Zwei Seiten einer Medaille: Krieg gegen Terror und um Öl
Michael Ehrke über die politischen und ökonomischen Aspekte der US-amerikanischen Strategie gegen Irak
Der Aufmarsch der US-Amerikaner gegen Irak geht weiter, denn der Bericht der UN-Inspektoren hat US-Präsident George W. Bush nicht überzeugt. Zwei Ziele verfolgen die USA mit dem möglichen Krieg gegen Irak: politisch die Durchsetzung der US-Dominanz und ökonomisch die Kontrolle der Erdölvorräte. Zu diesem Ergebnis kommt Michael Ehrke von der Friedrich Ebert Stiftung (FES) in Heft 1/2003 der Zeitschrift Internationale Politik und Gesellschaft, die von der FES herausgegeben wird. Wir dokumentieren seinen Text in gekürzter Fassung.
Worum geht es im angekündigten Krieg der USA gegen Irak? Wie bei jedem Krieg klaffen rechtfertigende Rhetorik und wirkliche Kriegsziele auseinander. Geht es wirklich um die Beseitigung der Bedrohung, die von den Massenvernichtungswaffen Iraks für die USA und ihre Verbündeten ausgeht? Geht es gar um die Demokratisierung einer Diktatur oder die Verhinderung künftiger terroristischer Anschläge? Aus der verwirrenden Vielfalt vermuteter Kriegsmotive - vom privaten Vaterkomplex des amerikanischen Präsidenten bis zur Eigendynamik einer einmal in Bewegung gesetzten Militärmaschinerie - zeichnen sich die Konturen zweier tragfähiger Erklärungsansätze ab, eines politisch-strategischen und eines politisch-ökonomischen. Politisch-strategisch (. . .) könnte Irak zum ersten Anwendungsfall der Bush-Doktrin werden, zum Exempel einer neuen Form globaler amerikanischer Dominanz. Der Demonstrationseffekt für den Rest der Welt, der von diesem Krieg - so er denn stattfindet - ausgeht, wäre im Rahmen dieser Argumentation keine Nebenfolge, sondern Kriegsziel.
Politisch-ökonomisch geht es ums Öl, um eine Auseinandersetzung sowohl zwischen amerikanischen, französischen, russischen und chinesischen Interessen als auch zwischen Erdölkonsumenten und nahöstlichen Produzenten. Dieses Urteil klingt heute etwas anstößig, da es zu sehr an simplifizierende imperialismustheoretische Pamphlete der siebziger Jahre erinnert (nach dem Muster "Weltmacht Öl"). Das heißt jedoch nicht, dass es falsch sein muss. Beide Erklärungsansätze schließen nur auf den ersten Blick einander aus. Sie können auch einander bedingen. Die Terroranschläge des 11. September, so die hier vorgestellte These, schufen die Voraussetzungen dafür, dass ein Krieg ums Öl nicht nur möglich, sondern auch zum Paradigma einer neuen, von den USA unilateral und militärisch dominierten Weltordnung wird. (. . .)
1. Erdöl und Außenpolitik: Der Kampf um die Ölrente
Wenn die Bedrohung, die von Irak ausgeht, relativiert werden muss: Welche Rolle spielt das irakische Öl als Kriegsmotiv?
Der internationale Erdölmarkt ist kein freier, sondern ein politisch kontrollierter Markt, die Ökonomie des Öls ist eine politische Ökonomie. Dies liegt auch daran, dass sich das auf dem Erdölmarkt zu erzielende Einkommen zu einem hohen Anteil aus Renten (Einkommen ohne Arbeit) zusammensetzt. (. . .)
