Der Irakkrieg oder der Abschied vom System der Kollektiven Sicherheit
Von Norman Paech
Den folgenden Vortrag hielt Norman Paech im Rahmen der Kasseler Universitätsvorlesungsreihe "Der Nahe Osten - Schauplatz des 'Krieges gegen den Terror'?" am 2. Dezember 2002. Der Text wird demnächst in der Zeitschrift "Sozialismus" erscheinen (Heft 1/2003)
Nach dem 11. 9. 2001 ließ sich die US-Administration viel Zeit mit ihrer Reaktion auf den Terroranschlag gegen Pentagon und das World Trade Center. Sie erweckte bei nicht wenigen die Hoffnung, dass auch dieser spektakulärste aller Terroranschläge in ähnlicher Weise aufgeklärt und gesühnt würde, wie dies bereits mit dem vorangegangenen Anschlag auf das WTC im Jahre 1993, den Anschlägen auf die Disco La Belle 1986 und auf das PAN AM-Flugzeug über Lockerbie 1988 geschehen war, nämlich durch ein Gerichtsverfahren. Doch Anfang November entpuppte sich das Zögern als die notwendige militärische Vorbereitung, um einen äußerst komplizierten Krieg in Afghanistan erfolgreich durchführen zu können.
Nach dem 8. November dieses Jahres, als der UN-Sicherheitsrat mit der Resolution 1441 (2002) die Pflichten des Iraks zur vollständigen Aufdeckung ihrer Produktion von Massenvernichtungswaffen und ungehinderten Überprüfung durch UN-Inspektoren festlegte, begann wieder eine Zeit des Hoffens. Doch auch in diesem Fall sprechen vorerst noch alle Anzeichen und die Wahrscheinlichkeit dafür, dass hier nur der nächste Krieg minutiös vorbereitet wird. Am 2.Oktober 2002 gab der US-Kongress Präsident Bush eine umfassende Lizenz zur Kriegseröffnung und entband ihn gleichsam von den Fesseln der UN-Charta. Wenige Wochen später, am 25. November, ermächtigte das britische Unterhaus Premierminister Blair mit 452 zu 85 Stimmen, auch ohne weitere Unterhausdebatte und ohne zweite UN-Resolution den Krieg gegen den Irak zu beginnen. Parallel dazu wird die Öffentlichkeit mit ständigen Mitteilungen über den Fortschritt der Aufrüstung und Kriegsvorbereitung sowie periodischen Erinnerungen an die Grausamkeiten des Diktators in Bagdad auf die Unvermeidbarkeit eines Krieges eingestimmt.
Dieser Krieg führt in ganz neue Dimensionen der bereits 1990 von Präsident Bush verkündeten neuen Weltordnung und des Umgangs mit dem Völkerrecht und seinen Institutionen. Zwar sind die einzelnen Elemente dieser neuen Ordnungsstrategie nicht neu, sie bauen auf den militärischen Interventionen der Vergangenheit auf. Nur, die radikale Bündelung und Zusammenfassung all der seit 1990 gefassten und z. T. praktizierten politischen Beschlüsse in der Ankündigung eines neuen Krieges stellt ebenso den Abschluss einer strategischen Neuorientierung wie den Beginn einer auf die längerfristige Zukunft orientierten Implementierung dar. Das wird deutlicher, wenn wir uns zunächst den inneren Gründen und Motiven des kommenden Krieges zuwenden.
1. Mit Scharon gegen den Terrorismus.
Offiziell geht es um die Beseitigung von Massenvernichtungsmitteln. Dieses Ziel ist jedoch eingebettet in den seit dem 11. 9. an die oberste Stelle gerückten Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Zwar hat es bisher keine beweiskräftige Verbindung zwischen Al Qaida und dem Regime in Bagdad gegeben, doch gilt der Irak neben anderen Staaten des Mittleren Ostens und Nord- und Ostafrikas als einer der Stützpunkte des internationalen Terrorismus. Ein vernichtender Schlag gegen den Irak ähnlich wie gegen Afghanistan wäre eine wirksame Warnung an andere muslimische Staaten, sich jeglicher Unterstützung der diffusen Terrornetzwerke zu enthalten. Diese Warnung richtet sich sowohl gegen den Irak als auch Iran, Jemen, Sudan oder Somalia aber auch Palästina und Saudi-Arabien. Selbst Syrien oder Libyen können wieder in das Fadenkreuz geraten. Die Grundidee ist die Unterwerfung des ganzen Mittleren Ostens unter das Sicherheitskonzept der USA und Israels, welches bis zur Vernichtung der politischen Führungsstruktur des Gegners und seine Ersetzung durch "tributpflichtige Vasallen" (Zbigniew Brzezinski) führen kann.
