Im September 2002 trugen sich drei Dinge zu, die eng miteinander verbunden und von beträchtlicher Wichtigkeit sind: Erstens, der mächtigste Staat in der Geschichte, die USA, gaben ihre neue nationale Sicherheitsstrategie bekannt, mit der sie permanente Globalhegemonie beanspruchen. Jede Herausforderung soll gewaltsam abgeblockt werden - und Gewalt ist eine Dimension, in der die USA alleine herrschen. Gleichzeitig setzten die Kriegstrommeln ein - die Bevölkerung sollte für eine Irak-Invasion mobilisiert werden. Und (dritter Punkt) die Kampagne startete ausgerechnet zur Zeit der Kongress-Zwischenwahlen, die darüber entschieden, ob die Regierung mit ihrer radikalen internationalen wie innenpolitischen Agenda fortfahren konnte. Die neue “imperiale Großstrategie”, wie John Ikenberry sie in einem Beitrag für das führende Journal des Establishment umgehend nannte, sieht die USA als “... revisionistischen Staat, der seine momentanen Vorteile in eine Weltordnung umzusetzen sucht, in der er die Show bestreitet”; es geht um eine unipolare Welt, in der “kein Staat oder Bündnis je seine Rolle (die Rolle der USA) als globaler Führer, Protektor und Durchdrücker anfechten kann”. (1) Diese Politik sei jedoch mit Gefahren überfrachtet, so Ikenberrys Warnung - selbst für die USA - und viele Eliten der Außenpolitik sind derselben Meinung. Worum es geht: Es geht um den Schutz der Macht der USA bzw. der Interessen, für die die USA stehen - nicht um den Schutz der Welt. Die Welt stellte sich dem Konzept vehement entgegen.
Einige Monate später ergaben Untersuchungen, dass die Angst vor den USA inzwischen erstaunliche Ausmaße angenommen hatte, gleichzeitig wurde der politischen Führung Amerikas Misstrauen entgegengebracht. Im Dezember ergab eine internationale Gallup-Umfrage, in den USA kaum zur Kenntnis genommen, dass die von Washington ausgegebenen Pläne zum Irak-Krieg - unilateral durchzusetzen von Amerika u. dessen Verbündeten (im Endeffekt eine USA-Großbritannien-Koalition) - sogut wie keine Unterstützung fanden. Den Vereinten Nationen erklärte Washington, sie könnten eine Rolle spielen, falls sie die US-Pläne unterstützten - ansonsten seien sie ein Debattier-Club. Die USA hätten das “souveräne Recht zur Durchführung militärischer Aktionen”, so Colin Powell (innerhalb der US-Administration der Moderate) beim Weltwirtschaftsforum, doch auch das Forum stellte sich vehement gegen die Kriegspläne. “Wenn uns etwas äußerst wichtig ist, werden wir die Führung übernehmen, auch wenn uns niemand folgt.” (2) Auf ihrem Azoren-Gipfel, am Vorabend der Invasion, machten Präsident Bush und Großbritanniens Premierminister Blair ihre Geringschätzung des internationalen Rechts u. der internationalen Institutionen deutlich. Sie stellten ein Ultimatium - nicht etwa dem Irak, sondern dem UN-Sicherheitsrat: Entweder ihr kapituliert oder wir marschieren ein, auch ohne euern ohnedies bedeutungslosen verbrieften Segen - und unabhängig davon, ob Saddam Hussein und seine Familie den Irak verlassen. (3) Das entscheidende Prinzip: die USA mussten den Irak beherrschen und zwar effektiv. Präsident Bush: die USA “haben die souveräne Autorität zur Gewaltanwendung, wenn es um die Gewährleistung der eigenen nationalen Sicherheit geht ” und die sei durch den Irak - mit oder ohne Saddam - nunmal gefährdet, so die Bush-Doktrin. Ansonsten genügt den USA eine ‘arabischen Fassade’ (der Terminus stammt aus der goldenen Zeit der Briten), während sie ihre Macht fest im Herzen jener Region verankern, die als der weltweit wichtigste Energielieferant gilt. Formale Demokratie - in Ordnung - aber nur in submissiver Form (so lehren uns jedenfalls Geschichte und gängige Praxis), jene Form, wie sie die USA auch in ihrem Hinterhof dulden.
