Wer ist antiamerikanisch?

Repressionen gegen fortschrittliche Kräfte haben in den USA eine lange Tradition

Mumia Abu-Jamal

Was heißt das eigentlich, ein Amerikaner oder eine Amerikanerin zu sein? Gerade in diesen Tagen, in denen das ganze Land auf einen Krieg zusteuert, beschäftigt diese Frage viele Menschen landauf, landab.

Eine Garde proimperialistischer Schreiberlinge von der Rechten bis zu sogenannten Linken wird nicht müde, den Vorwurf herunterzubeten, viele von denen, die sich aus Überzeugung dem Lager der Kriegsgegner angeschlossen haben, seien »antiamerikanisch«. Natürlich sehen sich die Urheber dieses Vorwurfs nicht genötigt, Begründungen zu liefern, denn sie können vom stillschweigenden Einverständnis vieler ihrer Leserinnen und Leser ausgehen. Aber diese Beschuldigung hat schon eine lange Geschichte in den USA und fordert deshalb dringend eine Antwort heraus.

Vor einigen Jahrzehnten stellte sich der US-Kongress vor die selbstgewählte Aufgabe, genau zu definieren, was »Antiamerikanismus« ist, und setzte das berüchtigte HUAC ein – das House Un-American Activities Committee, den parlamentarischen Ausschuss für unamerikanische Umtriebe. Dieser Ausschuss führte einen ideologischen Krieg gegen Kommunisten, Sozialisten und all jene, die gegen den repressiven Status quo der USA und für gesellschaftliche Veränderungen eintraten. Nur wenige erinnern sich noch an die »Rednecks«, die Reaktionäre, die im Auftrag der Regierung Menschen vor den Ausschuss zitierten und sie einer Inquisition unterwarfen. Aber an Menschen wie Paul Robeson, W.E.B. DuBois und die »Hollywood 10« – Leute aus Film und Theater sowie Schriftsteller, die damals als politisch Verdächtige galten und über die schwarze Listen geführt wurden – erinnert man sich heute noch mit großer Anerkennung.

Wer von denen, die diese beiden Seiten vertraten, waren damals »gute Amerikanerinnen und Amerikaner«? Die reaktionären »Rednecks«, die wutschnaubend über die Aktivisten und Künstler herfielen und sich als deren Herren aufspielten? Oder die Künstlerinnen und Künstler, die es wagten, vom Anbrechen einer neuen und besseren Zeit in Amerika zu träumen? Ich stehe auf der Seite von Robeson. Ich stehe ganz klar auf der Seite von DuBois und würde immer Schulter an Schulter mit den »Hollywood 10« stehen, die für das Recht eintraten, Werke zu schaffen, die die Wahrheit über den Zustand dieser Gesellschaft widerspiegeln. Nichts hätte ich mit jenen Rassisten und die Rassentrennung befürwortenden Politikern gemein, die dafür stehen, dass Schweigen herrschen soll über die staatliche Repression.

Tausende verloren damals Arbeit, Engagements und Aufträge, und einige von ihnen begingen im Angesicht der brutalen staatlichen Repression Selbstmord. Die Hexenjagd in den 50er Jahren zerstörte auf der einen Seite Familien und war auf der anderen Seite der Beginn von Karrieren von Leuten wie Richard Nixon.

Über das, was »amerikanisch« ist, gab es während der gesamten Geschichte der USA kontroverse Auseinandersetzungen, und wenn der Staat in der Lage war, seine Vorstellungen durchzusetzen, dann bedeutete es immer blinden Gehorsam denen gegenüber, die an der Macht sind und das Land regieren.

Aber es gibt auch Millionen Menschen, die an eine andere Definition glauben. Sie glauben an das Volk. Sie glauben nicht, dass das Volk zum Gehorsam seiner Regierung gegenüber verpflichtet ist, sondern, dass die Regierung zum Gehorsam gegenüber dem Volk verpflichtet ist. Sie glauben daran, dass jede und jeder das Recht hat, seinen Beitrag zu dieser Definition zu leisten, nicht nur die, hinter denen finanzielle Interessen stehen. Und sie glauben nicht an die Macht des Imperiums.

Amerikaner oder Amerikanerin zu sein, bedeutet auch, in direkter Beziehung zu anderen Menschen zu stehen – in Kuba, in Venezuela, in Nikaragua, in Brasilien und den anderen Ländern der Region. Wir glauben nicht daran, dass es das angeborene Recht der Norteamericanos ist, über alle anderen amerikanischen Länder und Völker der Region zu herrschen wie der Imperator des Römischen Reiches. Weder das US-amerikanische Militär noch die CIA noch irgendeine andere Institution der USA hat das Recht, die Führer oder Organisationen eines benachbarten oder weiter entfernten Staates zu vernichten.

Wenn wir auf diese Weise definieren, was es heißt, ein Amerikaner oder eine Amerikanerin zu sein, dann ist daran nichts »antiamerikanisch«, sondern es zeigt die beste Seite von dem, was es bedeutet, Teil der Völker der Amerikas zu sein. Diese gute Seite Amerikas trifft man nicht in den Regierungsgebäuden an, schon gar nicht in den Machtzentren des Bush-Regimes. Man findet sie nur in den Herzen, Köpfen und den Seelen der Menschen.

(Übersetzung: Jürgen Heiser)

Aus: junge welt vom 11.01.2003