Makabre Bilanz

Von Ignacio Ramonet

Jährlich werden in der ganzen Welt 270 Millionen Arbeitnehmer Opfer eines Arbeitsunfalls, 160 Millionen ziehen sich eine Berufskrankheit zu, mehr als 2 Millionen Menschen sterben während der Arbeit. So steht es im Bericht der in Genf ansässigen Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) vom 28. April 2003. Die ihm gebührende Aufmerksamkeit hat der Bericht jedoch nicht erfahren, denn die großen Medien sind an solchen Themen in der Regel nicht besonders interessiert. Jeden Tag sterben also 5 000 Menschen aufgrund ihrer Berufstätigkeit. "Und diese Zahlen erfassen nur einen Teil der Wirklichkeit", heißt es in der ILO-Studie (vgl. www.ilo.org/public).

In Frankreich sind es nach Angaben der gesetzlichen Krankenkassen jährlich 780 Menschen, die durch ihren Beruf ums Leben kommen - und auch hier heißt es: "Die Zahlen sind eher zu niedrig angesetzt." Etwa 1,35 Millionen Arbeitsunfälle pro Jahr weist diese Statistik aus. Das ergibt bei einem Achtstundentag acht Verletzte pro Minute. Einen "Blutzoll" nannten die Kämpfer für die Rechte der Arbeiter um die vorletzte Jahrhundertwende diesen versteckten Tribut an Wachstum und Wettbewerb.

In den aktuellen Debatten um das Rentenalter sollte man sich an diesen Begriff erinnern und auch an die Hunderttausenden denken, die am Ende ihres Arbeitslebens so erschöpft und ausgelaugt sind, dass sie ihre "alten Tage" nicht mehr genießen können. Mit der steigenden Lebenserwartung zeigen sich auch die Spätfolgen der Arbeitsbelastung deutlicher: Erkrankungen wie Krebs, Herzinfarkt, Depressionen, sensorische Störungen usw.

Umso empörender ist der Versuch, das Renteneintrittsalter zu erhöhen. Es handelt sich um einen koordinierten Vorstoß der Verfechter einer neoliberalen Globalisierung. Schon seit den 1970er-Jahren bekämpft die Weltbank (vgl. http://forums.transnationale.org/viewtopic.php?t=11) mit ihren Rentenreformplänen - Seite an Seite mit den G-8-Ländern und der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) - den Sozialstaat und die Sozialversicherungssysteme. Nun hat sich die Europäische Union in diese Front eingereiht: Beim Gipfeltreffen von Barcelona im März 2002 beschlossen die Staats- und Regierungschefs - der Linken wie der Rechten -, die Pensionsgrenze um fünf Jahre heraufzusetzen.

Dies ist eindeutig ein sozialer Rückschritt und bedeutet den Abschied von allen Zukunftsvisionen für eine Gesellschaft, in der mehr Gleichheit und soziale Gerechtigkeit herrschen sollen. Während der Mittelstand immer mehr verarmt, konzentriert sich der Reichtum zunehmend am oberen Ende der Einkommensskala: Vor dreißig Jahren betrug das Einkommen eines Arbeiters etwa ein Vierzigstel der Bezüge eines Unternehmers - heute verdient ein Wirtschaftsboss das 400fache. Im Unterschied zu den Eigentümern von Firmenanteilen können gewöhnliche Lohnabhängige dem Ende ihrer Erwerbstätigkeit durchaus nicht in aller Ruhe entgegensehen.

Hunderttausende haben mit wiederholten Arbeitsniederlegungen gegen den Abbau der Rentenversicherung protestiert - in Frankreich wie in Italien, Spanien, Österreich und Griechenland. Das Rentensystem ist zweifellos reformbedürftig, schon weil die Zahl der Erwerbstätigen zurückgeht und die Zahl der Rentner steigt. Heute liegt der Aufwand für die Rentenzahlungen in Frankreich bei 11,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, 2020 werden es 13,5 Prozent sein, 2040 15,5 Prozent, und irgendwann wird der Staatshaushalt diese Last nicht mehr tragen können.

Obwohl die Krise des Kapitalmarkts die Pensionsfonds bereits um mehr als 20 Prozent entwertet hat, ist die kapitalisierte Rente schon deshalb eine Überlegung wert, weil alle Reformvorschläge im Rahmen des Systems der sozialen Lastenverteilung eindeutig Nachteile für die Lohnempfänger mit sich bringen. Man behandelt diese Fragen jedoch heute rein finanztechnisch und ignoriert die enormen sozialen Folgen. Beim Durchspielen aller Variablen (Höhe und Dauer der Sozialversicherungsbeiträge, Rentenalter, Höhe der Renten und Pensionen) haben sich bislang für die Arbeitnehmer und die Arbeitseinkommen nur Nachteile ergeben.

Offenbar findet niemand etwas dabei, dass jeden Tag zwei Arbeitnehmer am Arbeitsplatz ums Leben kommen und weitere acht ihre Gesundheit dem Wohlergehen des Unternehmens opfern. Aber dass die Firmen oder das Finanzkapital die Hauptlast der Renten tragen sollten, scheint undenkbar. Die Empörung der Arbeiter ist nur zu verständlich.

Le Monde diplomatique Nr. 7077 vom 13.6.2003

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