Die beiden Ölkrisen der siebziger Jahre waren der politisch drapierte Versuch der nahöstlichen Produzentenländer, sich einen höheren Anteil der Erdölrente zu erkämpfen. Die Preiserhöhungen wirkten als externer Schock, der die Erdöl konsumierenden Länder kurzfristig in eine Wirtschaftskrise stürzte. Gleichzeitig jedoch wurden auch Alternativen zum subventionierten Fortbestand des petro-industriellen Komplexes sichtbar und politisch verfügbar: Energieeinsparungen und die Nutzung erneuerbarer Energien. Seit den Ölkrisen stehen die westlichen Regierungen vor der Alternative, entweder den petro-industriellen Komplex, seine Arbeitnehmer und Konsumenten durch die Garantie eines niedrigen Ölpreises gegen alternative Produktions- und Konsummuster zu schützen, oder aber diese alternativen Produktions- und Verbrauchsmuster zu fördern. In der Praxis setzte sich meist ein in sich widersprüchlicher policy mix durch, der beide Komponenten in unterschiedlichen und wechselnden Gewichtungen enthielt.
Die Regierung George W. Bushs allerdings hat sich seit Amtsantritt des Präsidenten einer eindeutigen Politik verschrieben, die auf den bedingungslosen Schutz des petro-industriellen Komplexes hinausläuft. Der demonstrative Austritt der USA aus dem Kyoto-Protokoll - dieses eher bescheidenen Ansatzes, die bei der Verbrennung von Kohlenwasserstoffen anfallenden Emissionen dem Klimaschutz zuliebe weltweit zu begrenzen - hatte daher auch eine über egoistische nationale Interessen hinausweisende symbolische Bedeutung.
Die sichere Versorgung der amerikanischen Volkswirtschaft mit Erdöl war von Anbeginn eine Priorität der Regierung George W. Bushs. Dies brachte der so genannte Cheney-Report zur amerikanischen Energieversorgung zum Ausdruck, der im Mai 2001 veröffentlicht wurde und als eines der wichtigsten Dokumente der Regierung Bush gelten kann. (. . .)
Der Report, der die wachsende Importabhängigkeit der amerikanischen Energieversorgung konstatiert - die USA werden bis 2020 zwei Drittel des von ihnen benötigten Erdöls importieren müssen, heute ist es etwa die Hälfte - empfahl, die Erdölversorgung in das Zentrum der amerikanischen Außen- und Handelspolitik zu stellen. Mehrere Initiativen der Regierung Bush lassen sich den Prioritäten des Cheney-Reports zuordnen. Hierzu gehören:
- die umstrittene Erschließung der Ölvorkommen in den arktischen Naturschutzgebieten Alaskas;
- die Annäherung an Russland, das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu dem nach dem Nahen Osten zweitgrößten Erdölanbieter geworden ist;
- das amerikanische Engagement in der kaspischen Region (in Zentralasien und im Kaukasus), deren Ölreserven nach dem Nahen Osten und Russland den dritten Platz der Weltreserven besetzen sollen;
schließlich auch kleinere Interventionen wie in Kolumbien, wo es offiziell um die Bekämpfung der Drogenproduktion, in Wirklichkeit aber auch um den Schutz der oft von Rebellen sabotierten Pipelines geht.
Auf den Nahen Osten bezogen empfahl der Report die Beibehaltung enger Beziehungen zu Saudi-Arabien, das 25 Prozent der Welt-Ölreserven beherbergt. Obwohl der Report Irak selbst nur indirekt erwähnt (er empfiehlt bezeichnenderweise, bestehende Sanktionen im Hinblick auf ihre Wirkung auf die Erdöl-Versorgungssicherheit hin zu überdenken), kann wohl ausgeschlossen werden, dass die Regierung Bush im Kontext ihrer auf Versorgungssicherheit zielenden Politik die Situation Iraks nicht als Problem definieren musste: Irak verfügt mit 115 Milliarden Barrel über die nach Saudi-Arabien zweitgrößten nachgewiesenen Reserven der Welt - und weitaus größere vermutete Reserven.