Die Großstrategie autorisiert eine präventive Kriegsführung der USA - präventiv, nicht prä-emptiv. Wie immer man einen prä-emptiven Krieg rechtfertigen mag, beim Präventivkrieg geht das nicht mehr, vor allem, wenn man sieht, wie das Konzept von aktuellen Enthusiasten ausgelegt wird: militärische Gewalt zur Eliminierung einer Bedrohung, die man selbst erfindet bzw. imaginiert. Selbst der Ausdruck “präventiv” ist in diesem Zusammenhang noch geschmeichelt. Präventivkrieg ist schlicht jenes schlimmste aller Verbrechen, wie es in Nürnberg verurteilt wurde. Menschen, die um ihr Land (USA) besorgt sind, begriffen diese Tatsache. Als die USA im Irak einmarschierten, schrieb der Historiker Arthur Schlesinger, Bushs Großstrategie ähnele “in alarmierender Weise jener Politik, deren sich das imperiale Japan damals in Pearl Harbor befleißigte, eine Zeit, der man als infam gedenkt, wie von einem früheren amerikanischen Präsidenten (Franklin D. Roosevelt) vorhergesagt”. Und es überrasche auch keineswegs, so Schlesinger, dass sich “die globale Welle der Sympathie, die die USA nach dem 11./9. umgab, zur globalen Welle des Hasses gegenüber Amerikas Arroganz und Militarismus wandelte” - bzw. zu der Ansicht, Bush sei “eine größere Bedrohung für den Frieden als Saddam Hussein.” (4). Was unsere politische Führung angeht - sie besteht zum großen Teil aus Recyclingprodukten früherer Administrationen, das heißt, des reaktionäreren Teils der Administrationen Reagan u. Bush senior. Für diese Leute stellt die globale Welle des Hasses kein wirkliches Problem dar. Sie wollen gefürchtet sein - nicht geliebt. Für Verteidigungsminister Donald Rumsfeld ist es zum Beispiel völlig in Ordnung, den Chicagoer Gangster Al Capone zu zitieren: “Mit netten Worten und einer Knarre erreichst du mehr als mit netten Worten allein”. Wie ihre Kritiker aus dem Establishment ist diesen Leuten bewusst, dass ihre Handlungsweisen dem Risiko der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen (WMD) bzw. dem Terror-Risiko Vorschub leisten. Auch das stört sie nicht wesentlich. Denn einen viel höheren Rang auf ihrer Prioritätenliste bekleiden Ziele wie globale Hegemonie und Durchsetzung der innenpolitischen Agenda (die darin besteht, die progressiven Errungenschaften, die sich das Volk in hundert Jahren erkämpfte zu zerstören und diese herbeigeführte radikale Kehrtwende so zu institutionalisieren, dass jene Errungenschaften nur schwer rückeroberbar sind).
