Abschied vom Abendland

Die Türkei und Israel in der kosmopolitischen Moderne

Von Natan Sznaider

Ein Zombie geht um in Deutschland, das Zombie einer romantisch-christlichen Universalgeschichte. Insbesondere in so manchen Historikerkreisen glaubt man immer noch an einen geschlossenen Raum der Kultur: an ein "Innen" ("christliches Abendland") und ein "Außen" (Islam und Naher Osten). Das Innen ist zu bewahren, indem man sich vom Außen abgrenzt: "Man soll sich nicht freiwillig Sprengstoff ins Land holen", hat Hans-Ulrich Wehler erklärt. Historiker wie Wehler oder Heinrich August Winkler, die sich einst als progressiv verstanden und sich dafür einsetzten, dass sich die Zukunft von der Vergangenheit unterscheidet, greifen jetzt auf die Kategorien von vorgestern zurück. Der Mief der 50er Jahre, als das "christliche Abendland" bei den Konservativen en vogue war, kommt einem dabei in die Nase. Als ob Europa immer noch das katholisch-konservative Projekt der Nachkriegszeit wäre.

Zugleich arbeitet man sich via Türkei auch an der eigenen Vergangenheit ab. So berechtigt die Vorwürfe gegenüber der Türkei auch sind, was Menschenrechtsverletzungen und Folter betrifft - man wird den Verdacht nicht los, dass der Rahmen des christlich-abendländischen Europa auch dazu dient, die eigene Vergangenheit in den "richtigen", in den westlichen Rahmen zu drücken. Nötig ist aber, im Hinblick auf die Türkei wie auch in anderer Hinsicht, nicht der Blick zurück, sondern der Blick nach vorne. Mit anderen Worten: eine kosmopolitische Perspektive, die Kulturen nicht als geschlossene Räume sieht.

Was bedeutet das für die Türkei? Wie alle Staatsnationen ist auch die Türkei nicht mehr autonom. Auch die Türkei ist den Einflüssen einer neuartigen, einer entterritorialisierten Macht unterworfen. Diese ist ein Gewebe, in dem Macht nicht mehr primär durch Invasion, sondern durch Nicht-Investition praktiziert wird: Wer sich internationalen Normen nicht beugt, muss damit rechnen, von der Staatengemeinschaft boykottiert zu werden - mit einschneidenden ökonomischen Folgen. So müssen sich Nationalstaaten entscheiden, einen Teil ihrer Autonomie aufzugeben, wenn sie ihre Souveränität wahren wollen. Nationale Aufgaben müssen transnational gelöst werden, rücken in ein transnationales Bezugsfeld. Das bezieht sich auch auf Demokratie und Menschenrechte. Der Verlust von Autonomie kann dann umgekehrt zu einem Gewinn an Souveränität führen - wer sich den internationalen Normen unterwirft, wird vom Objekt zum Subjekt transnationalen Agierens. Auf diesem Wege werden Staaten, ob sie wollen oder nicht, transnational.

Auch deshalb gibt es in der Welt des 21. Jahrhunderts keinen geschlossenen Raum des christlichen Abendlandes mehr, wie ihn sich romantische Historiker erträumen. Angesichts der wachsenden transnationalen Verflechtungen wird Europa zum offenen Netzwerk, mit fließenden Grenzen. Sich dieser Herausforderung zu stellen ist eine zentrale Aufgabe der EU, die mit der Türkei-Frage akut wird: Europa muss sich im Zeitalter der offenen Netzwerke vom territorialen Prinzip verabschieden.

Wie bei dem anderen aus dem ottomanischen Imperium hervorgegangenen Nationalstaat, nämlich Israel, führt im Falle der Türkei der Prozess der Europäisierung und der Ausrichtung nach Westen zum Balanceakt zwischen den Erwartungen internationaler Institutionen und dem Druck einheimischer Gruppen. Auf der einen Seite die EU, der Europarat und die Vereinten Nationen, auf der anderen Seite Kurden und Palästinenser, die ihre nationalen, religiösen und ethnischen Interessen verfolgen.

Israelisch-türkische Beziehungen

Die Staaten Israel und Türkei haben nicht nur Parallelen, sondern auch eine Reihe von Verbindungen. Sie sind sich im letzten Jahrzehnt politisch und kulturell sehr nah gekommen. Nicht nur kalte politische Realpolitik war hier am Werk, obwohl diese eine große Rolle spielte. Dabei ging es um den gemeinsamen, zwischen den beiden Staaten liegenden Feind Syrien, und es ging darum, dass Israel sich und der Welt beweisen wollte, dass es bereit ist, mit muslimischen, wenn auch nichtarabischen Staaten zu kooperieren. Nicht zuletzt wurde die Türkei zu einem der beliebtesten Urlaubsorte der Israelis. Ein israelischer Spitzenfußballer spielt bei Fenerbahce Istanbul und macht mit seinen Vereinskollegen im israelischen Fernsehen Reklame für türkischen Mokka made in Israel. Als 1999 ein schweres Erdbeben die westliche Türkei heimsuchte, machten sich sofort israelische Rettungsmannschaften auf den Weg.

