metall: Bundeskanzler Gerhard Schröder hat in der Agenda 2010 den radikalsten Sozialabbau seit Bestehen der Bundesrepublik verkündet. Wie fühlt sich der AfA-Vorsitzende Ottmar Schneider dabei?Schreiner: Ich bin tief enttäuscht. Von einer SPD-geführten Regierung hätte ich wirklich eine andere Politik erwartet. Das Programm unterscheidet sich kaum mehr von der Politik, die von den Konservativ-Liberalen unter Kohl gemacht worden ist.
metall: Die Regierung glaubt, damit das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler zurück zu gewinnen. In der metall-Redaktion stapeln sich aber inzwischen die Listen mit den Protestunterschriften gegen die Schröder-Politik. Werden nicht die Wähler eher verprellt?
Schreiner: Die SPD zieht die falschen Schlussfolgerungen. Ein erheblicher Teil der SPD-Stammwähler ist in Hessen und Niedersachsen nicht zur Wahl gegangen, weil sie mit der Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik der Regierung unzufrieden sind. Sie erwarten eine Politik, die Arbeit schafft, die Probleme in den sozialen Sicherungssystemen löst und dennoch sozial gerecht ist. Jetzt aber soll der Kündigungsschutz gelockert, Lohnersatzleistungen wie Arbeitslosengeld- und -hilfe gekürzt und die paritätische Finanzierung beim Krankengeld gestrichen werden. Ich wüsste nicht, was sich seit dem Bundestagswahlkampf so verändert hat, dass wir die damals gegebenen Versprechen aufkündigen müssten.
metall: Die Bundesregierung behauptet, nur so könnten die Probleme auf dem Arbeitsmarkt gelöst werden.
Schreiner: Ich befürchte eher das Gegenteil. Die Lockerung des Kündigungsschutzes wird nur dazu führen, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer leichter entlassen werden können. 1996, als der Kündigungsschutz das erste Mal gelockert wurde, behauptete die Kohl-Regierung, dadurch würden innerhalb eines Jahres 500 000 zusätzliche Arbeitsplätze entstehen. Stattdessen gab es nach einem Jahr 300 000 zusätzliche Arbeitslose. Eine OECD-Studie über Kündigungsschutz kommt ebenfalls zu dem Schluss: Es gibt keinen erkennbaren Zusammenhang zwischen Kündigungsschutz und Beschäftigung. Anders gesagt: Auch gut ausgebauter Kündigungsschutz ist kein Beschäftigungshemmnis. Clement selbst misst dieser Maßnahme eher symbolischen Wert zu. Er hofft, dass dadurch die Bereitschaft der Unternehmen wächst, Neueinstellungen zu tätigen
metall: Aber die Mehrbelastungen für die Krankenversicherten, um die Lohnnebenkosten zu senken, das ist alles andere als ein symbolischer Akt.
Schreiner: Die Lohnnebenkosten sind seit Mitte der 70er-Jahre konstant geblieben. Sie liegen damit im europäischen Durchschnitt. Das Gerede von den zu hohen Lohnnebenkosten ist schlicht ein Märchen. Außerdem: Im Gesundheitssystem wäre es problemlos möglich, die Kassen zu entlasten und die Beiträge zu senken. Wir müssten nur die versicherungsfremden Leistungen über Steuern finanzieren. Im Gegenzug könnte auf die geplante einseitige Belastung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beim Krankengeld verzichtet, der Systembruch vermieden werden. Ich befürchte einen Dammbruch. Wenn wir heute die Vorsorge für langfristige Erkrankungen allein den Versicherten auferlegen, ist der Tag nicht weit, an dem auch die Vorsorgefür die Lohnfortzahlung allein den Beschäftigten aufgebürdet wird.
metall: Trotzdem: Die Arbeitslosigkeit steigt, die Wirtschaft steckt in einer tiefen Krise. Was sind die Alternativen?
Schreiner: Sozialabbau schafft keine Arbeit. Er wird vielmehr zu weiteren Beschäftigungsverlusten verführen. Ursache für die ökonomischen Probleme ist zu allererst die schwache Nachfrage auf dem Binnenmarkt. Durch die Mehrbelastung der Beschäftigten und der Arbeitslosen werden dem Markt weitere Milliarden an Kaufkraft entzogen. Allein die Herausnahme des Krankengeldes aus den Leistungen der Kassen belastet die Arbeitenmerinnen und Arbeitnehmer in einer Größenordnung von vier Milliarden Euro.
metall: Aber die angekündigte Förderung öffentlicher und privater Investitionen könnte Arbeitsplätze schaffen.
