Ausgrenzung und Herrschaft

Von Werner Seppmann

»Reicher Mann und armer Mann
standen da und sahn sich an
und der Arme sagte bleich:
Wär ich nicht arm, wärst Du nicht reich.«
Bertolt Brecht

In allen Hauptländern des Kapitals haben in den letzten beiden Jahrzehnten tiefgreifende Veränderungen stattgefunden. Eine Vision ist auf dem Weg der Verwirklichung: nicht die einer friedfertigen und gerechteren Welt, sondern die des Kapitals von der Entfesselung der Marktkräfte und der Intensivierung der Ausbeutung. Alle sozialen Bereiche sollen dem Renditestreben geöffnet, das Leben in seiner Gesamtheit dem Rhythmus der Kapitalakkumulation unterworfen werden. Um ungehindert agieren zu können, ist das kapital bestrebt, die Beschränkungen abzustreifen, die ihm von der Arbeiterbewegung aufgezwungen wurden.

Mit dem rapiden Anwachsen von Formen der Unterprivilegierung, die im „sozialpartnerschaftlichen“ Kapitalismus schon als überwunden galten, konnten auch die Phantasien von der „Natürlichkeit“ der Ungleichheit und das Recht des Stärkeren hegemonialen Einfluss gewinnen. Nicht nur die Schere zwischen Reichtum und Armut hat sich eklatant vergrößert; zugenommen haben auch die sozialen Differenzen innerhalb der gesellschaftlichen Basis- und Unterschichten: Die Arbeitswelt gleicht einem unüberschaubaren Gelände mit Zonen unterschiedlicher Bedingungen. Ein tiefer Riss geht selbst durch die Belegschaften der einzelnen Betriebe: Für die gleiche Arbeit wird immer seltener der gleiche Lohn gezahlt. Auch weisen die Arbeitszeiten und Sozialleistungen gravierende Spannbreiten auf. Meistens gelingt es den gewerkschaftlichen Interessenvertretungen noch, einmal Erreichtes für die Stammbelegschaften abzusichern. Jedoch immer öfter um den Preis, dass Neueingestellten niedrigere Vergütungen und schlechtere Absicherungen zugemutet werden. Trotz ungebrochener ökonomischer Reichtumsmehrung breiten Armut und Bedürftigkeit sich aus. Viele Menschen in unsicheren Einkommens- und Soziallagen sind permanent vom Abstieg bedroht.(1)

Auch wenn nicht alle sozialdestruktiven Konsequenzen intendiert waren: die gesellschaftliche Fragmentarisierung gehörte zum erklärten Ziel der „neoliberalen“ Strategen. Für die verwertungsorientierte Umgestaltung der Sozialverhältnisse ist die Vergrößerung der sozialen Unterschiede und die Institutionalisierung existentieller Unsicherheit von grundsätzlicher Bedeutung. Ungleichheit, ebenso wie die Universalisierung des
Konkurrenzprinzips und der Versagensangst(2) , gilt als leistungsfördernd. Diese Prozesse sind lange, bevor das Schlagwort von der „Globalisierung“ die Runde machte, in Gang gesetzt worden; ihre neuen Elemente dienen nur der Intensivierung des kapitalistischen Verwertungsstrebens mit anderen Mitteln.

Das Ende des »Wohlfahrtstaates«

Die marktradikale Umgestaltungsoffensive war nicht Folge einer unabänderlichen Gesetzmäßigkeit, sondern das Ergebnis einer politischen Strategie der herrschenden Blöcke in den kapitalistischen Hauptstaaten. Sie war die Reaktion auf die gesellschaftspolitischen Konsequenzen einer konjunkturellen Sonderphase, die zu einen allgemeinen Wohlstandsentwicklung beigetragen hatte. Mehrere Jahrzehnte herrschten Akkumulationsbedingungen, die für den Verkauf von Arbeitskraft „mehr oder minder günstig“(3) waren und in denen sich das Abhängigkeitsverhältnis der Arbeitenden „vom Kapital in erträgliche ... Formen“ kleidete.(4)

Die sozialen Errungenschaften der Nachkriegszeit hatten mehrschichtige Voraussetzungen. Sie waren das Ergebnis politischen Drucks und gewerkschaftlicher Kämpfe, waren zugleich der Preis, den das Kapital zahlte, um weitergehenden Forderungen der Arbeiterbewegung das Wasser abzugraben. Möglich wurde der „Sozialstaat“ jedoch durch temporäre Besonderheiten des Akkumulationsprozesses: durch die langen Konjunkturwellen nach dem zweiten Weltkrieg in Verbindung mit einem raschen Anstieg der Arbeitsproduktivität. Es gab real mehr zu verteilen als in früheren Perioden, und es ergab sich durch den formationsspezifischen Anstieg der Konsumgüterproduktion in bisher nicht gekanntem Umfang auch die Notwendigkeit, die soziale Basis des Konsums zu verbreitern. Der Ausbau der soziale Sicherungssystem und die Steigerung der Masseneinkommen waren prinzipiell möglich geworden. Ein „steigender Preis der Arbeit infolge der Akkumulation des Kapitals“(5) führte zu den bekannten Foren der Partizipation großer Bevölkerungsteile am wachsenden Sozialprodukt, die propagandistisch mit der Formel von der „Konsumgesellschaft“ belegt wurden.