Im Korsett des Sanktionsregimes ist Irak freilich ein gefesselter Riese: Er produziert legal zwischen 800 000 und einer Million Barrel pro Tag anstatt der sechs Millionen, die irakischen Angaben zufolge innerhalb von sieben Jahren mit einem Einsatz von 30 Milliarden Dollar an ausländischen Investitionen möglich wären. Vor allem wurde unter dem Sanktionsregime die Entwicklung des irakischen Potenzials - die Umwandlung der 250 Milliarden Barrel vermuteter in nachgewiesene Reserven - blockiert. Seit 1970 sind keine systematischen geologischen Studien mehr vorgenommen worden. 55 der 70 irakischen Ölfelder sind nicht voll erschlossen, in acht Ölfeldern vermutet man Reserven von jeweils einer Milliarde Barrel "leicht" zu fördernden Öls.
Natürlich gab und gibt es die Möglichkeit, die Sanktionen zu lockern - wie im Food-for-Oil-Programm oder dem Ansatz der smart sanctions auch ansatzweise erfolgt - oder ganz aufzuheben. Hiervon hätten aber vor allen nicht-amerikanische Unternehmen profitiert: Französische Firmen (TotalFinaElf) haben Erschließungs- und Förderrechte der Felder von Majnoon (18 Milliarden Barrel) und Nahor bin Umar erworben; russische Unternehmen (Lukoil) verfügen über die entsprechenden Rechte des Feldes von Qurna (15 Milliarden Barrel); außerdem sind italienische (ENI) und chinesische Firmen (die China National Petroleum Company) am irakischen Ölgeschäft beteiligt.
Insgesamt hatte Irak die Entwicklungsrechte für Reserven von geschätzten 44 Milliarden Barrel an nicht-amerikanische Firmen verkauft. Nach der vollständigen Aufhebung des Embargos oder einem "natürlichen" Ende des Regimes von Saddam Hussein wären somit gewaltige Reserven unter die Kontrolle nicht-amerikanischer Unternehmen geraten.
Was läge näher, als in Bagdad ein neues, pro-amerikanisches Regime zu installieren, das die bestehenden Verträge einer Revision unterzöge und amerikanische Firmen bevorzugt behandelte? Aber würde eine derartige Neuordnung von Rechten und Interessen einen Krieg rechtfertigen?
2. Die Folgen des 11. September: Die Neubewertung der Rolle Saudi-Arabiens
Es ist wenig wahrscheinlich, dass die Regierung Bush schon vor dem 11. September eine militärische Invasion Iraks ins Auge fasste. Die Anschläge des 11. September schufen jedoch schlagartig neue innen- und außenpolitische Bedingungen: Innenpolitisch wurde ein Krieg gegen ein arabisches/islamisches Land nicht nur möglich, sondern populär, als Ergebnis einer spontanen Kontaktschuldvermutung, die jeden arabischen/islamischen Staat quasi automatisch unter Terrorismusverdacht stellt.
Außenpolitisch gewann der "Krieg gegen den Terror" höchste Priorität, und im Namen des Krieges gegen den Terror ließ sich aber auch die auf die Sicherung der Erdölversorgung zielende politisch-ökonomische Strategie weiterverfolgen und "militärisch aufladen". Erst nach dem 11. September erschien es plausibel, um irakisches Erdöl einen Krieg zu führen - so wie das reale oder vermutete Arsenal Iraks an Massenvernichtungsmitteln erst nach dem 11. September als akute Bedrohung dargestellt werden konnte, das eine militärische Intervention nicht nur rechtfertigte, sondern dringend geboten sein ließ. (. . .) Eine zentrale Folge des 11. September war schließlich die grundlegende Neubewertung der Rolle Saudi-Arabiens. Bei der Kontrolle des globalen Ölmarkts zum Zweck einer kontinuierlichen Versorgung des Westens mit billigem Öl hatte Saudi- Arabien seit den Ölkrisen der siebziger Jahre eine Schlüsselstellung eingenommen.
