Glücksfall Politik

WIDER DEN KONSENS

Wer Demokratie als einvernehmliches Regierungshandeln definiert, verwechselt Politik mit Management

Jacques Rancière

Jacques Rancière ist einer der einflussreichen politischen Philosophen Frankreichs, wenn er selbst sich auch weigert, seine Theorie als "politische Philosophie" zu bezeichnen. In den sechziger Jahren war er Mitarbeiter der Gruppe "Lire le capital" um Louis Althusser; sein Denken blieb weiterhin bestimmt von Marxschen Begriffen und den damit verbundenen Anliegen. Im letzten Jahr ist Rancières Buch La Mesentente (Paris 1995) unter dem Titel Das Unvernehmen auf Deutsch erschienen (Suhrkamp, Frankfurt a.M. ). Hier entwickelt er eine Definition der Politik, die radikaldemokratische und anarchistische Momente zum Wesensbestandteil des Politischen erklärt.

Politik, sagt Jacques Ranciere, ist nicht die Kunst, eine Gemeinschaft zu führen. Denn das ginge mit den Mitteln der "Polizei", die eine festgelegte Ordnung durchsetzen und aufrecht erhalten kann. Politik entsteht vielmehr genau dann, wenn Subjekte die vorgegebene Ordnung infrage stellen und in einen Streit um das Öffentliche eintreten. Das Wesen der Politik ist streitbare Auseinandersetzung, die vom Dissens lebt; Konsens ist dagegen die Auslöschung des Politischen, als Kapitulation vor dem globalen Weltsystem der Ökonomie.

In den neunziger Jahren habe ich, im Anschluss an aktuelle Entwicklungen, den theoretischen Rahmen für ein neues Nachdenken über Politik zu erarbeiten versucht. Es gab in den neunziger Jahren eine gewisse Zahl von Überraschungen, die über den Begriff der Demokratie - und dadurch über die Idee der Politik selbst - neu nachzudenken zwangen.

Der Zusammenbruch des Sowjetsystems schien zunächst den Triumph der Werte der als "formal" bezeichneten Demokratie. Nun sollte sich jedoch bald zeigen, dass eben dieselbe Demokratie, die angeblich triumphierte, im Innern geschwächt wurde. In den als demokratisch bezeichneten Regierungsformen wurden formale Demokratie und liberale Ökonomie zunehmend gleichgesetzt. Diese Identität offenbarte sich als innere Erschöpfung der demokratischen Auseinandersetzung. Mit dem Ende der sozialistischen Alternative hatte man also nicht die demokratische Auseinandersetzung zurückgewonnen. Eher bedeutete sie eine Reduktion des demokratischen Lebens auf das Management lokaler Konsequenzen, die aus den globalen ökonomischen Notwendigkeiten folgten. Diese galten als die allgemeine Bedingung, die den Parteien der Rechten und der Linken konsensuelle Lösungen aufzwangen. Der Konsens wurde damit zum höchsten demokratischen Wert.

Die Theorien der "Rückkehr des Politischen" und des Gemeinwohls (Hannah Arendt, Leo Strauss, Jürgen Habermas) erwiesen sich damit im Kern als ideelle Rechtfertigungen des Konsensbetriebs. Wo man hinhörte, wurde der Primat des Politischen über das "Soziale" behauptet. Aber dieser angebliche Primat diente in Wirklichkeit dazu, soziale Bewegungen zu stigmatisieren, die sich gegen die Gleichsetzung von Demokratie und staatlichem Management ökonomischer Notwendigkeiten zur Wehr setzten. Die angebliche "Rückkehr des Politischen" war in Wirklichkeit dessen Liquidierung. Was die Frage erneut aufwarf: Worin besteht die Besonderheit der Demokratie, worin die der Politik als Form gemeinsamen Handelns, und worin besteht das Gemeinsame?

Ein solches Nachdenken war um so nötiger, als der Triumph der Konsensdemokratie von befremdenden Gegenwirkungen begleitet war: eine gewisse Zahl von Staaten, die sich vom Sowjet-System befreit hatten, wurden in ethnische und religiöse Konflikte verwickelt, die manchmal radikalste Formen annahmen. Auch mancher demokratische Staat erlebte eine Wiederkehr von rassistischen und fremdenfeindlichen Bewegungen.

Es gab zweierlei Arten, diese neuen Formen der Gewalt zu fassen: Man konnte sie im Inneren der Konsenslogik denken, als "Ausnahmen", worin Regressionen überlebten.

Ich habe umgekehrt argumentiert: diese Phänomene seien nicht Ausnahmen, sondern Konsequenz aus der Konsenslogik, Wirkung eben jener Auslöschung von Demokratie und Politik, die der Sinn der Konsenslogik ist. Und Politik sei das, was von den Bewegungen der Identität negiert werde.

