Kürzlich, in einer Polizeiwache in Fallujah, wurde ich des Ausmaßes der Schizophrenie gewahr. Captain Christopher Cirino von der 82. Luftlandeeinheit versuchte mir zu erklären, was es mit den allzu regelmäßigen Angriffen auf amerikanische Truppen in dieser von sunnitischen Moslems dominierten Stadt im Irak auf sich hat. Seine Männer waren weiter unten an der Straße in einer ehemaligen Präsidialen Erholungsstätte - von den Amerikanern "Dreamland" genannt- einquartiert. Doch ihre Desorientierung ging noch tiefer. "Die Leute, die uns angreifen, sind in Syrien ausgebildete Terroristen und örtliche Freiheitskämpfer," sagte er. Wie bitte? "Freiheitskämpfer." Genau so hat Captain Cirino sie betitelt - zurecht.
Und das aus folgendem Grund. Alle amerikanischen Soldaten sollen, ja müssen zusammen mit ihrem Präsidenten und seinem Verteidigungsminister Donald Rumsfeld glauben, dass Osama bin Ladens "al-Qa'ida" Guerillas, die von Syrien, dem Iran und Saudi Arabien aus über die irakische Grenze strömen, die Vereinigten Staaten im Rahmen des "Krieges gegen den Terror" attackieren (- Man beachte, dass die Verbündeten unter Iraks Nachbarn, Kuwait und die Türkei, bei diesen Aufzählungen stets fehlen). Offiziere erklären dieser Tage ihren Sondereinsatzkommandos, dass der "Krieg gegen den Terror" nunmehr von Amerika nach dem Irak verlegt worden ist, so als ob auf wundersame Weise der 11. September 2001 nun der Irak des Jahres 2003 geworden ist. Man beachte zudem, wie die Amerikaner niemals Beschuldigungen gegen Irakis aussprechen - es sei denn, der US-Prokonsul Paul Bremer kann sie als "Reste der Baath Partei", "Unverbesserliche" oder "verzweifelt Gestrige" identifizieren.
Captain Cirinos Problem besteht natürlich darin, dass er einen Teil der Wahrheit kennt. Gewöhnliche Irakis - viele davon seit Langem Feinde Saddam Husseins - attackieren die amerikanischen Besatzer alleine im Bereich Bagdad 35 mal am Tag. Noch dazu arbeitet Captain Cirino in Fallujahs örtlicher Polizeiwache, wo die von den USA neu angeheuerten irakischen Polizisten die Brüder, Onkel und zweifelsfrei auch die Väter einiger derer sind, die nun den Guerillakrieg gegen amerikanische Streitkräfte in Fallujah führen. Ich vermute, dass einige von ihnen selbst unter den "Terroristen" sind. Würde er die Gegenseite also "Terroristen" heißen, wären die örtlichen Polizisten - seine vorderste Verteidigunslinie- in der Tat sehr sauer.
Kein Wunder,dass es um die Moral so schlecht steht. Kein Wunder auch, dass die amerikanischen Soldaten, die ich auf den Straßen Bagdads und anderer irakischer Städte antreffe, Klartext reden, wenn es um ihre eigene Regierung geht. Die US-Streitkräfte sind angewiesen, in Gegenwart von Irakis oder Reporter (die in den Augen der Besatzungbehörden etwa den gleichen Status haben), kein schlechtes Wort über ihren Präsidenten oder ihren Verteidigungsminister zu verlieren. Aber als ich in der Nähe von Abu Ghurayb einer Gruppe US-Militärpolizisten gegenüber mutmaßte, sie würden bei der nächsten Wahl wohl für die Republikaner stimmen, brachen sie in schallendes Gelächter aus. "Wir sollten nicht hier sein, und man hätte uns nie herschicken sollen," gab mir einer von ihnen mit frappierender Offenheit zur Antwort. "Und vielleicht können Sie mir folgendes verraten: Warum sind wir hergeschickt worden?"
So bereitet es auch wenig Staunen, dass "Stars and Stripes", die Zeitung des amerikanischen Militärs, diesen Monat berichtet hat, dass ein Drittel der Truppen im Irak unter geringer Moral leidet. Ist es unter diesen Umständen verwunderlich, dass US-Streitkräfte im Irak Unschuldige niederschießen, Gefangene treten und brutal behandeln, Wohnungen verwüsten und - was Augenzeugenberichte hunderter Irakis bestätigen - Geld aus den Häusern stehlen, die sie durchkämmen? Nein, dies ist nicht Vietnam, wo die Amerikaner manchmal 3000 Mann pro Monat einbüßen mussten. Auch mutiert die US-Armee im Irak nicht zu einem Haufen Rabauken. Noch nicht. Auch sind sie weiterhin Lichtjahre von der Mordlust Saddams Henkershelfer entfernt. Aber Menschenrechtsbeobachter, Beamte der zivilen Besatzungsbehörde und Journalisten - ganz zu schweigen von den Irakis selbst - finden das Benehmen der amerikanischen Militärbesatzung zunehmend abstoßend.