Saudi Arabien galt als der Garant westlicher Versorgungssicherheit of last resort. Die saudische Erdölförderung wirkte als Regulator der Opec- beziehungsweise der Weltproduktion zu einem Preis, der westlichen Interessen entsprach. Die saudische Schlüsselstellung basierte auf zwei Voraussetzungen. Erstens die Verfügung über die größten nachgewiesenen Erdölreserven der Welt. Zweitens ist Saudi Arabien ein wenig bevölkerungsreiches Land ohne die gravierenden Armutsprobleme anderer Erdölproduzenten wie Nigeria oder Indonesien.
Der Anteil der Erdöleinnahmen, den die Saudis für die Sicherung der innenpolitischen Stabilität aufzubringen haben, ist vergleichsweise niedrig. Das heißt: Saudi- Arabien war innenpolitisch in der Lage, moderate Erdölpreise zu tragen, und es verfügte über ausreichende Marktmacht (auch unter Einsatz seines Einflusses auf die kleineren Golfstaaten), um innerhalb der Opec ein für den Westen akzeptables Preisniveau durchzusetzen. Daher waren die USA auch bereit, dem saudischen Regime, einem der anachronistischsten der Welt, alles nachzusehen, einschließlich der aggressiven internationalen Verbreitung seiner fundamentalistischen Version des Islam.
Die nur auf den ersten Blick seltsame Dauerkoalition der USA mit dem Königreich war jahrzehntelang Kern der amerikanischen Nahostpolitik, auch unter George W. Bush, dessen Vizeminister wie erwähnt enge Beziehungen zu Saudi-Arabien empfohlen hatte. Mit dem 11. September veränderte sich dieses Bild dramatisch: Die Mehrheit der Attentäter von New York und Washington waren Saudis, ebenso wie der (vermutete) Drahtzieher der Anschläge, Osama bin Laden. Bin Ladens "Programm" bezieht sich in erster Linie auf Saudi-Arabien: Der für die Djihad-Islamisten empörende Skandal ist die Entweihung der heiligen Stätten des Islam durch westliche Truppen, eingeladen und geduldet von einem korrupten und abtrünnigen Herrscherhaus. Saudische Gelder finanzieren weltweit antiwestliche, zu Teilen terroristische Aktivitäten.
Die aggressiv-fundamentalistische wahabitische Version des Islam ist saudische Staatsreligion; gleichzeitig aber steht das Regime selbst unter dem Druck islamistischer Fundamentalisten, entweder seine aggressive Religionspolitik zu eskalieren oder aber selbst einem religiös motivierten Putsch zum Opfer zu fallen. Saudi Arabien wurde zu einem Sicherheitsrisiko, zu einem unsicheren Kantonisten, sei es, weil seine Herrscher zumindest indirekt in antiwestliche Aktivitäten verwickelt sind, sei es, weil ihre Herrschaft in der Gefahr steht, durch eine noch aggressivere Macht gestürzt zu werden, sei es schließlich, weil sie offensichtlich nicht in der Lage sind, den Export terroristischer Ideologie und Gewalt zu unterbinden.
Diese Neuinterpretation führte freilich offiziell (noch) nicht zu einer Abkehr der USA vom Königreich, es wurde weder auf der "Achse des Bösen" noch unter den Schurkenstaaten angesiedelt. Es gibt jedoch eine Vielzahl von Anzeichen, dass sich das Verhältnis der USA zu Saudi-Arabien zu ändern beginnt, von einer Studie der dem Militär nahe stehenden RAND-Corporation bis hin zu privaten Gerichtsverfahren gegen die vermuteten Mitverantwortlichen des Terrors von New York.
