Das türkische Mosaik
Ein Irrtum zu meinen, Europa müsse am Bosporus enden
Von Seyla Benhabib
Die Entscheidung der fünfzehn europäischen Staats- und Regierungschefs, die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union auf absehbare Zeit zu verschieben, ist nicht nur für die Türkei verhängnisvoll, sondern auch für die EU selbst. Der Europäischen Union bot sich die Chance, das wertvollste Erbe ihrer eigenen Aufklärungstraditionen zu bekräftigen, demzufolge Menschen überall auf der Welt durch den rechten Gebrauch der Vernunft und einen klug gelenkten Willen in der Lage sind, Demokratie, zivile Verhältnisse, Frieden und Wohlstand zu erlangen. Statt dessen trugen europäische Abwehrinstinkte und notdürftig verschleierte ethnozentrische Vorurteile den Sieg davon. Trotz einer Erweiterung um zehn ehemals kommunistische Länder zog die EU eine Grenze an den Wassern des Bosporus. Warum konnte sie den türkischen Mitgliedschaftsantrag nicht annehmen?
In den Wochen vor der Entscheidung von Kopenhagen führten nüchterne und sorgfältige Beobachter, denen rassistische und anti-muslimische Einstellungen fern liegen - so etwa Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt - verschiedene Gründe an. Zum einen wirtschaftliche Erwägungen: Da mit der Mitgliedschaft in der Europäischen Union die "Freizügigkeit von Personen, Waren, Dienstleistungen" zwischen den Staaten der Union einhergeht, so die Befürchtung, würde mit einer Aufnahme der Türkei die ohnehin schon beträchtliche türkische Bevölkerungszahl in Europa - rund 1,9 Millionen in Deutschland und rund 800 000 in Frankreich - noch einmal schlagartig anwachsen. Die jetzt noch sorgfältig überwachte Einwanderung wäre nicht mehr zu stoppen.
Dieses Argument ist allenfalls auf den ersten Blick plausibel. Zunächst einmal ermöglichen Abkommen zur Familienzusammenführung, auf die sich die EU geeinigt hat, ganz offiziell die Einwanderung der Angehörigen von Gastarbeitern. Eine gewisse Zahl türkischer Bürger kommt so jährlich legal in die EU. Zudem unterliegen die Arbeitsmärkte in der Union einer genauen Regulierung. Während sich wahrscheinlich in den ersten Jahren nach einem Beitritt der Türkei ein Schwarzmarkt von billigen türkischen Arbeitskräften vor allem in Landwirtschaft und Baugewerbe bilden würde, könnte man langfristig eine illegale Arbeitsmigration durch flexiblere Arbeitsverträge in den Griff bekommen. Die gegenwärtigen Verhandlungen mit Polen werden hier vielleicht einen Weg weisen. Ohnehin kommen auch EU-Bürger, die in ein anderes Mitgliedsland umziehen wollen, nicht in den Genuss uneingeschränkter Sozialversicherungsleistungen und Aufenthaltsrechte, solange ihnen die Niederlassung nicht von den örtlichen Behörden erlaubt wurde. Warum sollte dies im Fall einer türkischen EU-Mitgliedschaft völlig anders sein?
Mehrheitsverhältnisse
Den wichtigsten Einwand aber liefert einer der wesentlichen wirtschaftlichen Vorteile einer EU-Mitgliedschaft der Türkei: Europäisches Kapital würde in das Land fließen und Arbeitsplätze schaffen, die zu einer Abnahme der Migration führen. Wenn man bedenkt, um wie vieles leichter als Arbeitskräfte sich Kapital in der EU bewegt, dann darf man wohl vermuten, dass nicht so sehr Horden von Türken in Berlin, Frankfurt, Wien, London und Paris einfallen werden; vielmehr könnten Horden von Deutschen, Schweden, Dänen, Franzosen und Belgiern die für strahlenden Sonnenschein und landschaftliche Schönheit bekannten türkischen Ägäis- und Mittelmeerküsten erobern, wenn sie dort Ferien und Ferienhäuser kaufen dürften.
Die Gegner einer türkischen Mitgliedschaft führen ein weiteres Argument an, nämlich die politischen Folgen der türkischen Bevölkerungsentwicklung. Die Türkei zählt heute an die siebzig Millionen Einwohner, und ihre relativ hohe Geburtenrate beschwört im Zusammenspiel mit dem sich abschwächenden Bevölkerungswachstum vieler europäischer Länder die Furcht herauf, die EU könnte unter die Vorherrschaft einer muslimischen Mehrheit geraten. Mit Blick auf das Europäische Parlament, in dem jedes Land durch seine eigenen national gewählten europäischen Parteien vertreten wird, ist dieses Argument allerdings fragwürdig. Die Türkei wäre einer von vielen Akteuren und in keiner Weise tonangebend in einem Parlament von sechsundzwanzig nationalen Delegationen. Da so viele wichtige Entscheidungen auf EU-Ebene nicht durch Mehrheitsverfahren getroffen werden, ist es ein Ablenkungsmanöver zu behaupten, der den Türken aufgrund ihrer Größe zustehende Stimmenanteil im EU-Ministerrat würde die internen Regierungsstrukturen der EU verändern. Mit institutioneller Kreativität und der Bereitschaft, Neuland zu betreten, wurde im Ministerrat ein Gleichgewicht zwischen Frankreich, Deutschland, dem Vereinigten Königreich und Italien geschaffen, obwohl diese Staaten unterschiedliche Bevölkerungszahlen aufweisen. Dasselbe wäre auch im Fall der Türkei möglich gewesen.