Solche Irakis, die Kontrollpunkte des US-Militärs übersehen, Konvois überholen, die gerade angegriffen werden, oder lediglich an einer amerikanischen Razzia vorbeikommen, werden vorbehaltlos niedergeschossen. Offizielle "Erkundigungen" seitens der US-Behörden bei solchen Tötungsfällen münden für gewöhnlich entweder in Schweigen oder in die Behauptung, die Soldaten hätten ihre "Rules of Engagement" [Verhaltensregeln für militärische Kräfte] befolgt - Regeln, welche die Amerikaner nicht der Öffentlichkeit zugänglich machen.
Der Unsinn wird von oben verzapft. Selbst während der anglo-amerikanischen Invasion des Iraks weigerten sich die US-Streitkräfte, Verantwortung für die Unschuldigen zu übernehmen, die sie getötet hatten. "Über Tote führen wir nicht Buch," verkündete General Tommy Franks. Als die "Alliierten" - und man beachte, wie wir Briten in diesem irreführenden Titel vereinnahmt werden - in der verfehlten Hoffnung Saddam zu töten, bei Mansur eine Wohngegend bombardierten, gab es denn auch keine Entschuldigung für die 16 Zivilisten, die der Aktion zum Opfer fielen. Als US-Sonderkommandos in eben dieser Gegend vier Monate später auf der Suche nach demselben irakischen Führer eine Razzia durchführten, töteten sie sechs Zivilisten, darunter ein 14-jähriger Junge und eine Frau mittleren Alters. Vier Tage darauf verkündeten sie lediglich, es würde eine "Erkundigung" geben. Keine Untersuchung, wohlgemerkt; nichts das so klänge, als sei etwas daran auszusetzen, wenn sechs irakische Zivilisten abgeknallt werden. Und wenig später war die "Erkundigung" - sicher wie gewünscht - vergessen, und man hat seither nichts davon gehört. -
Während der Invasion warfen die Amerikaner hunderte Streubomben über den Vororten Hillahs ab. Diese hinterließen einen wahren Metzgerladen mit zerstückelten Leichen. Das Filmmaterial mit halbierten Kleinkindern wurde nicht einmal vom Reuters-Team in Bagdad übertragen. Das Pentagon sagte darauf, es gäbe 'keine Anzeichen' dafür, dass Streubomben über Hillah eingesetzt worden wären - und das, obwohl Sky TV Blindgänger gefunden und nach Bagdad gebracht hatte.
Zum ersten Mal begegnete ich diesem Ausbleiben jeder Reue - oder besser, dem Fehlen eines Verantwortungsgefühls - in einem Slum vor den Toren Bagdads namens Hayy al-Gailani. Zwei Männer hatten einen neuen amerikanischen Kontrollpunkt missachtet - eine Rolle Stacheldraht, die vor Tagesanbruch eines Morgens im Juli über die Straße gezogen worden war - worauf die US-Streitkräfte den Wagen unter Beschuss nahmen. Sie verfeuerten sogar so viel Munition, dass der Wagen sofort in Brand geriet. Und noch während die toten oder sterbenden Menschen im Wageninnern verbrannten, bestiegen die Amerikaner, die den 'Checkpoint' errichtet hatten, ihre gepanzerten Wagen und machten sich davon. Sie haben sich nie die Mühe gemacht, die Leichenkammer des Krankenhauses aufzusuchen , um die Identität der Männer festzustellen und die Angehörigen zu informieren. Dies wäre ja naheliegend gewesen, hätten sie geglaubt, gerade "Terroristen" getötet zu haben. Im Irak wiederholen sich Szenen wie diese Tag für Tag.
