Schaden für die internationale Staatengemeinschaft - Der Irak, die USA und das Völkerrecht
Eine Analyse eines ehemaligen Diplomaten
Von Hans Arnold*
Am 28. Januar 2003 ist Präsident Bush mit seiner Botschaft an den Kongress zur Lage der Nation offenbar in die Zielgerade zu dem von ihm mit Energie und Hartnäckigkeit angestrebten Krieg gegen den Irak eingebogen. Damit zeichnen sich aus rechtlicher und politischer Sicht für die weitere Entwicklung zwei prototypische Möglichkeiten ab (Stand: Ende Januar 2003): Entweder der UNO-Sicherheitsrat (SR) widersetzt sich Bushs Ansinnen, und der führt seinen Krieg gegen den Irak an der UNO vorbei; oder der SR legitimiert entgegen seiner Praxis und dem Geist und Buchstaben der Charta der Vereinten Nationen Bushs Krieg.
In beiden Fällen wären die politischen Folgen ungewiss. Sicher wäre jedoch, dass, zusätzlich zu allen anderen negativen Folgen eines jeden Krieges, das in der Geschichte bisher einzigartige Rechtssystem der UNO zur Sicherung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit schwer und möglicherweise sogar auf Dauer beschädigt würde. Die UNO ist bekanntlich ein völkerrechtliches System, das - bittere Ironie der Geschichte - vor 60 Jahren, zeitgleich mit dem endgültigen Eintritt der USA als Großmacht in die Weltpolitik, auf Initiative des großen besonnenen und erfahrenen amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt nach amerikanischen Vorgaben und unter amerikanischem Vorangehen entstanden ist. Jetzt wird das mit der UNO aus dem Geist der Aufklärung, der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung und der Französischen Revolution geschaffene Völkerrecht von einem unbesonnenen und unerfahrenen Nachfolger Roosevelts aufs Spiel gesetzt. Es geht um dies: Mit der UNO sollte nach den schrecklichen Erfahrungen der beiden Weltkriege - um "künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren" (Präambel der Charta der Vereinten Nationen) - mit einer neuen Form von ständiger Kooperation innerhalb der internationalen Staatengemeinschaft umfassende Sicherheit geschaffen werden, nach den Erfahrungen mit der Weltwirtschaftskrise von 1929 nicht zuletzt auch im wirtschaftlichen und sozialen Bereich. Am deutlichsten ausgeführt sind in der Charta der UNO die Regelungen für den SR (Kapitel V) und für die Möglichkeiten der Friedenssicherung und -wiederherstellung mit nicht-militärischen (Kap. VI) und mit militärischen Mitteln (Kap VII). Die beiden Kernstücke dieses Sicherheitssystems:
- Erstens haben sich alle Mitgliedstaaten der UNO völkerrechtlich verbindlich verpflichtet, außer zur Selbstverteidigung im Falle eines bewaffneten Angriffes auf sie, keine militärische Gewalt anzuwenden (Art. 2 der Charta). Welches Gewaltverbot bekanntlich kurz nach der Gründung der UNO zusammen mit seinem Gegenstück, der Vorbereitung und Führung von Angriffskriegen, die Grundlage für die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse bilden sollte. Doch gilt das Recht der Staaten zur Selbstverteidigung auch nur bis zu dem Moment, in dem sich der SR des Konflikts annimmt (Art. 51).
- Zweitens haben zum einen alle Staaten ebenso verbindlich dem aus 15 Mitgliedstaaten bestehenden Sicherheitsrat blanko ein ständiges Mandat gegeben, in Fragen des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit im Namen aller UNO-Mitglieder zu entscheiden, einschließlich der möglichen Entscheidung, gegen einen Friedensstörer mit Waffengewalt vorzugehen, und ist zum anderen der SR verpflichtet, immer "im Einklang mit den Grundsätzen und Zielen der UNO" zu handeln (Art. 24).
Der Sicherheitsrat besteht aus fünf Ständigen Mitgliedern (China, Frankreich Großbritannien, Russland, USA) und zehn Mitgliedern, die von der Generalversammlung für jeweils zwei Jahre gewählt werden (Art. 23). Seine Beschlüsse sind wirksam, wenn sie von neun Mitgliedern gefasst sind, und sich unter ihnen alle fünf Ständigen Mitglieder befinden (Art. 27). Jedes dieser fünf Mitglieder kann somit durch seine Gegenstimme (Veto) einen Beschluss verhindern.