Präsident Bush kündigte am 20. September 2001 einen langen Feldzug auf vielen Schauplätzen an: "Unser Krieg gegen den Terror beginnt mit Al Qaida, aber er wird so lange dauern, bis wir jede terroristische Gruppe mit globaler Reichweite aufgespürt, gestoppt und besiegt haben.... Wir werden die Terroristen von ihren Geldmitteln abschneiden, sie gegeneinander aufhetzen, sie von einem Ort zum andern jagen, bis ihnen kein Zufluchtsort und kein Ruhepunkt mehr bleibt. Und wir werden die Staaten verfolgen, die dem Terrorismus Hilfe leisten oder eine sichere Zukunft bieten." Dies ist ein Kriegskonzept des unbegrenzten territorialen Raumes, der unbegrenzten Adressaten, der unbegrenzten zeitlichen Dauer und der permanenten Drohung.
Die Erwähnung Israels als Partner im Sicherheitskonzept der USA folgt aus der weiten Perspektive des Krieges gegen den Terrorismus, der auch auf den Palästinakonflikt zielt. "Der Weg zu einem Frieden im Nahen Osten führt durch Bagdad", ist die Quintessenz der Bush-Administration und der Israel-Lobby, die die Palästinenser und ihre politische Vertretung allmählich wieder unterschiedslos mit dem alten Terrorismus-Vokabular aus den siebziger Jahren stigmatisiert. US-Verteidigungsminister Ronald Rumsfeld hat nie aus seiner Ansicht einen Hehl gemacht, dass er die israelischen Siedlungen als legitime Folge der israelischen Siege ansehe. Und der Führer der Republikaner im Repräsentantenhaus Dick Armey hat offen für einen Transfer der Palästinenser über den Jordan nach Osten plädiert. Von dem israelischen Militärtheoretiker Martin van Creveld wissen wir, dass es in der israelischen Armee konkrete Aufmarschpläne für eine Vertreibung der Palästinenser im Windschatten eines Krieges gegen den Irak gibt. Das Militär um Ministerpräsident Ariel Sharon sieht einen möglichen Irakkrieg als Chance, den Palästina-Konflikt mit ihren Mitteln zu lösen, die man in anderen Regionen mit dem Begriff der ethnischen Säuberung bezeichnet. Einer der derzeit wichtigsten Sicherheitsberater des Präsidenten, Richard Perle, hat schon 1996 den damaligen israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu ermuntert, den Oslo-Prozess einfach aufzugeben und zur militärischen Unterdrückung der Palästinenser zurückzukehren - ein Konzept, welches von Netanyahus Nachfolger Scharon übernommen worden ist.
In der strategischen Zielsetzung sind sich Bush und Sharon einig: die Vernichtung des Regimes in Bagdad kann als drohendes und demoralisierendes Beispiel auf die Palästinenser wirken und zugleich die weitere Spaltung der arabischen Solidarität vorantreiben. Sie kann das anerkannte Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser so weit untergraben und faktisch auflösen, dass letztlich nur eine Bantustanlösung übrig bleibt, die aber die israelischen Zionisten von dem Albtraum eines palästinensischen Nachbarstaates befreit. Ich halte dieses nicht für eine zukunftsträchtige Perspektive, denn die Geschichte der israelischen Kriege gegen die arabischen Nachbarn spricht dagegen. Mit jedem Sieg wurde das palästinensische Nationalgefühl gestärkt und bekam die Forderung nach Selbstbestimmung und Eigenstaatlichkeit mehr internationale Unterstützung. 1974, nach der erneuten Niederlage im Yom Kippur-Krieg, wurde schließlich die PLO als legitime Befreiungsbewegung und ihr bewaffneter Kampf als legale Form der Befreiung von der israelischen Besatzung in der UNO anerkannt. Geschichte und Struktur dieses Konfliktes sind so, dass er niemals mit Mitteln der militärischen Gewalt gelöst werden kann. Doch wenn sich Bush auf diese Variante nun einlässt, so ist das nur ein Beispiel dafür, wie kurzsichtig die amerikanische Realpolitik für den Mittleren Osten ist.
