Harte Wirklichkeit
Ignacio Ramonet
In der Präambel der UN-Charta, dem gemeinsamen Gesetz unseres Planeten, heißt es: "Wir, die Völker der Vereinten Nationen - fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren […], Grundsätze anzunehmen und Verfahren einzuführen, die gewährleisten, dass Waffengewalt nur noch im gemeinsamen Interesse angewendet wird […] - haben beschlossen, in unserem Bemühen um die Erreichung dieser Ziele zusammenzuwirken." Artikel 1 der Charta nennt als vornehmste Ziele: "den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren" und "Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken".
Indem die Vereinigten Staaten und ihre britischen Verbündeten am Morgen des 20. März einen "Präventivkrieg" gegen den Irak begannen und ohne UN-Mandat einmarschierten, haben sie das Völkerrecht verletzt, die Grundprinzipien der Weltorganisation mit Füßen getreten, sich außerhalb des gemeinsamen Rechts gestellt und eine Aggression begangen. Dieses Verbrechen gegen den Frieden bringt die Weltgemeinschaft in eine beispiellose Lage. Noch nie haben zwei Gründungsmitglieder der UNO und ständige Mitglieder des Sicherheitsrats, obendrein zwei der ältesten Demokratien der Welt, das Völkerrecht auf so brutale Weise verletzt.
Damit ist die Weltordnung nachhaltig erschüttert - und zwar nicht als Hierarchie der Macht (die führende Position Washingtons ist unbestritten), sondern als politisches Wertesystem. Der Protest von Millionen Bürgern in aller Welt, auch in den USA und in Großbritannien, rührt von dem Gefühl, dass dieser Krieg amoralisch ist. Sie alle erwarten, auch wenn sie keine großen Illusionen hegen, dass das mächtigste Land der Erde sich auch als ethische Macht verhält: ein Vorbild zu sein, was die Respektierung des geltenden Rechts oder wenigstens der Grundprinzipien der politischen Moral betrifft.
Seit den Attentaten vom 11. September 2001 hat sich die Bush-Administration offenbar auf eine besonders zynische Konzeption von Staatsräson und nationalem Interesse festgelegt. "Ein Fürst muss verstehen, dass er oft gegen den Glauben, gegen die Barmherzigkeit, gegen die Menschlichkeit und gegen die Religion handeln muss, wenn er seine Macht behalten will", riet einst Machiavelli in seinem berühmten Buch "Il Principe". An diesen Rat hielt sich US-Präsident Bush, als er mit der Falkenfraktion seiner Administration beschloss, Gesetz und Moral, Menschenrechte und Völkerrecht zu missachten.
Als der Vorsitzende der europäischen Sozialisten, Robin Cook, den Fraktionsvorsitz im Unterhaus niederlegte, weil Tony Blair den US-Feldzug mit einem britischen Expeditionskorps unterstützt, erklärte er: "Die harte Realität sieht so aus, dass man von Großbritannien verlangt, sich in einem Krieg zu engagieren, ohne dass irgendeine internationale Institution, in der wir ein entscheidendes Mitspracherecht haben, zugestimmt hätte. Weder die Nato noch die Europäische Union noch der Sicherheitsrat haben ihre Einwilligung erteilt. Eine so gravierende diplomatische Isolation ist ein ernsthafter Rückschlag."
Im UN-Sicherheitsrat konnte die Hypermacht Amerika nicht einmal Länder wie Mexiko, Chile und Pakistan überzeugen, die sich seit langem in ihrem Einflussbereich befinden. Nach diesem diplomatische Desaster folgte der nächste schwere Rückschlag, als ihr alter Verbündeter Türkei sich weigerte, den US-Truppen ein Durchzugsrecht zu gewähren. Doch Bush beharrte auf seinem Angriffsplan und reklamierte die Unterstützung durch eine zusammengewürfelte "Koalition der Willigen" aus rund 40 Ländern, darunter die exkommunistischen Länder Usbekistan und Turkmenistan, die zu den übelsten Diktaturen der Welt gehören.
Heute steht fest, dass das widerwärtige Tyrannenregime von Saddam Hussein zwar besiegt werden wird, George W. Bush und seine Berater sich jedoch moralisch nicht haben durchsetzen können. Ihre Missachtung des Völkerrechts und die Arroganz, die ihr die brutale Gewalt ihrer Militärtechnologie verleiht, mündete in einer Welle der Amerikakritik, wie sie die Welt seit dem Vietnamkrieg nicht mehr erlebt hat.
Die Genfer Internationale Juristenkommission, ein Konsultationsorgan der Vereinten Nationen, warnte in einem am 18. März 2003 veröffentlichten Appell vor einem Angriff auf den Irak ohne UN-Mandat: "Ein solcher Angriff wäre rechtswidrig und würde einen Angriffskrieg darstellen. […] Eine solche Intervention entbehrt jeder rechtlichen Grundlage. Ohne Genehmigung durch den Sicherheitsrat darf kein Staat gegen einen anderen Gewalt anwenden, außer im Fall der Notwehr, als Antwort auf einen bewaffneten Angriff." Völkerrechtler aus Großbritannien, Frankreich, Spanien und Belgien vertraten in einem Aufruf dieselbe Ansicht (www.ulb.ac.be/droit/cdi/appel_irak.html).
Die US-Regierung hat versucht, den Angriffskrieg gegen den Irak als "Notwehr" zu legitimieren. Dazu diente die unbewiesene Behauptung, das Regime in Bagdad habe etwas mit den Anschlägen vom 11. September zu tun. Diese wurde jedoch nur der eigenen Öffentlichkeit, nicht aber dem UN-Sicherheitsrat zugemutet. Letzterer war noch am Vorabend des 20. März der Ansicht, dass der Irak keine unmittelbare Bedrohung darstelle. Überdies setzt "Notwehr" einen bewaffneten Angriff voraus, ganz abgesehen davon, dass der Begriff "präventive Notwehr" im Völkerrecht gar nicht existiert.
Bush erklärte die Irakinvasion auch mit der Notwendigkeit, das politische Regime des Landes abzulösen und Saddam Hussein aus dem Amt zu jagen. Doch so löblich solche Motive auch sein mögen, nach der UN-Charta rechtfertigen sie keine unilaterale Entscheidung für einen Gewalteinsatz. Auch der Vorwand, dem Irak die Demokratie bringen zu wollen, kann einen Angriffskrieg juristisch nicht rechtfertigen. In seinem Hauptwerk, "De iure belli ac pacis", schrieb Hugo Grotius, der Begründer des Völkerrechts, schon im Jahr 1625: "Andere gegen ihren Willen regieren zu wollen, unter dem Vorwand, es gereiche ihnen zum Vorteil", sei das häufigste Argument, mit dem "ungerechte Kriege" geführt werden.
Quelle : Le Monde diplomatique Nr. 7028
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