Da das Saudische Königshaus - aus Bösartigkeit oder aus Schwäche - seine Rolle als Dreh- und Angelpunkt der amerikanischen Erdölpolitik nicht mehr spielen konnte, musste das Gewicht Iraks als zweitgrößtem (möglicherweise auch größtem) Produktionsland des Nahen Ostens in den Mittelpunkt des amerikanischen Interesses rücken. Mehr noch: Mit der immer deutlicheren Ambivalenz des saudischen Regimes geriet auch ein Politikansatz in die Kritik, der vornehmlich die indirekte Kontrolle der Förderregionen des Nahen Ostens vorgesehen und sich damit begnügt hatte, "freundschaftliche Beziehungen" zum saudischen Regime aufrechtzuerhalten, es diesem aber selbst überlassen hatte, wie es seine Herrschaft ausübte und politische Stabilität wahrte.
Der mit dem angekündigten Krieg angestrebte Regimewechsel in Irak kündigt also nicht nur eine geographische Verschiebung des Zentrums der amerikanischen Erdöl- und Nahostpolitik an, sondern aller Voraussicht nach auch eine stärkere direkte Kontrolle des Nachfolgeregimes von Saddam Hussein, wer immer dieses stellen mag.
3. Irak: Eine neue Schlüsselstellung für die amerikanische Versorgungssicherheit
Irak (und nur Irak) hat offensichtlich das Potenzial, Saudi-Arabien als Schlüsselland der westlichen bzw. amerikanischen Versorgungssicherheit zu ersetzen - vorausgesetzt, das Regime Saddam Husseins wird durch ein prowestliches Regime ersetzt. Natürlich würde auch Saddam Hussein, wäre er von den Fesseln des Sanktionsregimes befreit, das irakische Erdöl auf dem Markt und damit jedem verkaufen, der dafür zu zahlen bereit ist - auch an die USA, wenn auch möglicherweise über nicht-amerikanische Firmen. Mehr noch: Das Regime Saddam Husseins würde auf Grund der wirtschaftlichen Schwierigkeiten Iraks das Öl aller Voraussicht nach zu jedem Preis auf den Markt zu bringen suchen und sich weniger an die Opec-Politik und -Quoten halten als andere Förderländer.
Ganz offensichtlich jedoch traut die amerikanische Regierung, wenn es um nahöstliches Öl geht, den Gesetzen des Marktes nicht in dem Maße, in dem sie sie generell akzeptiert: Ganz offensichtlich befürchtet sie, ein "adverses" Regime - was nicht nur für Irak gilt - könnte seinen Anteil an der Ölrente zur Finanzierung anti-amerikanischer Machenschaften missbrauchen (die Auseinandersetzung um die Verteilung der Ölrente gewinnt damit auch eine weltordnungspolitische Dimension) oder seinen Einfluss auf die amerikanische Erdölversorgung in Zukunft für politische Zwecke einsetzen - eine Lehre aus dem ersten Ölschock.
Nur unter der Bedingung eines Regimewechsels würde die Kontrolle über das irakische Erdölpotenzial die potenzielle Macht der Opec unter- und dem unzuverlässigen Saudi-Arabien das Wasser abgraben, ohne dass sich gleichzeitig ein neues Bedrohungspotenzial aufbaute.
Die Verfügung über die irakischen Reserven vermittels eines pro-amerikanischen Regimes würde es möglich machen, das saudische Königshaus sich selbst zu überlassen, möglicherweise mit dem Ergebnis seiner Destabilisierung. Damit würde nicht nur ein Faktor der Unberechenbarkeit ausgeschaltet, auch könnte die politische Kontrolle der arabischen Halbinsel auf eine modernere, sicherere und von der Unkalkulierbarkeit einer aggressiven Religionspolitik unabhängigere Grundlage gestellt werden.