Scharons kategorischer Imperativ in der aktuellen Eskalation von Terror und Gegenterror ist eindeutig: keine Verhandlungen, alles blockieren, was im Rahmen einer politischen Lösung Kompromisse erfordern könnte, denn diese kann und will er seiner Klientel nicht zumuten. Deshalb ist die permanente Enteignung palästinensischen Eigentums - neuestens mit den Mitteln des Mauerbaues auf palästinensischem Territorium -, die permanente Demütigung der palästinensischen Führung und die permanente Gewalt durch Panzer, Helikopter und Bulldozzer eine in seinen Augen durchaus erfolgreiche Strategie der Kompromisslosigkeit. Bush und Scharon zielen beide auf die Vernichtung ihrer Gegner im Irak und Palästina, die in ihren Augen nichts als Terroristen sind. Sie instrumentalisieren sich gegenseitig. Das oft gebrauchte Bild, dass der Schwanz mit dem Hund wedele, täuscht natürlich, denn hier wedelt auch der Hund mit dem Schwanz.
2. Auf dem Weg nach Teheran oder die zweite Kolonisierung des Mittleren Ostens.
Betrachten wir die US-amerikanische Strategie auf einer globalen Stufe, so geht es ihr um die zweite Kolonialisierung des Mittleren Ostens. Die Auflösung der direkten kolonialen Herrschaft nach dem zweiten Weltkrieg mit der Errichtung der UNO und der Gründung des Staates Israel war zwar politisch erfolgreich und spätestens mit dem gemeinsamen Suezabenteuer von Briten, Franzosen und Israelis 1956 abgeschlossen. Eine echte ökonomische und soziale Unabhängigkeit hat aber kaum einer der postkolonialen Staaten erringen können. Die daraus resultierende Instabilität der ganzen Region entlud sich immer wieder in Unruhen und Kriegen (Erdölkrieg 1973/74, 1. Golfkrieg 1980/88, 2. Golfkrieg 1990/91), die das Rückgrat der westlichen Prosperität zu einer der sensibelsten Zonen mit hoher Anfälligkeit machte. Nun allerdings scheint die Zeit reif, dieses unruhige und labile Gebiet erneut unter feste Kontrolle zu bringen und für seine Hauptaufgabe, die Energielieferung, zu stabilisieren.
Die Beseitigung Saddam Husseins und die Errichtung eines weiteren Protektorats ist dabei die vorletzte Etappe auf dem Weg nach Teheran, ohne dessen Unterwerfung die gewünschte Stabilität nicht zu haben ist. Das Ziel ist Teheran und der Weg führt durch Bagdad. Mit seiner Eroberung wäre der Iran als letzte antiamerikanische Bastion im Mittleren Osten eingeklemmt zwischen drei amerikanischen Protektoraten - Afghanistan, Saudi-Arabien, Irak - und hätte keine große Bewegungsfreiheit mehr. Die "Demokratisierung" des Iran muss dann nicht unbedingt militärisch erfolgen, sie muss aber den Widerstand gegen die USA beseitigen und die bedingungslose Unterwerfung unter die US-amerikanischen Interessen gewährleisten.
An die Stelle der "Achse des Bösen" setzt diese Strategie einen prowestlichen Staatenbogen von Vasallen, Protektoraten und Kolonien, der von der Türkei bis nach Afghanistan reicht. Es handelt sich um eine Mischung von formaldemokratischen Militärregierungen, Feudalclans und Königshäusern bis zu Warlords und brüchigen ethnischen Koalitionen, deren Überleben allein durch die US-amerikanische Militärmacht garantiert wird. Dieses ist ein durchaus realistisches Szenario, welches für die nächsten zehn Jahre die gewünschte Stabilität garantieren könnte und für das die NATO seit ihrer Washingtoner Strategie vom April 1999 neu aufgestellt wird. Sie bedeutet nicht nur die Sicherung der Golfregion, sondern auch der angrenzenden Regionen im Westen (Ostafrika), Osten (Pakistan) und Norden (Kaukasus, Kaspisches Meer).
