Wir wollen, dass es sozial gerecht zugeht

Der Juso-Vorsitzende Niels Annen hält Kritik an Agenda 2010 aufrecht und fordert offene Diskussion

ND: Ist mit der Verabschiedung des Leitantrages zum Sonderparteitag eine Vorentscheidung für die Agenda 2010 gefallen?

Annen: Das glaube ich nicht. Die erste Regionalkonferenz hat gezeigt, dass zwei Herzen in der Brust der Sozialdemokraten schlagen. Die große Mehrzahl will, dass Gerhard Schröder Bundeskanzler bleibt. Aber der Beifall für Ottmar Schreiner, der die Kritik an der Agenda auf den Punkt brachte, zeigt: Sie wollen, dass es sozial gerecht zugeht, dass wir unsere Wahlversprechen einhalten.

Andere Politiker werten die Konferenz als Signal der Geschlossenheit.

Da weiß ich nicht, auf welcher Regionalkonferenz die gewesen sind. Es geht auch weniger um Zerstrittenheit als darum, dass wir in der SPD jetzt eine Diskussion stellvertretend für die Gesellschaft führen. Darüber, wie der Sozialstaat reformiert werden kann, um ihn zu erhalten. Eine schwierige Frage. Sie muss offen und kontrovers diskutiert werden können. Was ich bedaure ist, dass diese wichtige Diskussion jetzt unter dem Druck der Vertrauensfrage des Bundeskanzlers steht.

Ist nach dem Ultimatum etwas anderes als Zustimmung zur Agenda denkbar?

Wahrscheinlich kann sich Gerhard Schröder so eine Mehrheit organisieren. Ich befürchte allerdings immense Kollateralschäden: enttäuschte Wähler, Parteiaustritte, Einbrüche bei den nächsten Landtags- und Kommunalwahlen. Ich befürchte außerdem, dass wir schon bald wieder vor ähnlichen Problemen stehen, mit womöglich fünf Millionen Arbeitslosen, und das ganze Spiel von vorn losgeht.

Was kritisieren Sie an der Agenda?

Ihre soziale Unausgewogenheit und dass sie keine Arbeitsplätze schafft.

Welche Kritikpunkte haben sich mit dem Leitantrag erledigt?

Keine. Zur Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe auf Sozialhilfeniveau, zur verkürzten Bezugsfrist des Arbeitslosengeldes und zur Privatisierung des Krankengeldes gibt es keine Zugeständnisse. Ich begrüße aber, dass es Bereitschaft zur Diskussion gibt. Es werden Arbeitsgruppen eingesetzt, und der Vorsitzende hat in dem Leitantrag zentrale Fragen formuliert. Ich gehe davon aus, dass er dann auch interessiert ist, Antworten zu bekommen. Aufgabe des Sonderparteitages am 1. Juni muss es sein, eine offene Diskussion zu führen, ohne Druck auf die Delegierten.

Franz Müntefering bestreitet, dass die beabsichtigten Reformen für einen Richtungswechsel der SPD stehen.

Man muss zumindest konstatieren, dass sich die Agenda 2010 an Ideen orientiert, die schon die letzten 20 Jahre die Wirtschaftspolitik mitbestimmt haben. Gegen die haben wir uns als Jusos gewandt. Und den Menschen haben sie nicht mehr Arbeit, nicht mehr Wohlstand gebracht.

Gefährden die Jusos die Regierungsfähigkeit der SPD?

Im Gegenteil. Unser Einsatz gilt dem Erhalt der Regierungsfähigkeit. Wenn wir es nicht schaffen, die Lebenssituation der Menschen zu verbessern, für über eine Million Jugendliche, die zur Zeit ohne Zukunftsperspektive dastehen, Arbeit und Ausbildung zu schaffen, die Investitionskraft der Kommunen zu verbessern – gerade in strukturschwachen Regionen wie Ostdeutschland –, dann werden wir die Regierungsfähigkeit und unsere Mehrheitsfähigkeit verlieren.

Das Mitgliederbegehren hat schon begonnen. Nun stellen einige Initiatoren in Aussicht, es quasi zurückzuholen. Wie soll das gehen?

Über die formale Seite müssten sich die Initiatoren Gedanken machen. Ich halte das Begehren für ein transparentes, legitimes demokratisches Instrument und die teilweise sehr persönlichen Angriffe auf einige Initiatoren für ungerechtfertigt.

Halten Sie nach der heftigen Kritik aus Regierungskreisen Ihre Rücktrittsforderung gegenüber Wirtschaftsminister Wolfgang Clement aufrecht?

Wolfgang Clement macht es einem wirklich nicht leicht. Wir hatten die unsägliche Debatte über den Kündigungsschutz. Wolfgang Clement hat bis heute das im Regierungsprogramm vorgesehene Programm für 100000 Arbeitsplätze für junge Leute in strukturschwachen Regionen nicht umgesetzt. Und er hat öffentlich gegen die vom Bundeskanzler angedrohte Ausbildungsplatzumlage für säumige Unternehmen gesprochen. Wenn Wolfgang Clement endlich die Linie des Bundeskanzlers umsetzen würde, dann wären wir Jusos schon zufriedener.

Also Rücktritt?

Ich habe gesagt, wenn diese Politik fortgesetzt wird, dann dürfte er in dieser Regierung keinen Platz mehr haben.

Also doch Rücktritt?

Ich habe die Politik von Wolfgang Clement kritisiert und stehe zu dieser Kritik. Wenn ein Minister offen gegen die Linie des Bundeskanzlers auftritt, dann muss die Frage gestellt werden, wem seine Loyalität eigentlich gilt.

Fragen: Uwe Kalbe
Quelle: ND 30.04.03