrichtenübermittlern und Laufburschen – begann sich auf horizontale Art zu organisieren, während die ArbeiterInnen einiger Teile von Telefonica (eines der beiden großen Telefonunternehmen in Argentinien) monumentale Streiks sowohl gegen die BesitzerInnen als auch gegen die offiziellen Gewerkschaften durchführten. Es gibt viele weitere Beispiele. Insofern als diese Kämpfe von den offiziellen Gewerkschaften ignoriert (oder sogar angegriffen) werden, bauen sie natürlich Verbindungen mit den Piquetero- und Versammlungs-Bewegungen auf. Es gibt viele Verbindungen, alle diese Gruppen unterstützen einander und teilen ihre Ideen.
Für diese Menschen, wie schon in den zuvor erwähnten Fällen, bietet Parecon sowohl praktische Ideen für die nächste Zeit, als auch eine Aussicht auf eine wünschenswerte Zukunft.
Ich glaube, dass die stärksten Antriebe der Emanzipation die Legenden über vergangene Kämpfe und über die mögliche Zukunft sind. Parecon steht in der alten Tradition utopischer Visionen, aber es lässt die Utopie vollkommen realistisch aussehen, wie sie auf uns eben dort um die Ecke wartet.
Quelle: ZNet 04.08.2003