Dieses ist eine weit über die irakischen Grenzen ausgrifende Perspektive, die die Kosten und Risiken eines Krieges überhaupt erst zu rechtfertigen vermag. Die "Demokratisierung" der gesamten arabischen Welt, mit dem die US-Administration ihr gigantisches Abenteuer etikettiert, und welches auch zahlreiche Intellektuelle und Feuilletonisten hier so anspricht, entpuppt sich letztlich als ziemlich banale Sicherung der für die meisten NATO-Staaten lebenswichtigen Öl- und Gasquellen. Im Mai 2001 hatte die National Energy Policy Group in den USA ein umfassendes Konzept zur Sicherung des Energiebedarfs der USA in den nächsten 25 Jahren vorgelegt, den sog. Cheney-Report. Er fordert von der amerikanischen Handels- und Außenpolitik, zwei vordringliche Aufgaben mit Priorität zu verfolgen, da er ein gewaltiges Energiedefizit voraussagt: die Ausweitung und die Diversifizierung der Erdölimporte. Der Anteil importierten Erdöls am Gesamtverbrauch der USA werde von 2001 bis 2020 von 52 % auf 66 % steigen. Die Ölimporte müssten dann um 60 % höher liegen als heute. Dafür müssten die Exporteure zur Steigerung ihrer Exporte veranlasst werden, was sie schon wegen fehlender Finanzmittel nicht realisieren könnten. Also müssten sie weitere Investitionen durch US-Firmen auf ihrem Territorium akzeptieren. Der Report warnt ferner vor der Konzentration der Weltölproduktion in einer einzige Region der Welt, die potenziell zur Instabilität der Märkte beitrage und deshalb mit einer Strategie der Diversifizierung der Ölproduktion begegnet werden müsse. Diese Warnung zielt auf den Kaspischen Raum mit Aserbeidschan und Kasachstan, Westafrika mit Nigeria und Angola sowie Südamerika mit Kolumbien und Venezuela, überwiegend Länder mit chronischer Instabilität und nicht allerbesten Erfahrungen mit den USA.
Unter diesen unsicheren Bedingungen zerrütteter und kriegsgezeichneter Länder in unkontrollierbarer Umgebung wirkt der Anspruch auf Zugang zu ihren Reichtümern, sprich Ölquellen, überzeugender, wenn dahinter eine eindrucksvolle Militärstrategie steht. In den vierteljährlichen Übersichten des U.S. Verteidigungsministeriums fehlt denn auch niemals der Hinweis auf die Abhängigkeit vom Öl, der sich logisch in den neuen Rüstungsprogrammen bis hin zur Umwandlung der NATO in ein vorwiegend "Krisenreaktionsinstrument" niederschlägt. In den Worten von Verteidigungsminister Donald Rumsfeld: "Wir brauchen schnell einsetzbare, voll integrierte kombinierte Streitkräfte, die in der Lage sind, weit entfernte Kriegsschauplätze schnell zu erreichen und im Zusammenwirken mit unseren Luft- und Seestreitkräften den Gegner schnell, erfolgreich und mit vernichtender Wirkung zu treffen." Schon 1999 noch während des Krieges gegen Jugoslawien hat das neue Strategiedokument von Washington die NATO auf Interventionen zur Sicherung lebenswichtiger Ressourcen ausgerichtet. Hier verbindet sich "harmonisch" der Antiterrorkampf mit der Rohstoffsicherung.
Dem Ganzen liegt ein Konzept unilateraler Beherrschung der Welt mittels absoluter militärischer Überlegenheit zugrunde, ein imperiales Hegemoniekonzept, das auch von den sog. Tauben in der US-Administration vertreten wird. Daran hat Außenminister Powell schon 1992 keinen Zweifel gelassen: "Die USA benötigen militärische Machtmittel, um jede konkurrierende Macht abzuschrecken, jemals davon zu träumen, dass man uns auf der globalen Ebene herausfordern könnte." Präsident Bush wiederholte diesen Suprematieanspruch in seiner Westpoint-Rede vom Juni dieses Jahres: "Oberstes Ziel der US-Strategie nach dem Ende des Kalten Krieges muss es sein, zu verhindern, dass irgendwo auf der Welt irgendeine Macht zum ebenbürtigen Konkurrenten wird." Er ließ ihn dann in der Nationalen Sicherheitsstrategie vom 20. September 2002 noch einmal betonen: "Es ist die Zeit gekommen, wieder die wesentliche Rolle amerikanischer Militärmacht zu betonen.... Wir werden Streitkräfte unterhalten, die zur Erfüllung unserer Verpflichtung fähig sind und die Freiheit verteidigen. Unsere Streitkräfte werden stark genug sein, potenzielle Gegner von ihren Aufrüstungsvorhaben abzubringen, die sie in der Hoffnung auf Überlegenheit oder Gleichstellung im Hinblick auf die Macht der Vereinigten Staaten betreiben." Diese Drohung ist nicht auf den Mittleren Osten begrenzt, sondern richtet sich global ebenso gegen Russland wie China.