Im Endstadium dieser historischen Sonderphase blieb es nicht bei der Verteilung der Zuwächse, sondern wurde auch das Sozialprodukt zugunsten der abhängig Beschäftigten umgeschichtet. Spätestens seit dem Ende der 70er Jahre hatte dieser Verteilungsmodus die für das Kapital akzeptablen Grenzen überschritten. Wirtschaftswachstum wie Akkumulationsraten blieben hinter den Werten der Nachkriegskonjunktur zurück. Durch die Intensivierung der Ausbeutung und die Zurückführung der Lohnquote versucht das Kapital seither, dieser „Profitklemme“ zu entkommen.

Die marktradikalen Umgestaltungen entsprechen also Akkumulationsbedürfnissen des Kapitals. Jedoch wäre die Tiefe und Intensität der Umwälzungen ohne grundlegende Veränderungen im Machtverhältnis zwischen Kapital und Arbeit nicht möglich gewesen. Die Chancen für eine Intensivierung der Ausbeutung und einen Rückbau de sozialen Sicherungsstandards hatten sich für das Kapital aus strukturellen wie aus globalpolitischen Gründen günstig entwickelt:

  • Das Anwachsen der industriellen Reservearmee verstärkte den disziplinierenden Druck auf die Arbeitenden: „Seit Jahren dringt die Angst, durch Arbeitsplatzverlust aus dem gesellschaftlichen Ganzen vertrieben zu werden, in alle Poren unserer Lebenszusammenhänge. Dass der Entzug von Arbeit, ja schon der drohende oder fantasierte Arbeitsplatzverlust sozialpsychologisch eine ‚depressive Dynamik’ in den Individuen auslöst ..., scheint heute die Gesamtgesellschaft in ihren charakteristischen Merkmalen zu kennzeichnen“.(6)
  • Eine nicht geringe Rolle spielte auch die Verflüchtigung der realen Systemalternative, auf deren Existenz zumindest die westeuropäische Bourgeoisie einst mit größerer Kompromissbereitschaft in Fragen des „Sozialklimbims“ (wie die sozialen Absicherungsforderungen und monetären Partizipationsansprüche der Arbeitenden in lockerer Casino – Runde genannt wurden) reagiert hatte.
  • Durch die „Globalisierung“ ist die Selektionsmacht des Kapitals größer geworden. Weil ein weltweites Arbeitskräftereservoir zur Verfügung steht, kann der Druck auf die relativ privilegierten Beschäftigten in den kapitalistischen Zentren verstärkt und die Ausbeutung intensiviert werden.

In einer ersten Umgestaltungsoffensive wurden Anfang der 80er Jahre betriebliche Veränderungen vorgenommen, die die Widerstandsfähigkeit der Belegschaften schwächten. Die zur „effektiveren Nutzung des Faktors Arbeit“ ergriffenen Rationalisierungsmaßnahmen führten zur Ausdünnung der Stammbelegschaften, die (zumindest in den großen Betrieben) die Träger einer wirksamen Interessenvertretung waren. Bei Neueinstellungen wurden die Kernbelegschaften durch Angelernte, zunehmend aber auch durch Zeitarbeiter ersetzt, die in den Betrieben sehr oft eine weitgehend selbständige Gruppe mit eigenen Interessen (hauptsächlich an Festeinstellung, was zu einem demonstrativ angepassten Verhalten führt) blieben. Es etablierte sich schleichend ein neues, effektives System der Ausbeutung, das mit den Vereinzelungs- und Entsolidarisierungseffekten rechnete, durch die der traditionelle Modus gewerkschaftlicher Interessenvertretung unterlaufen werden konnte.

Zusätzlich schwächten Auslagerungen die Position der Beschäftigten und führten ihnen die Unsicherheit ihres Arbeitsplatzes vor Augen, so dass es bald schon ausreichte, mit dieser Möglichkeit zu drohen, um Zugeständnisse zu erreichen. Das Kapital versteht es, die Arbeitskraftverkäufer und –verkäuferinnen der verschiedenen Standorte gegeneinander auszuspielen: „In dem Maße, wie z.B. die Gewerkschaften schwächer werden, und ihrerseits Kompromissbereitschaft (etwa im Hinblick auf die ‚Standortsicherung’) signalisieren, nehmen Unternehmerverbände und konservative politische Kräfte Kompromisslinien zurück und verschärfen eine konfrontative gesellschafts- und tarifpolitische Strategie, die letztlich eine Kapitulation der Gewerkschaften erzwingen soll.“(7)