Für die Beurteilung der Position der UNO in der gegenwärtigen Krise wäre freilich keine schwärmerische, sondern ist nur eine nüchterne Sichtweise dienlich. Die UNO ist kein Amtsgericht, ihre Charta ist keine Straßenverkehrsordnung, und ihre Mitglieder sind keine gesetzestreuen Bürger. Vielmehr kommen Beschlüsse in der UNO und dort gerade auch im SR - wie im übrigen in allen anderen internationalen Organisationen auch - immer durch ein Austarieren der Interessen der am Beschluss beteiligten Staaten zustande. Wobei für diese natürlich ständig die Versuchung besteht, das Regelwerk der UNO im eigenen staatlichen Interesse zu dehnen, umzuinterpretieren, zu ergänzen, zu unterlaufen oder gar zu ignorieren. Was, wie dies unter anderem die Irak-Resolution Nr. 1441 (2002) des SR zeigt, immer wieder zu vieldeutigen und interpretationsfähigen Resolutionen führt. Ferner spielen bei der Konsensbildung die zwischenstaatlichen Beziehungen außerhalb der UNO und das Gewicht der großen Staaten in ihnen meistens eine wesentliche Rolle. Daher hat das an sich einfache und leicht praktikable Sicherheitssystem der UNO bisher auch in den Fällen, in denen Interessen der größten Staaten, insbesondere der ständigen SR-Mitglieder, berührt waren, eigentlich noch nie in seiner ursprünglichen Form wirklich buchstabengetreu funktioniert.
So waren zum Beispiel gerade die beiden großen Kriegführungen unter der Flagge der UNO, der Krieg gegen Nordkorea (1950) und der Krieg gegen den Irak (1991), von vorne herein Teile der amerikanischen Politik, und die Entscheidungen, sie zu führen, kamen keineswegs lupenrein zustande. Der Koreakrieg begann nicht mit einem Beschluss des Sicherheitsrates, da der in diesem Augenblick durch eine sowjetische Politik des leeren Stuhles blockiert war, sondern mit einer von den USA initiierten "Empfehlung" der Generalversammlung. Der Krieg gegen den Irak von 1991 begann zwar mit einem Beschluss des SR, doch wurde mit ihm die gesamte Verantwortung für die Kriegführung und ihre Zielsetzungen pauschal auf die von den USA geführte Anti-Irak-Koalition übertragen, also gewissermaßen aus der UNO in die USA ausgelagert. Was den damaligen UNO-Generalsekretär Pérez de Cuéllar zu der Feststellung brachte, dass dies ein schwarzer Tag für die UNO sei. Ferner hatte man sich inzwischen darauf geeinigt, dass Beschlüsse des SR auch dann wirksam sind, wenn ständige Mitglieder abwesend sind oder sich der Stimme enthalten. So kam der Beschluss über den damaligen Krieg gegen den Irak bei Enthaltung Chinas zustande (und die EU hob anschließend ihr gegenüber China wegen Verletzung der Menschenrechte verhängtes Embargo auf).
Schon in den ersten Jahrzehnten der UNO, die gleichzeitig die des Kalten Krieges mit der Zweiteilung der Welt in einen amerikanisch und einen sowjetisch geführten Block waren, intervenierten beide Groß- und Führungsmächte militärisch, wann immer sie dies für richtig hielten: Die Sowjetunion in Ungarn und der Tschechoslowakei, die USA in Kuba, Grenada, Panama, Nicaragua und so weiter. Und ohne von der UNO gehindert zu sein, setzten sich die USA in Vietnam (1964-73) und die Sowjetunion in Afghanistan (1979-89) fest. In der jüngeren Vergangenheit wiederum wurde der Krieg gegen Jugoslawien (1999) zunächst mit einem neu postulierten und bis heute umstrittenen Recht auf "humanitäre Intervention" legitimiert und dann von den USA und ihren Alliierten an der UNO vorbei begonnen und geführt.