3. Die neue Bush-Doktrin: Abkehr von Wilson
In diesen Sätzen klingt bereits an, was heute als sog. Bush-Doktrin gehandelt wird, und eine gefährliche Radikalisierungen der Militärstrategie darstellt: die präventive Selbstverteidigung. Auch sie ist ein altbekanntes Instrument im Arsenal der Kriegsrechtfertigungen und wurde von den USA immer wieder benutzt, ob beim Überfall auf Grenada 1983, auf Libyen 1986 oder Panama 1989. Die Idee aber, sie in eine offizielle Militärstrategie zu übernehmen und festzuschreiben, stammt von Paul Wolfowitz und Zalmay Khalilzad, der eine heute stellvertretender Verteidigungsminister, der andere Repräsentant der USA in Afghanistan. Den Auftrag zu einem Entwurf der sog. Defense Planning Guidance erhielten die beiden vom damaligen Verteidigungsminister Dick Cheney im letzten Amtsjahr von George Bush sen., und die New York Times enthüllte das Ergebnis am 8. März 1992. Heute können wir es in der Nationalen Sicherheitsstrategie nachlesen, wo es heißt: "Die Vereinigten Staaten haben sich seit langem die Option auf präemptive Handlungen offen gehalten, um einer hinreichenden Bedrohung ihrer nationalen Sicherheit begegnen zu können. Je größer die Bedrohung, desto größer das durch Untätigkeit entstehende Risiko - und desto zwingender das Argument für antizipatorische Selbstverteidigung, selbst wenn Unsicherheit darüber besteht, wann und wo der Feind angreifen wird. Die Vereinigten Staaten werden gegebenenfalls präemptiv handeln, um solche feindlichen Akte unserer Gegner zu vereiteln oder ihnen vorzubeugen." Im Klartext liefert dieser Passus die ultimative Rechtfertigung für die Zerstörung eines jeden Staates, der sich den Interessen der USA (= Freiheit und Eigentum) nachhaltig entgegenstellt.
Der neue Imperialismus der USA hat sich unter Bush endgültig auf zwei entscheidende Änderungen des bisherigen Sicherheitskonzepts festgelegt: 1. Von der Verteidigung zur Ordnungs- und Krisenintervention, d.h. von der Defensive zur Offensive und Prävention und 2. Mit Ermächtigung durch die UNO, wenn möglich, ohne UNO, wenn nicht nötig. Mit diesen beiden Vorgaben vollzieht er eine vollständige Umwertung des modernen Systems der kollektiven Sicherheit, wie es seit 1919 mit dem Völkerbund angestrebt worden ist - ein totales Anti-Wilson Konzept.
US-Präsident Woodrow Wilson hatte 1917 in seinen berühmten 14 Punkten die Ablösung des seit dem Wiener Kongress etablierten Gleichgewichtskonzept durch ein kollektives Sicherheitssystem auf der Basis des Rechts gefordert. Dieses System sollte auf der Gleichheit großer und kleiner, starker wie schwacher Staaten beruhen mit den Prinzipien der Nichteinmischung und territorialen Souveränität, friedlicher Streitbeilegung und kollektiver Lösung der Auseinandersetzungen mittels internationaler Institutionen wie Rat, Versammlung und ständigem internationalem Gericht. Bekanntlich verweigerte ihm bereits damals der amerikanische Kongress die Gefolgschaft und lehnte den Beitritt zum Völkerbund ab.
Dessen ungeachtet war es noch während des zweiten Weltkrieges mit Franklin Delano Roosevelt wieder ein amerikanischer Präsident, der das Konzept der kollektiven Sicherheit für das einzige hielt, die Nachkriegsordnung dauerhaft und friedlich zu gewährleisten, und die Alliierten auf eine neue Organisation der Vereinten Nationen orientierte. Dieses moderne System der kollektiven Sicherheit, wie es in der UNO-Charta von 1945 kodifiziert ist, baut auf alten wie neuen Pfeilern auf:
Ø Bindung der Staaten an UNO-Charta und Völkerrecht, Art. 2 Z. 2 UNCH
Ø Souveräne Gleichheit und territoriale Unversehrtheit aller Staaten, Art. 2 Z. 1, 4 UNCH
Ø Absolutes Kriegs- und Gewaltverbot, Art. 2 Z. 4 UNCH
Ø Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten, Art. 2 Z. 7 UNCH
Ø Friedliche Beilegung internationaler Streitigkeiten, Art. 2 Z. 3 UNCH
Ø Oberste - auch militärische - Verantwortung für den Frieden liegt beim UN-Sicherheitsrat mit Gewaltmonopol, Art. 12, 39 ff. UNCH
Ø Recht zur militärischen Selbstverteidigung nur bei unmittelbarem Angriff durch Dritte, Art. 51 UNCH.