Die Wiedereingliederung Iraks in die "große" politische Ökonomie des Erdöls hätte auch zur Folge bzw. zur Voraussetzung, dass die zurzeit prosperierende "kleine" illegale politische Ökonomie des irakischen Öls ausgetrocknet wird. Das irakische Öl strömt nicht, aber es leckt in alle Richtungen aus dem durch Sanktionen nur unvollständig gesperrten Fass. Zum Teil versucht das Regime Saddam Husseins seine Isolation durch hoch subventionierte illegale Erdölexporte in die Nachbarländer abzubauen. Jordanien bezieht sein gesamtes Öl aus Irak, zur Hälfte kostenfrei, zur Hälfte um zu 40 Prozent subventioniert. Syrien bezieht irakisches Öl und wird dadurch in die Lage versetzt, seine eigene (geringe) Produktion auf den internationalen Märkten zu veräußern. Zum Teil sickert das Öl auch vom irakischen Zentralstaat unkontrolliert auf die benachbarten Märkte.
Eine "rollende Pipeline", eine Lastwagenverbindung, die die Fördergebiete Iraks mit der Türkei verbindet, ist eine der Grundlagen der relativen Prosperität, der sich das nordirakische Kurdistan erfreut. Es handelt sich um eine Zone, in der keine formell anerkannte staatliche Autorität ausgeübt, sondern das faktische Machtvakuum durch die Herrschaft von Milizen gefüllt wird. Kurdistan konnte sich - wie Afghanistan - zu einer Arbitrageökonomie entwickeln, die vom illegalen oder semilegalen Parallelhandel zwischen Irak und der Türkei lebt. Wenn irakisches Öl aber - als Folge eines Regimewechsels - wieder ungehindert in den Westen strömen soll, würden die kleineren Lecks voraussichtlich gestopft werden - zum Nachteil Jordaniens, Syriens, der Türkei und vor allem Kurdistans. Zudem würde ein von den USA in Irak installiertes Regime die De-facto-Souveränität Kurdistans voraussichtlich nicht akzeptieren.
Es muss an dieser Stelle offen bleiben, wie ein von den USA installiertes Regime nach Saddam Hussein mit den französischen, russischen und chinesischen Erdölinteressen in Irak umgehen wird. Die Tatsache, dass Frankreich, Russland und China als ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrats am 8. November einer Resolution zustimmten, die den USA de facto einen Freibrief ausstellt, erlaubt den Schluss, dass es einen vorherigen Interessenausgleich gegeben hat. Ein Post-Saddam-Regime wird amerikanischen Interessen mit Sicherheit aufgeschlossener gegenüberstehen als Saddam Hussein selbst. Wahrscheinlich hat die amerikanische Regierung den Regierungen Frankreichs und Russlands aber zugesagt, dass ein Regimewechsel die französischen, russischen und chinesischen Interessen nicht grundlegend beeinträchtigen werde. Möglicherweise haben die Regierungen Frankreichs, Russlands und Chinas auch akzeptiert, dass die USA im Zweifelsfall auch ohne Zustimmung des Sicherheitsrats militärisch intervenieren werden und sich mit einem kleineren Stück des Kuchens begnügt - eines Kuchens, der aber offensichtlich so groß ist, dass viele an ihm teilhaben können.
Ein Regimewechsel käme den französischen, russischen und chinesischen Interessen insofern auch zugute, als die bislang vereinbarten Verträge unter den gegenwärtigen Bedingungen des Sanktionsregimes fast wertlos sind: Die wirkliche Ausbeutung des irakischen Erdölpotenzials bedarf eines stabileren politischen Umfelds als Saddam Hussein gewähren kann - daher die implizite Zustimmung zu einem Regimewechsel, auch wenn dieser die relative Position der amerikanischen Konkurrenz deutlich verbessert. Es geht also nicht in erster Linie um den Widerstreit amerikanischer und französisch/russisch/chinesischer Unternehmensinteressen, sondern um die volle Nutzung der unerschlossenen und untergenutzten Reserven Iraks für die Ölversorgung der Abnehmerländer.
4. Schluss: Erdöl und Strategie
Die globale sicherheitspolitische Strategie der USA und die politökonomische Strategie der Erhöhung der Erdöl-Versorgungssicherheit - die Bush-Doktrin und der Cheney-Report - schließen nicht einander aus, sondern ergänzen einander. Michael T. Klare spricht von drei Strängen der US-Politik - der militärischen Modernisierung, der Erdölpolitik und dem "Krieg gegen den Terror" -, die sich zu einer unauflöslichen Einheit verbinden.