Eine Hegemonialmacht deklariert ihre offizielle Politik - das alleine reicht indes nicht. Vielmehr muss sie ihre Politik dem internationalen Recht als neue Norm einverleiben - indem sie einen Präzendenzfall schafft. Distinguierte Kommentatoren erläutern anschließend, das Recht sei nunmal ein lebendiges, flexibles Instrument. Auf diese Weise wird die neue Norm zum Handlungsmaßstab. Aber nur diejenigen schaffen neue Normen und modifizieren internationales Recht, die die Waffe in der Hand halten. Zielopfer wählt man nach mehreren Kriterien aus. Das Ziel muss zum einen wehrlos sein, andererseits lohnend, der Mühe wert, dann natürlich eine unmittelbare Bedrohung für unser Überleben und viertens ein ultimatives Übel. Der Irak erfüllte all diese Kriterien. Was die beiden ersten Kriterien anbelangt, so ist es offensichtlich. In puncto Kriterium Nummer 3 hatte es genügt, die Reden von Bush, Blair und Konsorten ständig zu wiederholen - in denen behauptet wird: der Dikatator “baut die gefährlichsten Waffen der Welt, (um) zu dominieren, einzuschüchtern oder anzugreifen”. Er “hat sie schon gegen ganze Dörfer eingesetzt, wodurch tausende seiner Bürger getötet wurden, geblendet oder verstümmelt. Wenn das nicht das Böse ist, dann gibt es das Böse nicht”. Klingt nur zu wahr - Bushs eloquente Verurteilung. Aber dann dürfen auch jene nicht ungeschoren bleiben, die dem Bösen auf die Sprünge halfen, allen voran Bush, mit seinen (obigen) erhabenen Worte, seine jetzigen Partner und jene, die mitmachten, als diese Leute die Personifizierung des ultimativ Bösen, Saddam Hussein, jahrelang unterstützten (da hatte Saddam schon längst diese üblen Verbrechen begangen, u. auch der erste Irakkrieg war vorbei). Wir haben ihn unterstützt, weil wir uns verpflichtet fühlten, den amerikanischen Exporteuren zu helfen, so die Regierung Bush senior damals.
Beeindruckend, wie leicht es den politischen Führern fällt, die schlimmsten Verbrechen des Monsters Saddam aufzuzählen - ohne den wichtigen Zusatz “mit unserer Hilfe, weil uns diese Dinge nicht scheren”. Erst als Freund Saddam sein erstes ‘wirkliches’ Verbrechen beging - Befehlsverweigerung (vielleicht hat er den Befehl auch nur falsch verstanden) - und in Kuwait einmarschierte, wandelte sich Unterstützung zu Brandmarkung. Die Strafe fiel hart aus - hart für Saddams Untertanen. Der Tyrann selbst kam ungeschoren davon. Und das Sanktionen-Regime, auferlegt durch die Ex-Verbündeten, stärkte ihn weiter. Auch war es ein Leichtes, die Gründe unter den Teppich zu kehren, weshalb die USA unmittelbar nach dem Golfkrieg Saddam erneut unterstützten, als er jene Rebellionen niederschlug, die zu seinem Sturz hätten führen können. Der ‘Chief Diplomatic Correspondent’ der New York Times, Thomas Friedman, erklärte hierzu: das beste Szenario für die USA wären “eine irakische Junta, die mit eiserner Faust regiert, aber ohne Saddam Hussein”. Dieses Ziel schien nicht in Aussicht, also gab man sich mit der zweitbesten Variante zufrieden (5) - und die Rebellen waren zum Scheitern verurteilt. Die USA und ihre Verbündeten teilten “in erstaunlicher Einmütigkeit die Auffassung, welche Sünden der irakische Führer auch immer begangen hatte, für den Westen und die Region stelle er eine vielversprechendere Hoffnung auf Stabilität seines Landes dar als jene, die unter seiner Repression litten”. (6) In der Kommentierung der Massengräber - Massengräber, in denen die Opfer jenes von den USA autorisieren Terrorwütens Saddam Husseins liegen -, war davon allerdings keine Rede. Und diese Kommentierung diente der Rechtfertigung eines Kriegs aus “moralischen Gründen”. Schon 1991 war dies alles bekannt gewesen - und wurde aus Gründen der Staatsräson verschwiegen.