Menschliches Wort und tierische Sprache

Die Tradition der politischen Philosophie fasst das Politische als Konsequenz einer anthropologischen Invariante der humanitas. Diese Invariante kann Angst sein, welche die Menschen sich zu vereinigen zwingt. Sie kann aber auch der Besitz von Sprache sein, der zu diskutieren erlaubt. Die "Rückkehr zur politischen Philosophie" hatte von diesem Sprachvermögen des menschlichen Tiers reichlich Gebrauch gemacht, sei es mit Berufung auf Aristoteles, oder - wie Habermas es tut - im Rekurs auf die Sprachpragmatik. Beides hat, so scheint es, natürliche Konsequenzen: Den Menschen erkennt man am Besitz des "Logos", der zu diskutieren erlaubt, was gerecht und was ungerecht ist, während die Tiere nur eine Stimme haben, die Lust und Schmerz ausdrückt. Der Bürger (citoyen), sagt Aristoteles, ist derjenige, der am Faktum des Regierens und des Regiertwerdens beteiligt ist. Es ist nicht schwer, die zweite aus der ersten Proposition zu deduzieren, also im Privileg des Sprachvermögens die Gegenseitigkeit gründen zu lassen, die Politik und Demokratie im Allgemeinen charakterisiert.

In derselben Weise zeigt Habermas, dass das Faktum einer sprachlichen Beziehung, um eigene Interessen oder Werte zu vertreten, dazu verpflichtet, die Behauptungen den Kriterien objektiver Gültigkeit zu unterziehen. Die Tatsache, dass man sein Wort dem Verstehen übergibt, beinhalte ein immanentes Ziel gegenseitiger Verständigung, das kommunikativer Rationalität als Basis diene.

Nun ist diese Schlussfolgerung aber bar jeder Evidenz. Wo Aristoteles das Wesen des politischen Lebewesens definiert, führt er gleich danach eine Unterscheidung ein: Es gibt diejenigen, die Sprache haben und diejenigen, die sie nur verstehen, etwa die Sklaven. Sprachvermögen ist durchaus etwas anderes als ein physisches Vermögen. Es ist symbolische Beteiligung, symbolische Bestimmung der Beziehung zwischen der Ordnung des Worts und der Ordnung der Körper. Daher ist die Unterscheidung von menschlichem Wort und tierischer Stimme selbst problematisch. Um der Mehrheit der Menschheit die Qualität des politischen Tiers abzusprechen (den Sklaven, Arbeitern, Frauen, kolonialisierten Völkern, etc.), hat es in der Geschichte genügt, nicht hören zu wollen, dass aus ihren Mündern Sprachliches drang, darin nur Schreie des Hungers, der Wut oder der Hysterie zu hören.

Demokratie ist Abweichung

Genau dies ist mit "Unvernehmen" gemeint. Es leitet sich keinesfalls vom anthropologischen Faktum der Sprache ab. Denn die Ableitung des Verständnisses der Sprache aus der Existenz einer politischen Welt ist nie natürlich. Sie setzt die Intuition eines Streits um das Gemeinsame voraus. Mesentente (Miss-Verstehen) - dieser ins Deutsche nicht übersetzbare Begriff - verweist auf den Knoten zwischen zwei Dingen. Mesentente will heißen "Faktum des nicht Hörens, des nicht Verstehens", und das heißt: Streiten, Uneinigkeit. Führt man diese beiden Bedeutungen zusammen, ergibt sich daraus: Das Faktum, eine Sprache zu hören und zu verstehen, hat an sich überhaupt keine die Gemeinschaft gleichmachende Wirkung. Diese Wirkung lässt sich nur erzwingen durch die Institutionalisierung eines Streits, der die sinnlichen, die eingefleischten Evidenzen der nicht-egalitären Logik zurückweist. Und Politik ist dieser Streit.

Demokratie, das ist die spezifische Macht derer, die keinerlei allgemeinen Titel zum Machtausüben haben, es sei denn genau denjenigen, dafür keinen Titel zu besitzen. Sie bricht mit allen Logiken, die Beherrschung auf Herrschaftstitel zurückzuführen. Die verschiedenen Logiken lassen sich auf zwei große Herrschaftstitel verdichten: Geburt und Reichtum. Die Macht derjenigen, die keinen Titel haben, ist das Akzidens, das Anhängsel, welches das Spiel dieser Logiken und die herrschende Bewegung unterbricht, die von der archaischen Macht der Geburt zur modernen Macht des Reichtums führt. Dieses Akzidens macht nun, dass Politik als solche existiert.