Die Bush-Doktrin formuliert, wie erwähnt, die Bereitschaft der USA zu einem "preemptive strike" (vorbeugenden Schlag; d.Red.) in jedem Fall, in dem eine Bedrohung der USA und ihrer Verbündeten entstehen könnte. Dies ist im Grunde ein Freibrief für jeden Militäreinsatz zu jeder Zeit und an jedem Ort. Die Doktrin formuliert m. a. W. die Bereitschaft der neokonservativen Führungsgruppe der USA, die amerikanische militärische Überlegenheit auch auszuspielen, ohne sich durch internationale Übereinkommen, multilaterales Konfliktmanagement oder das Völkerrecht einengen zu lassen.
Da die Optionen der USA militärisch durch keine Macht oder Gruppe von Mächten mehr eingedämmt werden, gibt es auch keinen Grund, freiwillig die checks and balances des multilateralen Konsenses zu akzeptieren. Mit der Bush-Doktrin zeigen die USA erstmals offen, dass sie als einzig verbliebene Supermacht das, was sie als ihr Interesse definieren, auch mit Gewalt durchsetzen werden.
Wenn die Bush-Doktrin keine bloße Rhetorik bleiben soll, bedarf sie der Anwendung, und Irak bietet sich als Lektion für die Welt - auch für Europa - geradezu an. Es geht um den Nachweis, dass die USA bereit und in der Lage sind, ihren Interessen an jedem Ort der Welt militärisch Geltung zu verschaffen. Gleichzeitig ist der Anwendungsbereich der Bush-Doktrin trotz ihres globalen Anspruchs de facto geografisch begrenzt: auf die Weltregionen, die für die Erdölversorgung der USA von Bedeutung sind, also den "islamischen" Krisengürtel von Nordafrika bis zu den Philippinen, vom Kaukasus bis Somalia, zuzüglich einiger Regionen in Afrika und Lateinamerika.
Es mag ein historischer Zufall sein, dass der Westen einen relevanten Teil seiner Energierohstoffe aus demselben geographischen Raum importiert, der auch den Terror in den Westen exportiert; für die amerikanische Weltordnungspolitik bedeutet diese Übereinstimmung, dass der durch keine internationalen Abkommen eingeschränkte "Krieg gegen den Terror" und der Krieg um das Öl zwei Seiten derselben Medaille sind.
Die Kosten dieses doppelten Krieges haben allerdings nicht allein die USA zu tragen: Die Anschläge auf eine Disco in Bali, einen französischen Tanker im Jemen, ein Musical-Theater in Moskau, eine Synagoge in Djerba, Kirchenbesucher in Pakistan könnten die Vorboten einer Welle der Gewalt sein, die nach einem Krieg gegen den Irak die Welt heimsuchen würde. Differenzen innerhalb der arabischen/islamischen Welt - etwa zwischen arabischen Nationalisten und Islamisten, wie innerhalb des "Westens" etwa zwischen den USA und Europa - werden zweitrangig sein.
Der "Zusammenstoß der Kulturen", der sich nicht aus fundamentalen Gegensätzen zwischen der westlichen und der islamischen Zivilisation speist, sondern aus der "machtpolitischen Instrumentalisierung kultureller Differenzen", wird Differenzierungen beseitigen: Der Krieg wird für eine Bereinigung der Fronten sorgen. Dies zeigen bereits Anschläge der jüngsten Vergangenheit: Wenn der große Feind USA nicht oder nur mit Schwierigkeiten getroffen werden kann, suchen sich die Attentäter andere, "weichere" Ziele, sofern sich nur irgendeine Verbindung mit dem "Westen" ziehen lässt.
Aus: F.Rundschau-06.02.2003
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