Es galt, eine zögerliche US-Bevölkerung in die richtige Kriegsstimmung, in ein Kriegsfieber, zu treiben. Seit September (2002) wurden grimme Warnungen ausgegeben, Saddam u. seine Verbindungen zu Al Kaida stellten eine ungeheuerliche Bedrohung für die USA dar. Plumpe Andeutungen wurden gemacht, er stehe mit den Anschlägen vom 11. September in Verbindung. Etliche der Anschuldigungen, den Medien “vor die Nase gehalten, fielen beim Lächerlichkeitstest durch”, so die Editorin des ‘Bulletin of Atomic Scientists’, “aber je lächerlicher (sie waren), desto mehr strengten sich die Medien an, kritikloses Schlucken zum Patriotismus-Test zu erklären”. (7) Und die Propaganda-Attacke zeigte Wirkung. Nur Wochen später sahen die Mehrheit der Amerikaner in Saddam Hussein eine unmittelbare Bedrohung für die Vereinigten Staaten. Und fast die Hälfte der Amerikaner glaubte schon bald, der Irak stehe hinter dem Terror des 11. September. Mit diesem Glauben korrelierte die Kriegsunterstützung. Und die Propaganda-Kampagne schaffte noch etwas: Sie verschaffte der Regierung eine einfache Mehrheit bei den Zwischenwahlen (Kongress). Dinge, die für die Wähler von unmittelbarer Bedeutung waren, gerieten in den Hintergrund. Alles sammelte sich nun unter dem beschirmenden Dach der Macht - aus Furcht vor einem dämonischen Feind.
Der brillante Erfolg dieser Öffentlichkeitsarbeit trat deutlich zutage, als Bush, wie es ein Kommentator beschrieb, “am 1. Mai sein starkes reaganeskes Sechs-Wochen-Kriegs-Finale an Deck des Flugzeugträgers Abraham Lincoln absolvierte”. Da spielt er offensichtlich auf die stolze Deklaration Präsident Ronald Reagans im Jahr 1983 an - nach dem Sieg über Grenada, der Welt-Muskatnuss-Metropole: Amerika “steht stolz da”. Man habe die Russen davon abgehalten, Grenada zur Bombardierung der USA zu benutzen. Der Reagan imitierende Bush konnte nun also frei und ohne Furcht vor skeptischen Heimat-Kommentaren erklären, er habe einen “Sieg in einem Krieg gegen den Terror (errungen), (indem wir) einen Al-Kaida-Verbündeten beseitigten”. (8) Da spielt auch keine Rolle, dass es keinen glaubwürdigen Beweis für die (angebliche) Verbindung zwischen Saddam Hussein und seinem erbitterten Feind Osama bin Laden gab u. kompetente Beobachter dies auch von der Hand wiesen. Und noch eine Tatsache spielte keine Rolle: Die einzig bekannte Verbindung zwischen diesem Sieg und dem Terror ist, dass die Invasion zu einem “massiven Rückschlag im Krieg gegen den Terror” (so US-Offizielle) geführt hat. Seither habe die Zahl der Rekrutierungen für Al Kaida massiv zugenommen. (9)
Das Wall Street Journal erkannte, Bushs sorgfältig inszenierte Flugzeugträger-Posse “markiert den Beginn seiner Wiederwahlkampagne 2004", von der das Weiße Haus hofft, dass sie sich “möglichst um nationale Sicherheitsthemen dreht”. Dementsprechend wird sich der Wahlkampf auf “die Schlacht um Irak” konzentrieren, “nicht auf den Krieg”, so der republikanische Chef-Politstratege Karl Rove. Er erklärt: der Krieg muss weitergehen - wenn auch nur, um die Bevölkerung Zuhause unter Kontrolle zu halten. (10) Bereits vor der Wahl 2002 hatte Rove die Parteiaktivisten instruiert, sich auf Sicherheitsthemen zu konzentrieren und von innenpolitischen republikanischen Themen abzulenken; sie sind unpopulär. Für die recycelten Reaganiten in Amt und Würden versteht sich das ohnehin von selbst. Wie anders hätten sie während ihrer ersten Amtszeit die politische Macht behaupten können? Ständig hatten sie Panikalarm gegeben - um öffentlichen Widerstand gegen eine Politik zu verhindern, die Reagan 1992 zum unbeliebtesten lebenden Präsidenten aller Zeiten machte. Zu jenem Zeitpunkt war Reagan wohl unpopulärer als Richard Nixon.