Polizei und Politik

Politik ist nicht die Kunst, menschliche Ensembles im Allgemeinen gemäß eines im Begriff des Menschen enthaltenen Prinzips zu regieren. Sie ist das Akzidens, das die Logik unterbricht, wonach herrscht, wer dafür einen Titel hat. Zwischen der Sprachfähigkeit der menschlichen Wesen im Allgemeinen und der Definition der "Staatsbürgerlichkeit" im Sinne von Fähigkeit zu regieren und regiert zu werden, liegt die mesentente, das "Unvernehmen", das die Sphäre der Politik eröffnet, als Suspendierung aller Logiken, die Herrschaft in einer besonderen Tugend gründen lassen; liegt die Macht des demos als Ansammlung derjenigen, die ohne Titel sind, zu herrschen oder beherrscht zu werden. Demokratie ist in diesem Sinne nicht eine politische Regierungsform, die in einer Klassifikation verschiedener Formen des Regierens enthalten wäre. Sie ist auch keine Form des Soziallebens, wie es die von Tocqueville ausgehende Tradition will. Sondern Demokratie ist die Institution der Politik selbst, als abweichende Form des Regierens.

Dies verlangt in dem, was man allgemein als die "Sphäre der Politik" bezeichnet, nach der Einführung einer Trennlinie. Politik ist nicht zuerst die Ausübung von Macht, die Entscheidung über gemeinsame Anliegen und so weiter. Damit es Entscheidungen über allgemeine Anliegen geben kann, bedarf es einer Form der Symbolisierung des Allgemeinen, wovon es zwei Hauptformen gibt: Die erste Form symbolisiert eine Gemeinschaft als Ensemble wohl definierter Teile, setzt eine fixe Aufteilung zwischen allgemein und privat voraus, die ihrerseits auf einer geordneten Verteilung des Sichtbaren und Unsichtbaren, des Geräuschs und der Worte, usw. beruht. Die Art, Teile, Orte und Funktionen zu zählen, ist immer dieselbe. Sie bestimmt zugleich die Arten des angemessenen Seins, Tuns und Sagens an diesen Plätzen. Es ist immer dasselbe Prinzip der Verteilung und der Vervollständigung, das für keinerlei Ergänzung Platz lässt. Diese Form der Symbolisierung des Allgemeinen nenne ich "Polizei".

Im gleichen Zug reserviere ich den Namen "Politik" für eine andere Form der Symbolisierung des Allgemeinen, für diejenige, welche die Aufteilungen des Allgemeinen und des Privaten, des Sichtbaren und Unsichtbaren, des Hörbaren und Nicht-Hörbaren in Frage stellt. Eine derartige Infragestellung setzt die Aktion ergänzender Subjekte voraus. Es sind Kollektive des Sich-Äußerns und der Demonstration, die im Verhältnis zur Zahl sozialer Gruppen überzählig sind. In einer berühmten Formel spricht der junge Marx vom Proletariat als von einer Gesellschaftsklasse, die keine Klasse der Gesellschaft ist, sondern die Auflösung aller Klassen. Ich habe den Sinn dieses Satzes ein wenig abgewandelt und daraus eine Bestimmung des politischen Subjekts im Allgemeinen gemacht. Selbst wenn politische Subjekte denselben Namen tragen wie soziale Gruppen, sind sie überzählige Kollektive, welche die Rechnung der Teile der Gemeinschaft fraglich werden lassen. Derart sind "Arbeiter" und "Proletarier" Subjekte gewesen, die einen Streit um den privaten oder allgemeinen Charakter der Arbeitswelt entfacht haben. Ihr Tun bestand darin, ein als häuslich angesehenes Universum in die Sphäre des öffentlich Sichtbaren eintreten zu lassen; bestand darin, seine Bewohner als Wesen sichtbar zu machen, die zur gleichen Welt gehören wie die anderen und zum Sprechen und gemeinschaftlichen Denken fähig sind. Ein solcher Beweis konnte nicht anders erbracht werden als in der Form eines Dissenses, wie dies zu anderer Zeit mit dem Fähigkeitsnachweis der Frauen der Fall war.

Es gibt einen Zirkelschluss im Gegensatz von Politischem und Sozialem, wie ihn eine bestimmte Lektüre der antiken Philosophie (von Arendt und Strauss) ansetzt. In dieser Tradition soll die Politik von den Okkupationen des Sozialen befreit werden. Diese Befreiung erreicht jedoch nur, dass Politik auf Staatliches reduziert und für diejenigen reserviert wird, die einen "Titel" zur Ausübung besitzen. Politik selbst aber besteht umgekehrt darin, die Aufteilung von sozial und politisch, privat und öffentlich infrage zu stellen.