Darum üben Human Rights Watch, Amnesty und andere humanitäre Organisationen immer heftigere Kritik an der Praxis der US-Armee, die irakischen Toten nicht einmal zu zählen - von der eigenen Verantwortung beim Tod von Zivilisten ganz zu schweigen. "Es ist eine Tragödie, dass US-Soldaten in Bagdad so viele Zivilisten getötet haben," sagt Joe Stork von Human Rights Watch. "Aber schier unglaublich ist, dass das US-Militär diese Todesfälle nicht einmal zählt" Human Rights Watch hat in der Hauptstadt 94 Fälle gezählt, bei denen Zivilisten von den Amerikanern getötet wurden. Die Organisation kritisierte auch die entwürdigende Behandlung Gefangener durch amerikanische Streitkräfte, etwa deren Gewohnheit, die Köpfe der Gefangenen mit den Fuß am Boden zu halten. Einige amerikanische Soldaten werden nun in Jordanien - von Jordaniern - darin geschult, wieviel "Respekt" gegenüber irakischen Zivilisten angemessen ist. Dort erhalten sie auch Unterricht in Sachen "Kultur des Islams". Das war auch höchste Zeit.
Vor Ort im Irak aber, da haben Amerikaner die 'Lizenz zu Töten'. Disziplinarische Maßnahmen aufgrund der Tötung von Zivilisten wurden nicht gegen einen einzigen Soldaten eingeleitet - selbst wenn unter den Opfern Irakis waren, die für die Besatzungsbehörde gearbeitet hatten. Nichts unternommen wurde zum Beispiel im Falle des Soldaten, der im Nordirak den Übersetzer eines italienischen Diplomaten tötete, als er durch die Fensterscheibe dessen Wagens feuerte. Nichts unternommen wurde auch gegen die Soldaten der 82. Luftlandeeinheit, die letzten April in Fallujah 14 protestierende Sunni niederschossen. (Captain Cirino war hierbei nicht beteiligt.) Nichts unternommen wurde auch gegen die Truppen, die in Mosul weitere 11 Protestierende töteten. Manchmal türmen sich die Hinweise auf geringe Moral mit der Zeit. Die "Coalition Provisional Authority", wie sich die Besatzungsbehörde selbst nennt, hat zum Beispiel die Geldwechsler einer irakischen Stadt angewiesen, keine Dollar im Tausch für irakische Dinar an Soldaten der Besatzungsarmee auszugeben. Zu viele irakische Dinar waren während Razzien von Soldaten gestohlen worden. In Bagdad, Hillah, Tikrit, Mosul und Fallujah haben mir Irakis wiederholt berichtet, sie seien an den Checkpoints oder während Razzien von amerikanischen Soldaten bestohlen worden. Sofern es keine monumentale, landesweite Verschwörung der Irakis gibt, müssen zumindest einige dieser Berichte der Wahrheit entsprechen.
Und dann war da der Fall des bengalischen Tigers. Eine Handvoll US-Streitkräfte hatten sich in den Zoo von Bagdad aufgemacht, um eine Party mit Sandwiches und Bier zu feiern. Während der Party entschloss sich einer der Soldaten, den Tiger zu streicheln, worauf dieser, zumal als bengalischer Tiger, seine Zähne in das Fleisch des Soldaten schlug. Daraufhin erschossen sie den Tiger. Die Amerikaner versprachen eine "Erkundigung" - von der man seither nichts gehört hat. Nur ein Vorfall hatte disziplinarische Folgen für US-Streitkräfte. Ironischerweise ging es in diesem Fall um eine schwarze Fahne mit religiöser Bedeutung, die eine US-Helikopterbesatzung von einem Fernmeldeturm in Sadr City, einem Stadtteil Bagdads, entfernt hatte. Während der darauf folgenden gewaltsamen Ausschreitungen kam ein irakischer Zivilist zu Tode.
Selbstmorde unter US-Soldaten im Irak haben in den letzten Monaten zugenommen - sie liegen nun bis zum Dreifachen über dem normalen Wert für amerikanische Streitkräfte. Mindestens 23 Soldaten, so nimmt man an, haben sich seit der anglo-amerikanischen Invasion das Leben genommen, weitere haben sich bei Selbstmordversuchen verletzt. Wie gewöhnlich hat die US-Armee diese Statistik erst nach ständigem Drängen herausgegeben. Über die täglichen Angriffe auf Amerikaner außerhalb Bagdads - bis zu 50 pro Nacht - wird ebensowenig Buch geführt wie über Opfer unter der irakischen Zivilbevölkerung. Als ich letzten Monat nach Einbruch der Dunkelheit von Fallujah nach Bagdad reiste, sah ich Explosionen durch Mörserbeschuss und Leitfeuer bei 13 amerikanischen Militärbasen - die Besatzungsbehörden haben hierzu kein Wort verloren. Letzten Monat schlugen fünf Mörsergranaten am Flughafen von Bagdad nahe der Startbahn ein, als Passagiere gerade eine jordanische Linienmaschine nach Amman bestiegen. Diesen Angriff habe ich mit eigenen Augen gesehen. Am selben Nachmittag behauptete General Ricardo Sanchez, ranghöchster US-Offizier im Irak, er wisse nichts von diesem Angriff. Sofern seine Unteroffiziere nicht allesamt Schlamper sind, musste er von dem Angriff erfahren haben.