Aber trotz ihrer kurzfristigen Erfolge. Letztlich vermochte es die intensive Propagandakampagne nicht, die Öffentlichkeit fundamental umzupolen. Wenn es um internationale Krisen geht, bevorzugen die meisten Leute nach wie vor die Führungsrolle der UN - nicht der USA. Und 2 von 3 sind der Ansicht, die UN - nicht die USA - sollten den Wiederaufbau im Irak leiten. (11) Die okkupierende Koalitions-Armee hat es nicht geschafft, WMDs zu finden. Daraufhin änderte sich die Haltung der US-Regierung - von: man sei sich absolut sicher, der Irak besitze Massenvernichtungswaffen, zu: die Beschuldigungen waren “gerechtfertigt durch das Auffinden von Gerätschaften, die potenziell zur Waffenproduktion geeignet gewesen wären” (12). Hohe Offizielle schlugen nun ein raffinierteres Präventivkriegskonzept vor, um den USA das ‘Recht’ zu geben, ein Land anzugreifen, das “tödliche Waffen in Massenquantität” besitzt. Diese überarbeitete Version “sieht vor, dass die Regierung gegen ein feindliches Regime vorgehen kann, auch wenn dieses lediglich die Absicht und Möglichkeit zur Entwicklung von WMDs hat”. (13) Die schwerwiegendste Konsequenz des Kollapses des proklamierten Invasionsarguments besteht also darin, dass die Schwelle im Hinblick auf Gewaltanwendungskriterien erniedrigt wurde.
Der wohl spektakulärste Propagandaerfolg liegt in der Begeisterung für Bushs Vision, dem Nahen/Mittleren Osten die Demokratie zu bringen - begleitet von einem unglaublichen Schauspiel an Demoktratieverachtung und Demokratiehass - etwas, was auch Washingtons Unterscheidung zwischen Altem und Neuem Europa widerspiegelt. Das Alte Europa hat man geschmäht, das Neue für seinen Mut gepriesen. Das Unterscheidungskriterium war klar: Altes Europa - das sind jene Regierungen, die sich in puncto Irakkrieg mit der Mehrheit ihrer Bevölkerung gemein machen. Die Helden des Neuen Europa hingegen befolgten brav die Befehle aus Crawford/Texas u. ignorierten großenteils die Position der Mehrheit ihrer Bürger, die sich gegen den Krieg wandten. Und diese Mehrheit war noch beeindruckender (als im Alten Europa). Politische Kommentatoren zogen über das aufmüpfige Alte Europa und dessen Psycho-Malaisen her, während unser Kongress zur billigen Farce verkam. Richard Holbrooke (der frühere US-Botschafter bei der UNO), am liberalen Rand des Spektrums angesiedelt, hob denn auch den “äußerst wichtigen Punkt” hervor, die acht ursprünglichen Länder des Neuen Europa besäßen gegenüber dem Alten Europa eine Bevölkerungsmehrheit. Dies belege, dass Frankreich und Deutschland im Grunde “isoliert” seien. Natürlich kann man das so sehen, aber andererseits existiert die linksradikale Häresie, in einer Demokratie müsse die Öffentlichkeit eine gewisse Rolle spielen. Thomas Friedman drängte, Frankreich müsse seinen permanten Sitz im Sicherheitsrat verlieren. Es befinde sich “im Kindergarten und könne nicht wirklich gut mit den anderen spielen”. Dementsprechend wäre die Bevölkerung des Neuen Europa auf Kinderkrippenniveau - sieht man sich die Umfrageergebnisse an. (14)