Die Bush-Doktrin ist ein radikaler Umsturz dieses kollektiven Sicherheitssystems zugunsten eines hegemonialen Herrschaftssystems auf der Basis unanfechtbarer militärischer Überlegenheit. Nicht, dass die US-Administration sich offen von Völkerrecht und UNO verabschiedet - sie hat beides auch in Vorbereitung des kommenden Krieges vielfach angerufen und bemüht: das zähe Ringen um die Resolution 1441 (2002) vom 8. November 2002 zeigt zugleich ihr Werben um Unterstützung und Koalitionen. Denn auch eine Hegemonialmacht benötigt Verbündete, Vasallen und Claqueure. Letztendlich jedoch, wenn sich der demokratische Prozess der Organisation als zu schwerfällig erweist, ist er verzichtbar und werden Verbündete zu Vasallen. Das haben die drei letzten großen Kriege in unterschiedlicher Weise sehr deutlich gezeigt.
Der zweite Golfkrieg vom Februar 1991 basiert auf der Resolution 678 des UN-Sicherheitsrats vom 29. November 1990, mit der er die Mitgliedstaaten ermächtigte, "alle erforderlichen Mittel einzusetzen, um der Resolution 660 (1990) und allen dazu später verabschiedeten Resolutionen Geltung zu verschaffen". Dieses war keine allgemeine und grenzenlose Kriegsermächtigung, sondern nur die Erlaubnis zu Zwangsmaßnahmen im Rahmen des Artikels 42 UNCH. Der Fehler dieser Resolution lag darin, dass der Sicherheitsrat die Ankündigung der USA ignorierte, die militärischen Maßnahmen entgegen Art. 47 UNCH ausschließlich unter amerikanischem Kommando ohne Rückbindung an den Sicherheitsrat durchzuführen. Dies vor allem war wohl der Grund dafür, dass es dann nach dem Waffenstillstand zu schweren Kriegsverbrechen seitens der US-Armee kam und der damalige UN-Generalsekretär Perez de Cuellar bereits am ersten Tag der Bombardierung seine Enttäuschung in die Worte fasste: "Dies ist eine Niederlage der UNO."
Der nächste Krieg, der Angriff auf Jugoslawien genau acht Jahre später, erfolgte ohne UNO-Mandat unter eindeutiger Verletzung des Gewaltverbots von Art. 2 Z. 4 UNCH. Die offensichtliche Illegalität wurde versucht, durch die "humanitäre Intervention" aufzufangen bzw. wegzuinterpretieren. Die Revitalisierung dieses in der Tat alten völkerrechtlichen Instituts, welches wegen seines offensichtlichen Missbrauchs als Kriegsrechtfertigung aufgegeben worden war, ist weiterhin umstritten, wird aber weitgehend immer noch abgelehnt.
Der Angriff auf Afghanistan im November 2001 war zwar ebenfalls nicht vom Sicherheitsrat ermächtigt, aber wohl als Mittel der Selbstverteidigung gem. Art. 51 UNCH geduldet. Doch pervertierte diese Rechtsgrundlage mit der Ausdehnung der Kriegshandlungen über den Einsatz der ISAF durch die UNO im Dezember 2001 hinaus zu einer zeit- und grenzenlosen Kriegsermächtigung, die auch heute noch bestehen soll - eine Überdehnung der Selbstverteidigung, die sich vollkommen von der Voraussetzung eines unmittelbaren Angriffs gelöst hat und damit dem Wortlaut und der ursprünglichen ratio des Art. 51 widerspricht.
Für den Irakkrieg schließlich enthält Resolution 1441 (2002) des UN-Sicherheitsrats eindeutig kein Mandat zu militärischen Sanktionen. Aber davon werden sich die USA und Großbritannien nicht allzu sehr beeindrucken lassen. Ihre bisherigen Vorwürfe über die Verletzung der Resolution 1441 haben zwar kaum überzeugt. Sie signalisieren aber die Methode, mit der sie den UN-Sicherheitsrat zu einer zweiten Resolution mit Sanktionsermächtigung zwingen wollen oder zumindest ein Alibi für eine einseitige Intervention aufbauen werden. Sicherheitsberater Richard Perle erklärte am 15. November vor Abgeordneten des britischen Unterhauses, dass auch "eine einwandfreie Unbedenklichkeitsbescheinigung" des Vorsitzenden der Inspektionskommission UNMOVIC, Hans Blix, die USA nicht von einer Kriegserklärung gegen Bagdad abhalten könnte: "Er kann ja nichts anderes kennen als die Ergebnisse seiner eigenen Untersuchungen. Und damit ist nicht bewiesen, dass Saddam keine Massenvernichtungswaffen hat. ... Angenommen, wir finden jemanden, der an der Entwicklung von Waffen beteilig war und aussagt, dass es Lager mit Nervengift gibt. Man kann sie aber nicht finden, weil sie gut versteckt sind. Muss man dann die Nervengifte tatsächlich in der Hand halten, um einen überzeugenden Beweis zu besitzen? Schließlich ist es nicht so, dass wir auf Zusammenarbeit zählen können." Dieser Zwickmühle ist kein Wahrheitsbeweis gewachsen.