Beide Staaten bemühen sich um einen eigenen Weg in die Moderne, der nicht, wie das "christliche Abendland", Staat und Religion trennt - was nach Winkler die kulturelle Grundvoraussetzung ist, um zu Europa zu gehören -, sondern beides zu verbinden sucht. Die Türkei geht ihren eigenen Weg einer islamischen demokratischen Moderne, ebenso wie Israel versucht, seinen Weg einer jüdischen demokratischen Moderne zu beschreiten. Auch das begründet die guten Beziehungen zwischen den Staaten. Dass sie ihren eigenen Weg gehen, heißt aber nicht, dass die Türkei und Israel sich globalen Verhältnissen entziehen können. Es heißt vielmehr, dass sie dazu beitragen, die globalen Verhältnisse zu diversifizieren: Dass es in ihnen vielfache Identitäten gibt, die nicht mehr in der Kongruenz von Kultur und geschlossenen Räumen aufgehen.

Daraus ergibt sich auch, dass es unterschiedliche Universalitätsansprüche gibt. Auf der einen Seite versucht die EU, die Menschenrechte als universal gültig zu erklären, auf der anderen Seite sind es gerade auch die Minderheiten - nicht nur in der Türkei und in Israel -, die ihren Anspruch auf ihre partikulare kulturelle Identität universell zu begründen suchen. Wir sind eben weder eins in Jesus Christus noch in der aufgeklärten Rationalität. Sich dessen bewusst zu werden bedeutet aber nicht, sich einem hoffnungslosen Kulturrelativismus zu ergeben. Es bedeutet vielmehr, dass man einen Weg zu kosmopolitischer Realpolitik finden muss.

Verknüpfung von Universalismen

Auch Israel versucht, universell demokratisch und partikular jüdisch zu sein - auch noch gleichzeitig. Damit stößt es an Grenzen. Und die türkischen Modernisierer haben ihr kemalistisches Projekt schon immer als ein universales verstanden. Viele Universalismen also, die im selben Raum konkurrieren. Doch in einer globalen, vernetzten Welt schließen sich Universalismus und Partikularismus nicht mehr aus. Nur wer mehrere Universalismen kennt, kann sich zu einem neuen Kosmopolitismus vorarbeiten. Man muss nur versuchen, verschiedene Ansprüche der Universalität miteinander zu verknüpfen und sie verhandelbar zu machen. Darin besteht der echte Liberalismus, die "zweite Aufklärung", die im Gegensatz zum liberalen Fundamentalismus stehen. Auf diesem Weg lassen sich Kompromisse zwischen verschiedenen "Glaubensrichtungen" finden. Das gilt für die inneren Zustände in der Türkei und in Israel, und es gilt für das Verhältnis der beiden Staaten zueinander, zu Europa und zu den USA. Die universale europäische Position gegenüber der Türkei wird relativiert, ohne dass man den Anspruch auf eine zu Recht eingeforderte Menschenrechtspolitik dort aufgibt. Ganz im Gegenteil.

Menschenrechte und ihre Durchsetzung sind auf politische Macht und Gegenmacht angewiesen. Im nationalen Rahmen ist das gar nicht mehr fassbar. Der kurdische Befreiungskampf ist längst kein nationaler, sondern ein transnationaler, der sich im Nahen Osten und in Europa abspielt. Und so auch der palästinensische Kampf um Unabhängigkeit. Lokale Ethnizität operiert längst global. Und wie einst der Nationalismus ein globales moralisches Ideal war, so heute die Menschenrechte: Sie werden global verpflichtend, und weder die Türkei noch Israel können sich ihnen auf Dauer entziehen.

Die Globalisierung setzt Staaten unter globalen Druck. Die Türkei weigert sich bis heute, den Völkermord an den Armeniern anzuerkennen. Die türkische "Versöhnungsverweigerung" wird um so schwerwiegender, als der Völkermord an den Armeniern in den Kategorien des Holocaust beschrieben wird, ja oft als der Vorläufer gilt, der den Holocaust erst ermöglichte. Damit müsste die moderne Türkei anerkennen, dass auch ihre heroische Vergangenheit mit einer "Erbsünde" beginnt.

Wer sich vor islamistischem Terror fürchtet und ihn bekämpfen will, sollte der Versuchung widerstehen, sich dem romantischen Abendlandeuropäismus anzuschließen. Am Ende wird er sich auch gegen sie und andere Minderheiten, die sich weigern, eins zu werden, wenden. Aus jüdischer Sicht bezeugt der romantisch-christliche Historikerdiskurs nicht nur eine moslemfeindliche Einstellung, sondern auch eine weniger klar ausgesprochene Judenfeindschaft. Das Verständnis von Europa als "christliches Abendland" setzt ja auch voraus, dass die jüdische Präsenz dort gewaltsam reduziert wurde.

Liberale Israelis und Türken sollten sich klar darüber werden, dass sie in Sachen Religion Kompromisse schließen müssen, um ihre Länder in Frieden mit sich und ihren Nachbarn zu erneuern. Israel und die Türkei könnten dabei zu Staaten werden, die im Frieden mit ihren jüdischen und islamischen Ursprüngen leben und gleichzeitig in zivilisierter Weise ihren eigenen Weg der Modernität einschlagen. Vielleicht wird sich das dann auch im christlichen Abendland herumsprechen. Selbst Wehler gibt ja zu, dass er zwei glänzende türkische Studenten hat.