Aber was sollen wir Anderes von einer Armee erwarten, die ihre Soldaten in bewusster Irreführung dazu anhält, "Briefe" an die Zeitungen ihrer Heimatorte zu schreiben, in denen sie die täglichen Verbesserungen ihrer Lebensumstände im Irak beschreiben.
"Für irakische Bürger sind Lebensqualität und die öffentliche Sicherheit größtenteils wiederhergestellt, und wir hatten großen Anteil daran," prahlte Sergeant Christopher Shelton vom "503rd Airborne Infantry Regiment" in seinem Brief aus Kirkuk and die "Snohomish County Tribune". "Die Mehrheit der Stadtbewohner hat uns mit offenen Armen empfangen." Hat sie leider nicht. Auch hat Sergeant Shelton den Brief nicht geschrieben. Ebensowenig wie Sergeant Shawn Grueser aus West Virginia. Oder Schütze Nick Deaconson. Ebensowenig wie acht weitere Soldaten, die angeblich identische Briefe an die Lokalzeitungen in der Heimat geschrieben haben. Die "Briefe" waren unter den Soldaten mit der Bitte verteilt worden, sie zu unterschreiben - ihr Einverständnis mit dem Inhalt natürlich vorausgesetzt.
Aber vielleicht sind sie Teil jener Fanasiewelt, die von eben jenen Ideologen der Rechten in Washington inspiriert wurde, die auf diesen Krieg gedrängt haben - obschon die meisten von ihnen ihrem Land nie in Uniform gedient haben. Sie haben diesen Traum gesponnen, einen Traum mit "Massenvernichtungswaffen" und umjubelten amerikanischen Truppen, die zur "Befreiung" der Irakis kommen. Unfähig, ihre Fiktion mit irgendwelchen Fakten auszuschmücken, gestehen sie heute lediglich ein, dass die Soldaten, die sie in das größte Rattennest im Mittleren Osten geschickt haben, nun "eine Menge Arbeit vor sich haben" und dass sie "an der Front im Krieg gegen den Terror kämpfen" - wovon vor und während der Invasion nie die Rede war.
Welchen Einfluss, so möchte man fragen, hatten die christlichen Fundamentalisten auf die amerikanische Armee im Irak? Nehmen wir mal an, wir könnten Reverend Franklin Graham ignorieren. Dieser hat den Islam als "sehr böse und heimtückische Religion" beschrieben, und daraufhin Pentagonbeamten einen Vortrag gehalten. Aber was sollen wir von Generalleutnant William "Jerry" Boykin halten, jenem Offizier, der die Jagd auf Osama bin Laden leitet? Dieser hat in Oregon vor Publikum verkündet, die Islamisten hassten die USA, "da wir eine christliche Nation sind, denn unsere Wurzeln sind judisch-christlich, und der Feind ist ein Kerl namens Satan." Jüngst zum Abteilungsleiter für Nachrichtendienst im Verteidigungsministerium befördert, sagte Boykin weiterhin über den Krieg gegen Mohammed Farrah Aidid in Somalia -an dem er teilgenommen hatte- er habe gewusst dass "Mein Gott größer war als seiner - Ich wusste, dass mein Gott ein wahrer Gott war und seiner eine Götze.
Verteidigungsminister Donald Rumsfeld meinte zu diesen außerordentlichen Äußerungen "es sieht nicht danach aus, als läge hier ein Regelverstoß vor." Nun wird uns mitgeteilt, dass es eine "Erkundigung" zu Boykins Bemerkungen geben soll - eine "Erkundigung", die sicherlich ebenso gewissenhaft sein wird wie im Falle getöteter Zivilisten in Bagdad.
Nimmt es da noch Wunder, dass amerikanische Truppen im Irak, die mit solch einem Unsinn gefüttert werden, weder ihren Krieg verstehen, noch die Menschen in dem Land, das sie besetzt halten? Terroristen oder Freiheitskämpfer ? Wo ist da der Unterschied?
[* "One, Two, Three, What Are They Fighting For?" lautet die erste Zeile eines populären Protestsongs gegen den Vietnamkrieg: "Feel-Like-I'm-Fixin'-To-Die-Rag" von Country Joe & the Fish. Anm.d.Ü.]
Quelle: Independent / ZNet 26.10.2003