4. Die Beseitigung Saddam Husseins und das Recht zur präventiven Verteidigung
Das nie verleugnete Hauptziel des Feldzuges gegen den Irak bleibt die Beseitigung Saddam Husseins - ein Kriegserfolg, den Bush sen. seinerzeit 1991 leichtfertig vergeben habe, wie der Vorwurf lautet. Es mag sein, dass die strategischen Überlegungen der US-Administration vor zehn Jahren noch andere gewesen waren, auf jeden Fall wäre ein Angriff auf Bagdad nach dem Rückzug der irakischen Truppe aus Kuwait unter keinen Umständen von der Resolution 678 (1990) gedeckt gewesen. Auch heute gehört die Beseitigung eines fremden Staatsoberhauptes nicht zu den Kompetenzen anderer Regierungen. Art. 2 Z. 7 UN-Charta gilt nicht nur für die UNO, sondern für jeden Mitgliedsstaat, wenn er bestimmt: "Aus dieser Charta kann eine Befugnis der Vereinten Nationen zum Eingreifen in Angelegenheiten, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören, ....nicht abgeleitet werden." Zu diesen inneren Angelegenheiten gehört ebenso die Bestimmung des Regierungssystems wie die konkrete Wahl der Regierung. Die einzige Ausnahme, die Art. 2 Z. 7 zulässt, sind Zwangsmaßnahmen nach Art. 39/42 UNCH. Sie sind bisher erst einmal angewandt worden im Falle Haitis gegen das Militär, das Präsident Aristide gestürzt hatte. Die Resolution 942 (1994) vom 31. August 1994 ermächtigte die Mitgliedsstaaten zu einer Militärintervention, die durch den Rückzug der Junta vermieden werden konnte.
Die Frage stellt sich schließlich, ob der Sicherheitsrat überhaupt der Forderung der USA folgen und bei jeder Fehlinformation oder voraussehbarem Täuschungsmanöver das Schussfeld für die USA und Großbritannien freigeben könnte. Denn auch der Sicherheitsrat ist an die Charta und das Völkerrecht gebunden, selbst wenn es derzeit strittig ist und der IGH noch über der Frage brütet, ob er die Handlungen des Sicherheitsrats völkerrechtlich überprüfen kann. Der Weg könnte für den Sicherheitsrat nur über Art. 39 UNCH gehen, die Feststellung, "ob eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung" vorliegt. Auch hier gibt es in der Tat einen Präzedenzfall mit der Resolution 748 (1992), die die Überstellung der mutmaßlichen Attentäter des Lockerbie-Anschlags durch Sanktionsmaßnahmen nach Art. 41 UNCH erzwingen wollte: "Die Weigerung der Libyschen Regierung, durch konkrete Handlungen ihre Ablehnung des Terrorismus zu beweisen und insbes. die wiederholte Weigerung, voll und effektiv den Forderungen der Resolution 731 (1992) (auf Auslieferung der mutmaßlichen Attentäter) zu entsprechen, stellt eine Bedrohung des internationalen Friedens und Sicherheit dar." Der Sicherheitsrat ist also weitgehend frei in der Interpretation, wann eine Bedrohung oder gar ein Bruch des Friedens vorliegt. Das gilt dementsprechend auch für die Einschätzung von Fehlinformationen über Massenvernichtungsmittel. Nur ein Veto seitens eines der fünf ständigen Mitgliedsstaaten könnte dann die Ermächtigung stoppen.
Um diese Situation zu umgehen, haben sich die USA nun das Recht auf Präventivverteidigung auch offiziell zugelegt. Von ihm sagen sie nicht ganz zu Unrecht, dass es auch in der Wissenschaft als legitime Anwendung militärischer Gewalt und Ausnahme vom Gewaltverbot vertreten wird. Dies geschah unter Berufung auf eine Formel, die Engländer und Amerikaner Anfang des 19. Jahrhunderts bei militärischen Auseinandersetzungen um die Kolonie Kanada entwickelt hatten. Präventive Maßnahmen sollten danach nur gerechtfertigt sein bei einer "unmittelbaren, erdrückenden Notwendigkeit der Selbstverteidigung, die kein anderes Mittel der Wahl und keinen Moment der Überlegung zulässt." So präzis die Formel erscheint, so weiten Interpretationsraum gibt sie doch, wie die Geschichte lehrt. Seit 1945 ist jedoch die UNO-Charta mit ihrem Art. 51 maßgebend, der die Selbstvereidigung aufgrund der gemachten Erfahrungen strikter eingrenzt und auf die Fälle eines "bewaffneten Angriffs" einschränkt. Diese Formulierung lässt nun keinen Raum mehr für vorbeugende Maßnahmen. Die umstritten Forderung des australischen Ministerpräsidenten Howard, angesichts des neuen Stadiums weltweiten Terrorismus den Art. 51 zu ändern und um die Präventivverteidigung zu erweitern, beweist die strikte Regel des Art. 51 UNCH.