Liefe dies auf eine Mitgliedschaft zweiter Klasse hinaus? Nein - sondern nur auf die Bekräftigung, dass nicht allein demographische Prinzipien die Mechanismen der politischen Repräsentation bestimmen. In der Politikwissenschaft wird derzeit eine weitreichende und wichtige Diskussion über Möglichkeiten der Repräsentation von Gruppen geführt, die auf anderen Prinzipien der Verhältnismäßigkeit als "one person, one vote" aufbauen. Voraussichtlich wird sich die EU zukünftig in wachsendem Maß auf verschiedenartige Mechanismen der politischen Willensbildung und Repräsentation stützen. Warum sollte man die Frage nach der politischen Rolle der Türkei in einer erweiterten Union nicht im Lichte neuer Modelle des Verhältniswahlrechts stellen?
Minderheitenpolitik
Das letzte Argument der Aufnahmegegner betrifft die Menschenrechtsbilanz und das nicht-demokratische islamische Erbe der Türkei. Tatsächlich ist der türkische Staat berüchtigt für seine Missachtung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit; die Skepsis der Europäer, dass ein im Sommer 2002 eilig verabschiedetes Gesetz zur Abschaffung der Todesstrafe und zur rechtlichen Aufwertung der kurdischen Sprache diese Probleme lösen könnte, ist nur zu berechtigt. Aber wie beim Kampf gegen die Apartheid in Südafrika vor zwei Jahrzehnten heißt die Alternative: Rückzug oder Engagement. Kein Zweifel, dass die EU weit mehr erreichen kann, um die schreckliche Menschenrechtsbilanz der Türkei zu verbessern und die Minderheitenrechte zu schützen, wenn sie sich weiterhin engagiert. Glaubt irgend jemand in Europa ernsthaft, die Türkei könne das Kurdenproblem allein lösen? Warum nimmt man sich nicht Irland zum Vorbild und sucht nach einem föderativen Rahmen, der dem über die Türkei, Iran, Irak und Syrien ausgebreiteten kurdischen Volk kulturelle Rechte und Selbstverwaltung garantiert?
Es ist jedenfalls heuchlerisch, angesichts des Kurdenproblems die Hände über dem Kopf zusammen zu schlagen und sich entsetzt zurückzuziehen, sobald sich eine Chance auftut, einen ernsthaften politischen Wandel herbeizuführen. Fast schon hat es Tradition in Europa, den Umgang der Türkei mit ihren religiösen und ethnischen Minderheiten - wie Griechen und Armeniern - zu bejammern, aber die Übernahme historischer Verantwortung zu verweigern, wenn sie am nötigsten wäre. Ein konstruktives Engagement der EU für die Türkei hätte zu einer gerechten Lösung des Kurdenproblems wesentlich mehr beitragen können als all das gottgefällige Klagen über deren unzweifelhaft miserable Menschenrechtssituation.
Die Türkei steht heute am Scheideweg. Die islamistischen Wurzeln der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Erneuerung sind aktenkundig. Von Europa verschmäht, wird die Basis der Partei, konservativer als die herrschenden Eliten, ihre Führung zu einer Annäherung an die islamische Welt drängen. Die Aussicht auf einen Krieg im Irak, die quer durch das politische Spektrum von rechts bis links auf Ablehnung stößt, wird die offenen Fragen auf türkischer Seite nur vermehren.
Enden Europas Grenzen an der Meerenge des Bosporus? Wohl kaum. Die türkische Geschichte war und ist mit der europäischen verflochten und wird es auch bleiben, ob von Reinheit träumende Europäer wie Hans-Ulrich Wehler dies anerkennen oder nicht. Ich denke hier an meine Vorfahren, sephardische Juden aus Spanien, denen das Osmanische Reich Zuflucht bot, als sie nach 1492 von der katholischen Inquisition verfolgt wurden. Die Osmanen, die 1453 Konstantinopel erobert hatten, luden die spanischen Juden in ihr Reich ein. Und sie kamen; über fünfhundert Jahre lang lebten sie nach ihren eigenen Traditionen und ihrem eigenen Glauben und fungierten als Mittler zwischen Europa und dem Osmanischen Reich. Mein Großvater, Untertan dieses Reiches und ein Seidenhändler, der zwischen Frankreich und der Türkei und mittels seiner Cousins auch mit Manchester Handel trieb, wäre sehr überrascht gewesen über die Entscheidung der EU, Europa am Bosporus enden zu lassen.
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