Das Verhältnis zwischen der vom SR geführten - relativ neuen - Sicherheitspolitik der UNO auf der Grundlage des Gewaltverbots und der traditionellen - uralten - Großmachtpolitik mit militärischen Mitteln war und ist also seit jeher ambivalent. Daraus entstehende Widersprüche und Probleme konnten und können auch künftig nur dadurch überwunden werden, dass sich die großen und mächtigen Staaten, allen voran die einzige Supermacht USA, ihrer Pflicht zu einer Politik "im Einklang mit den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen" (Art. 24) und sich der Tatsache bewusst bleiben, dass eine wirkliche Schwächung oder gar Zerstörung der UNO auch nicht in ihrem eigenen nationalen Interesse liegen kann. Die einzige Supermacht USA war und ist ein weltpolitischer Faktor, der von der internationalen Staatengemeinschaft und in ihrer Organisation UNO respektiert oder zumindest in Rechnung gestellt wird. Doch nahm die Wertschätzung der USA für ihre Schöpfung UNO schon bald nach deren Gründung rapide ab, als nämlich die UNO mit der Entkolonialisierung binnen kurzem von 51 auf über 100 (heute 191) Mitgliedstaaten anwuchs und sich die USA in ihr permanent einer anti-amerikanischen Mehrheit aus kommunistischen und Dritte-Welt-Staaten gegenüber sahen. Später kamen weitere amerikanische Bemängelungen hinzu. Die bis heute vorwiegend negative Beurteilung der UNO in der amerikanischen Öffentlichkeit ist ein wichtiger Faktor für die amerikanische Außenpolitik. Allerdings haben es die USA bisher immer verstanden, die Vertretung ihrer Interessen als Supermacht einigermaßen mit den Erwartungen der Staatengemeinschaft an die UNO - und auch an die USA - in Einklang zu bringen. Was ihnen die gängige Bezeichnung "sanfter Hegemon" einbrachte.
Präsident Bush jr. hat diese Politik hinter sich gelassen. Seine außen-, innen-, wirtschafts- oder machtpolitischen Gründe und sonstigen Motive sind hier nicht das Thema. Doch sind im hiesigen Zusammenhang zwei Zielrichtungen seiner seit Anfang 2002 konsequent verfolgten Außenpolitik von Bedeutung. Diese geht einmal
- in Richtung einer Herauslösung der USA aus weltpolitischer Kooperation und eines Rückzuges auf eine Festung Amerika. Allseits bekannte Beispiele hierfür sind die Ablehnung des umweltpolitischen Kyoto-Protokolls, des Weltstrafgerichtshofes und von Abrüstungsverhandlungen, sowie das Raketenabwehrsystem für die USA. Und zum anderen geht sie
- in Richtung eines imperialen bewaffneten Ausgreifens in die Weltpolitik mit dem Anspruch, unabhängig von internationaler Ordnung und Recht über die Führung von Kriegen selbst zu entscheiden. Bekannte Beispiele hierfür sind neben Bushs Drängen auf einen krieg gegen den Irak in erster Linie seine Rede in der Militärakademie West Point vom 1. Juni 2002 und seine neue "Nationale Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten von Amerika" vom 17. September 2002, die beide diesen neuen Machtanspruch und seine Geltendmachung mit militärischen Mitteln darstellen.
Angesichts dieser amerikanischen Politik sind im Blick auf den Irak-Konflikt einige völkerrechtliche Aspekte von Interesse, die zeigen, dass gegenwärtig ein Krieg gegen den Irak nur mit erheblichen Völkerrechtsverletzungen möglich wäre.
- Der von Bush gewünschte Krieg gegen den Irak ist ein verbotener Angriffskrieg. Das Gewaltverbot erlaubt den Staaten Gewaltanwendung nur zur Verteidigung gegenüber einem bewaffneten Angriff oder auf der Grundlage eines Beschlusses des Sicherheitsrat (siehe unten). Insbesondere erlaubt das Gewaltverbot keine vorbeugende Gewaltanwendung, wie sie Bushs neue Strategie vorsieht, das heißt keine präventive Gewaltanwendung, um einer unmittelbar bevorstehenden Aggression zuvor zu kommen, und noch weniger die weiter reichende und den Kern von Bushs neuer Strategie bildende (in englisch) so genannte "pre-emptive" Gewaltanwendung, um der Möglichkeit einer Aggression vorzubeugen.