Eine Bühne bauen

Einen ähnlichen Zirkelschluss gibt es auch in der pragmatischen Logik von Habermas. Seine im Sprechakt fundierte Theorie funktioniert nur, wenn man die Bühne des Worts als schon bestehend voraussetzt, mit ihren Teilnehmern und Regeln. Politischer Austausch jedoch verbreitet sich eben genau da, wo eine solch prä-regulierte Bühne für Themen und Teilnehmer am Allgemeinen nicht besteht. In der Politik besteht der Akt eines Subjekts darin, die Bühne zu schaffen, die den Problemen Sichtbarkeit verleiht.

Das besagt, dass die Politik kein permanent Gegebenes der menschlichen Gesellschaft ist. Formen der Macht gibt es immer. Aber das heißt nicht, dass es auch immer Politik gibt. Es gibt sie, wenn sich die politischen Subjekte zum Streiten um die sinnlichen Gegebenheiten des Gemeinschaftslebens anschicken. Dieser Unterschied aber ist immer prekär. Politische Subjekte sind, verglichen mit den Teilen der Gesellschaft und den Kollektiven der Identität, Dispositive eines überzähligen Ausdrucks. Sie befinden sich immer in der Gefahr ihres Verschwindens. Ihres Verschwindens - das kann schlicht: ihrer Ohnmacht bedeuten. Öfter aber bedeutet es: ihrer Wiedereingliederung, ihrer Identifizierung, mit sozialen Gruppen oder imaginären Körpern.

Die aktuelle Form dieser Ohnmacht ist die Gleichsetzung der Demokratie mit Konsens, Auslöschung des konfliktreichen Streitcharakters der Gegebenheiten des Gemeinschaftslebens. Der Konsens bringt die politische Differenz zurück auf polizeiliche Homogenität. Er will nur Faktoren anerkennen wie tatsächliche Gemeinschaftsanteile, Umverteilungsprobleme, Expertenkalkulationen für Neuverteilungen und Verhandlungen zwischen Repräsentanten. Der Konsensstaat beruft sich auf die globale ökonomische Notwendigkeit, die als unverrückbar gegeben angesetzt wird, um alle Konflikte ums Allgemeine in innere Probleme der Gemeinschaft umzuwandeln: Der Konsens ist nichts anderes als die moderne Form der Reduktion der Politik auf Polizei. Und die Philosophen der Rückkehr des Politischen oder der Rückkehr zur Politik sind ideologische Leuchtfeuer für das, was in Wirklichkeit Entpolitisierung ist.

Von hier aus ist es möglich zu begreifen, wie der Konsens neue Formen einer Leidenschaft der Identität erzeugen kann. Kern des Konsenses ist die Unterdrückung überzähliger Subjekte der Politik. Und zwar die Unterdrückung desjenigen Volks, das überzählig ist, gemessen an der Aufzählung der Bevölkerungsteile. Es ist die Unterdrückung jener Klassenkonflikte, die die Interessenskonflikte zwischen Teilen der Bevölkerung subjektiv überlagern. Der Konsensus, das ist der Traum von einem Management der allgemeinen Anliegen, das sich jeder Form der Symbolisierung des Allgemeinen, also aller Konflikte um diese Symbolisierung, als eines "ideologischen" Zopfs von gestern entledigt hat.

Die von La Mesentente vorgeschlagenen Begriffe sind Instrumente, mit denen sich diese besondere Situation der Verdunkelung des Politischen denken lassen soll.

Ich maße mir nicht an, Heilmittel gegen die verschiedenen Formen dieser Verdunkelung des Politischen vorzuschlagen. Es scheint mir jedoch zumindest den Versuch wert, diese Formen auszumachen. Und es scheint mir notwendig, diesen Versuch von Katastrophenszenarien zu trennen. Es ist, so glaube ich, möglich und notwendig, dem Denken des Endes und der Katastrophe ein Denken des Politisch-Prekären entgegenzusetzen. Politik ist nicht ein Zeitalter der humanitas, das heute zum Ende kommt. Sondern Politik ist eine zufällige, lokale und prekäre Aktivität, die immer kurz vor ihrem Verschwinden steht. Und folglich vielleicht auch vor ihrem Wiederauftauchen.

Übersetzung: Ulrich Müller-Schöll

Der Text beruht auf einem Vortrag, den Rancière im Mai im Institut Français in Berlin gehalten hat, und gibt die wesentlichen Thesen seines Buches wieder.
Die vollständige Fassung des Vortrages wird im Juli in der Zeitschrift Dialektik, Heft 2003/1 abgedruckt.
Quelle: Freitag 28 / Juli 2003

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