Schreiner: Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber er reicht nicht aus. Die öffentliche Investitionsquote liegt in Deutschland bei 1,6 Prozent und damit deutlich unter dem europäischen Durchschnitt. Um mit unseren europäischen Nachbarn gleichzuziehen, müssten wir jährlich 20 Milliarden Euro mehr in die Hand nehmen. Das wäre ökonomisch sinnvoll. Damit könnten notwendige Investitionen in den Kommunen finanziert und Arbeitsplätze, insbsondere im mittelständischen Handwerk, gesichert und geschaffen werden.
metall: Die öffentliche Hand ist doch pleite, nicht zuletzt wegen der verfehlten Steuerpolitik der rot-grünen Bundesregierung. Wie sollen solche Investitionsprogramme finanziert werden?
Schreiner: Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Zum Beispiel durch eine angemessenere Besteuerung der größeren Einkommen und die Einführung einer Vermögenssteuer. Kein vergleichbar reiches Land versteuert die großen Vermögen weniger als Deutschland, mit einer Ausnahme: Österreich. Hier liegen Ressourcen brach, die der Staat für die Finanzierung notwendiger öffentlicher Aufgaben nutzen könnte. Eine zweite Variante: Der Spitzensteuersatz wird nicht, wie beschlossen, auf 42 Prozent, sondern nur auf 47 Prozent abgesenkt. Das würde völlig ausreichen. Ein Prozent mehr oder weniger macht zwei Milliarden Euro haben oder nicht haben.
metall: Sie sind einer der wenigen, die im SPD-Parteivorstand gegen die Schröder-Pläne gestimmt haben. Wie erklären sie sich die breite Zustimmung ihrer Parteifreunde?
Schreiner: Die Mehrheit hat für den Kanzler, aber nicht für die Sache gestimmt. Anders ist das Ergebnis nicht zu erklären.
metall: Auch in der SPD-Bundestagsfraktion gibt es kaum Widerstand?
Schreiner: Gäbe es wirklich eine rein sachorientierte Abstimmung in der SPD-Bundestagsfraktion, würden große Teile der Agenda 2010 keine Mehrheit finden. Inzwischen gibt es aber heftige Kritik an der SPD-Basis und eine Welle von Parteiaustritten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Fraktionsspitze sich darüber hinwegsetzen kann.
metall: Trotzdem hält der Kanzler an seinem Kurs fest. Auf dem Sonderparteitag am 1. Juni in Berlin will er sich die Rückdeckung der SPD holen.
Schreiner: Diese Rechnung wird kaum aufgehen. Selbst wenn die Delegierten und die rot-grüne Bundestagsmehrheit zustimmen würden, im Bundesrat haben CDU und CSU die Mehrheit. Sie haben bereits angekündigt, dass sie die Kürzungen des Arbeitslosengeldes für Ältere zu Fall bringen wollen.
metall: Aber andere "Reformpläne", zum Beispiel beim Kündigungsschutz, gehen CDU/CSU nicht weit genug. Wird die Regierung weitere Zugeständnisse machen?
Schreiner: Jeder weiß: Angesichts der politischen Machtverhältnisse sind die Spielräume bei zustimmungspflichtigen Gesetzen klein. Umso mehr erwarte ich von einer SPD-geführten Regierung, dass sie erst die Ziele sozialdemokratischer Politik formuliert und dann über Kompromisse mit der Opposition nachdenkt. Aber bereits im Vorfeld der parlamentarischen Beratungen eine Politik zu verkünden, die CDU und FDP entgegenkommt, das setzt das sozialdemokratische Profil aufs Spiel.
metall: Auch die Basis der Grünen opponiert gegen die Bundespartei. Mitte Juni wird ebenfalls ein Sonderparteitag stattfinden.
Schreiner: Ich glaube nicht, dass dies noch spürbare Auswirkungen auf die Bundestagsfraktion der Grünen haben wird, die fast geschlossen hinter der Agenda 2010 steht. Bis dahin sind fast alle wichtigen Gesetzesänderungen auf den Weg gebracht.
metall: Werden Sie im Bundestag gegen die Lockerung des Kündigungsschutzes und die Kürzung der Sozialleistungen stimmen? Auch wenn die Mehrheit für die Koalition auf dem Spiel steht?
Schreiner: Ich habe mich bereits öffentlich festgelegt. Ich werde nur zustimmen, wenn es zu deutlichen Veränderungen kommt. Dabei bleibt es. Ich habe 17 Jahre im Arbeits- und Sozialausschuss gegen den Sozialabbau von Blüm und Geißler gekämpft. Niemand kann verlangen, dass ich jetzt meine Überzeugungen über Bord werfe. Ich hoffe aber immer noch, dass die Regierung einlenkt. Deshalb sollten Gewerkschaften, SPD-Mitglieder und andere gesellschaftliche Gruppen in den kommenden Wochen ihre Kritik laut und unmissverständlich artikulieren. Ich bin sicher, dass dies seine Wirkung nicht verfehlen wird.
Interview: Ruth Gruber
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