- Der alleinige Besitz von Massenvernichtungswaffen ist für den SR im allgemeinen - wie auch die bisherige Praxis gegenüber Staaten zeigt, die sie besitzen - kein Grund, um die Anwendung von Waffengewalt zu beschließen. Auch im Falle des Irak und trotz dessen seit dem Golfkrieg von 1991 besonderen völkerrechtlichen Verpflichtungen zur Abrüstung könnte der SR nach seiner bisherigen Praxis die Anwendung von Waffengewalt wohl nur dann rechtens beschließen, wenn (1) zweifelsfrei feststeht, dass Massenvernichtungswaffen vorhanden sind, wenn (2) ein Angriff mit ihnen zweifelsfrei unmittelbar bevorsteht, und wenn (3) alle anderen Mittel zur Friedenssicherung erschöpft sind (Art. 42). Alle drei Voraussetzungen bestehen zur Zeit nicht.
- Die amerikanische Begründung für einen Krieg gegen den Irak mit dem Wunsch, dort einen Regimewechsel herbeiführen zu wollen, gehr in jeder Hinsicht am Völkerrecht vorbei. Insbesondere ist die Aufgabe der UNO, wie gezeigt, der Erhalt beziehungsweise die Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit, nicht aber die Bewirkung von zwischenstaatlichen oder gar innerstaatlichen Veränderungen.
- Die zu hörende Auffassung, die im Zusammenhang mit dem Golfkrieg von 1991 gefassten Beschlüsse des SR über Anwendung von Gewalt gegenüber dem Irak könnten jetzt zur Legitimierung eines Krieges gegen ihn dienen, ist bestenfalls ein höchst gewagtes völkerrechtliches Konstrukt, das für eine so weitreichende Entscheidung wie die Führung eines Krieges zu schwach sein dürfte. Die besagten Beschlüsse müssen inzwischen als konsumiert gelten und können nicht wieder belebt werden. Die von den USA und Großbritannien in den letzten Jahren durchgeführten sporadischen und punktuellen Bombardierungen des Territoriums des Irak bleiben rechtlich umstritten.
- Die Resolution des SR zum Irak Nr. 1441 mag in einigen Punkten doppeldeutig sein (siehe oben). Zweifelsfrei ist jedoch: Für die in der Resolution dem Irak unter bestimmten Umständen unspezifiziert angedrohten "ernsthaften Konsequenzen" bedarf es, wenn sie mit Gewaltanwendung wahr gemacht werden sollen, eines weiteren Beschlusses des SR, in dem dies genau begründet und definiert wird.
- In der Charta heißt es: "Bei der Durchführung der vom SR beschlossenen Maßnahmen leisten die UNO-Mitglieder einander gemeinsam handelnd Beistand" (Art.49). Diese Verpflichtung wurde von den USA nicht eingehalten, als sie dem SR wichtige Informationen für die Inspektionen im Irak bis zu einem aus amerikanischer Interessenlage opportun erscheinenden Moment vorenthielten.
Das Fazit: Bush kann, wenn er unbedingt will, die UNO ignorieren und seinen Krieg an ihr vorbei führen. Der Sicherheitsrat kann, wenn er unbedingt will, die "Grundsätze und Ziele der Vereinten Nationen" bis zur Unkenntlichkeit dehnen und uminterpretieren. Aber Bush überzieht, und die Staaten werden, so ist jedenfalls zu hoffen, in letzter Konsequenz dem Recht den Vorzug vor dem Willen Bushs geben. Die Welt will Bushs Krieg nicht. In allen Staaten der Welt lehnen die Menschen mit großer Mehrheit einen Krieg ohne UNO-Mandat ab und nur wenige stimmen einem Krieg mit UNO-Mandat zu. In allen Staaten, außer in Mali und Usbekistan, grassiert Anti-Amerikanismus. Wie immer aber gegenwärtig ein Krieg gegen den Irak begründet oder sogar auch legitimiert und wie immer er mit der UNO oder an ihr vorbei geführt werden mag, der Schaden, der mit ihm für die internationale Staatengemeinschaft und das ihr Zusammenleben regelnde Recht angerichtet wird, wird erheblich größer sein als der von seinen Befürwortern für ihre Ziele erhoffte Nutzen. Und man wird mit Krieg weder das heutige Geschlecht noch "künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges bewahren" können.
* Hans Arnold, Dr. phil., Botschafter a.D., 1968-72 Botschafter Den Haag, 1977-81 Botschafter Rom (Quirinal), 1982-86 Ständ. Vertr. d. Bundesrep. Deutschland b. d. Vereinten Nationen u.a. intern. Org. in Genf; ab 1987 im Ruhestand; Lehrbeauftragter an der Hochschule für Politik München
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