Die Aneignung dieses Rechts ohne formale Änderung der UNO-Charta löst die US-amerikanische Militärführung definitiv von der UNO und räumt endgültig mit der Idee Wilsons von einem kollektiven Sicherheitssystem auf der Basis allgemein anerkannten Rechts auf. Es wäre zu früh, diese Situation mit dem langsamen Untergang des Völkerbunds angesichts zahlreicher Kriege, Austritte und Vorbehalte bis zum Machtantritt der Nationalsozialisten zu vergleichen. Aber die Rücknahme des Gewaltmonopols beraubt die UNO ihrer grundlegenden Friedensidee und ihres wirksamsten Friedensinstruments, ja ihrer raison d'ètre. Sie setzt an ihre Stelle nicht einfach nur die unbegrenzbare Macht des US-Empires, sondern verkehrt die demokratische Struktur des Konsenses der UNO-Ordnung in die hierarchische Herrschaftsstruktur einer imperialen Ordnung. Dies wird in den USA genauso gesehen, diskutiert und akzeptiert, wie nicht nur der jüngste Artikel des Direktors des Olin Institutes for Strategic Studies an der Harvard Universität, Stephen Peter Rosen, zeigt: "Eine politische Einheit, die über eine erdrückende militärische Schlagkraft verfügt und diese Schlagkraft einsetzt, um das Verhalten anderer Staaten zu beeinflussen, muss durchaus als Empire bezeichnet werden.... Unser Ziel ist nicht die Bekämpfung eines Rivalen - denn es gibt keinen -, sondern die Aufrechterhaltung unserer imperialen Position und die Wahrung der imperialen Ordnung."
Eine Ordnung nach den imperialen Interessen eines Landes, das sich aus ihr nur der Elemente bedient, die ihm nützlich erscheinen (wie z.B. die WTO oder das Jugoslawientribunal), alle anderen aber ignoriert oder sabotiert (wie das Kyoto-Protokoll, den Weltstrafgerichtshof , den ABM-Vertrag und nun auch die UNO-Charta) - das bedeutet den Zerfall der UNO-Ordnung und den Abschied von dem System der kollektiven Sicherheit. Die Frage mag dahinstehen, ob sich die USA mit diesem Bruch mit einer Institution, die sie selbst geschaffen haben und mit der sie ihre Weltmachtstellung festigen und ausbauen konnten, selbst einen Gefallen tun, oder ob sie mit der Zerstörung der UNO ihren eigenen Untergang vorbereiten, wie immer wieder prophezeit. Interessanter ist die Frage, ob evtl. die europäischen Staaten die USA von diesem Kurs abbringen und in den Rahmen des internationalen Rechts wieder zurückführen können. Doch "Tatsache ist schlicht und einfach", wie es Zbigniew Brzcezinski schon 1997 ausgedrückt hat, "dass Westeuropa und zunehmend auch Mitteleuropa weitgehend ein amerikanisches Protektorat bleiben, dessen alliierte Staaten an Vasallen und Tributpflichtige von einst erinnern. Dies ist kein gesunder Zustand, weder für Amerika noch für die europäischen Nationen." Drei Jahre später hatte er allerdings den letzten Satz schon wieder vergessen als er der Regierung Bush empfahl, "unsere Vasallen in einem Zustand der Abhängigkeit zu halten, die Willfährigkeit und den Schutz unserer Tributpflichtigen zu sichern und den Zusammenschluss der Barbaren zu verhindern." Die Umkehrung dieser Empfehlung könnte das Rezept zur Rettung der UNO und des kollektiven Sicherheitssystems beinhalten. Doch der Aufbau der verloren gegangenen Gegenmacht lässt sich nicht mit Appellen bewerkstelligen. Es bleibt so nur, die historische Erfahrung der europäischen Nationen zu beherzigen, dass jede nationalistisch oder patriotisch getränkte Weltmachtpolitik letztlich zum Scheitern verurteilt ist und nur die Unterwerfung der nationalen Souveränität unter den Kodex des internationalen Rechts das friedliche Überleben aller gewährleisten kann.
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