Besonders lehrreich der Fall Türkei. Die türkische Regierung widerstand dem massiven Druck der USA. Sie sollte sich als demokratisch beweisen, indem sie dem amerikanischen Befehl gehorchte und 95 Prozent der eigenen Bevölkerung ignorierte. Doch die Türkei verweigerte die Kooperation. Die Kommentatoren in den USA bebten vor Zorn - angesichts dieser Lektion in Sachen Demokratie. Sie bebten, bis sich manche dazu hinreißen ließen, über die türkischen Verbrechen in den 90gern, gegen die Kurden, zu berichten - bis dahin ein Tabu-Thema, schließlich spielten die USA bei diesen Geschehnissen eine entscheidende Rolle (was in den Lamentos allerdings tunlichst verschwiegen wurde). Paul Wolfowitz, unser stellvertretender Verteidigungsminister, brachte es auf den Punkt, indem er dem türkischen Militär die Schuld gab - weil es “nicht die starke Führungsrolle übernahm, wie wir sie erwartet hätten”. Damit will er sagen, das Militär hat nicht interveniert, es hielt die türkische Regierung nicht davon ab, der fast einstimmigen öffentlichen Meinung Rechnung zu tragen. Dadurch musste die Türkei vortreten u. erklären: “Wir haben einen Fehler gemacht - lasst uns überlegen, wie wir den Amerikanern doch noch möglichst von Nutzen sein können”. (15) Vielsagend ist Wolfowitz Haltung vor allem, weil er ja ständig als die führende Kraft beim Kreuzzug der US-Regierung zur Demokratisierung des Nahen/Mittleren Ostens porträtiert wurde.
Die Wut auf das Alte Europa hat tiefe Wurzeln; sie reichen viel tiefer als ‘Demokratieverachtung’. Die USA standen dem europäischen Einigungsprozess schon immer mit einer gewissen Ambivalenz gegenüber. Bereits in seiner ‘Year of Europe’ Rede vor 30 Jahren erteilte Henry Kissinger den Europäern den Ratschlag, ihren regionalen Verpflichtungen “innerhalb des übergreifenden, ordnenden Rahmens, den die USA managen”, nachzukommen. Europa soll es wohl nicht erlaubt sein, einen eigenständigen, unabhängigen Kurs zu verfolgen - mit Frankreich u. Deutschland als finanz-industriellem Kernstück. Inzwischen macht sich die US-Regierung aber auch Sorgen über Nordost- Asien - die mittlerweile weltweit dynamischste Wirtschaftsregion. Mit ihren großen Ressourcen u. entwickelten industriellen Ökonomien stellt sie eine potenzielle Integrations-Region dar, die vielleicht mit dem Gedanken spielt, den allumfassenden Rahmen der Weltordnung infrage zu stellen. Diese Weltordnung aber beansprucht Dauerbestand - wenn nötig, wird man das gewaltsam sicherstellen - so wie von Washington deklariert.
(1) John Ikenberry, Foreign Affairs, Sept.-Okt. 2002
(2) Wall Street Journal, 27. Januar 2003
(3) Michael Gordon, The New York Times, 18. März 2003
(4) Los Angeles Times, 23. März 2003
(5) The New York Times, 7. Juni 1991. Alan Cowell, The New York Times, 11. April 1991
(6) The New York Times, 4. Juni 2003
(7) Linda Rothstein, editor, Bulletin of Atomic Scientists, Juli 2003
(8) Elisabeth Bumiller, The New York Times, 2. Mai 2003; transcript
(9) Jason Burke, The Observer, London, 18. Mai 2003
(10) Jeanne Cummings u. Greg Hite, Wall Street Journal, 2. Mai 2003. Francis Clines, The New York Times, 10. Mai 2003
(11) Program on International Policy Attitudes, University of Maryland, 18. - 22. April
(12) Dana Milbank, Washington Post, 1. Juni 2003
(13) Guy Dinmore u. James Harding, Financial Times, 3./4. Mai 2003
(14) Lee Michael Katz, National Journal, 8. Februar 2003; Friedman, The New York Times, 9. Februar 2003
(15) Marc Lacey, The New York Times, 7./8. Mai 2003
Quelle:Znet Deutschland