Je tiefgreifender die Umgestaltungen waren und je erfolgreicher die Kapitalinteressen sich durchsetzen konnten, desto mehr beschleunigte sich die Dynamik der Ausgrenzung und vergrößerte sich das Arbeitslosenheer. Denn mit den steigenden (und ab einen gewissen Zeitpunkt auch explodierenden) Unternehmensgewinnen wuchs das Kapitalvolumen, das in arbeitsplatzvernichtende Rationalisierungen investiert werden konnte (und aufgrund kapitalistischer Konkurrenzlogik auch musste). Es trat das Gegenteil dessen ein, was vom „ökonomischen Sachverstand“ mit demagogischem Eifer verbreitet wird: Mit der Absenkung der Lohnquote (dem Anteil der Einkommen aus unselbständiger Arbeit am Bruttosozialprodukt) und dem Anstieg der Unternehmergewinne wurden nicht neue Beschäftigungsmöglichkeiten geschaffen, sondern Arbeitsplätze in immer schnellerem Tempo vernichtet. Im Gleichschritt mit der Radikalisierung der Kapitalakkumulation verallgemeinerte sich die soziale Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern der ökonomischen „Verschlankung“. Fraglos nehmen die Privilegierten es hin, dass immer mehr Menschen im sozialen Abseits landen. Mit dem von ihr erzeugten Ballast will sich die Profitökonomie nicht mehr abgeben. Die weniger Leistungsfähigen, de Ausgelaugten, die momentan falsch Qualifizierten oder auch einfach Überflüssigen werden der staatlichen „Fürsorge“ überantwortet.

Die Situation wurde von den Beschäftigten zunehmend als krisenhaft erlebt. Arbeitslosigkeit hatte es auch in den „Wirtschaftswunderzeiten“ gegeben, jedoch bestand damals die begründete Hoffnung, schnell wieder einen Arbeitsplatz zu finden. In der 80er Jahren aber begann eine neue Ära der Unsicherheit: Eine wachsende Zahl der Arbeitslosen fand keine neuen oder nur noch niedriger qualifizierte Arbeitsplätze.

Die Angst vor dem Arbeitsplatzverlust ist ein ständiger Begleiter geworden: „Freilich ist die Arbeitslosigkeit nur die sichtbarste Manifestation eines grundlegenden Wandels der Beschäftigungssituation. Die Prekasierung der Arbeit ist ein weiterer, weniger spektakulärer aber dennoch bedeutender Aspekt davon. Der unbefristete Vertrag ist im Begriff, seine Hegemonie einzubüßen.(8)“ Unterbezahlte und ungeschützte Beschäftigungsverhältnisse erhalten immer größere Bedeutung. Ihr Anteil beträgt in den meisten Industrieländern 35 Prozent – bei steigender Tendenz. Das „Normalarbeitsverhältnis“ wird durch befristete Verträge, Leiharbeit, Arbeit auf Abruf und in Scheinselbständigkeit zurückgedrängt. Der größte Teil der Neueinstellungen vollzieht sich in solchen „enttraditionalisierten“ Formen. Diese „differenzierte“ Verfügungsstrategie über die Arbeitskraft schlägt sich „in der sozial besonders schädlichen Spaltung in viele unqualifizierte Teilzeitarbeitsverhältnisse mit sehr kurzen und variablen Einsatzzeiten und wenige hochqualifizierte Vollzeitverhältnisse mit überlangen Arbeitszeiten (‚Arbeiten ohne Ende’) nieder.“(9)

Mit der Zunahme „atypischer“ Beschäftigungsformen wird es für die Betroffenen schwieriger, die Gemeinsamkeiten ihrer sozialen Lage zu erfassen. Ungleiche Eingruppierungen und arbeitsrechtliche Differenzierungen erschweren die kollektive Interessenartikulation, zumal durch die Erhöhung der zeitlichen und räumlichen Flexibilität die Kommunikation zwischen den Kolleginnen und Kollegen zuweilen fast unmöglich gemacht wird.

Nach zwei Jahrzehnten krisenhafter und die Menschen verunsichernder Veränderungen in der Arbeitswelt überlagern sich verschiedene Trends, so dass die weiteren Konsequenzen noch nicht sicher prognostiziert werden können. Deutlich zeichnet sich jedoch eine grundlegende Änderung des Charakters der Lohnarbeit ab. Sie tritt in den neuen Formen (einschließlich der Scheinselbständigkeit, des verstärkten Zwangs zur Selbstvermarktung und der isolierten Heimarbeit am Computer) auf, ist unsicherer geworden und wird schlechter entlohnt: Die Absenkung des Lohnniveaus ist nicht flächendeckend gelungen, doch werden in den Zuliefer- und einfacheren Servicebereichen geringere Löhne als noch vor einem Jahrzehnt bezahlt. Selbst in den industriellen Kernbereichen reißen die Versuche nicht ab, gespaltene Entlohnungssysteme zu etablieren. Das bekannteste Beispiel ist das vom „Arbeitsmarkt – Reformer“ Hartz in seiner Eigenschaft als VW – Personalvorstand eingeführte Modell 5000 x 5000, mit dem 5000 Arbeitsplätze mit einem Bruttoentgelt von 5000 Markt – 20 Prozent unter den Tariflöhnen – geschaffen werden sollten.

Während insgesamt in den kapitalistischen Hauptländern in den letzten zehn (so in der Bundesrepublik) bis 20 Jahren (wie in den USA) im statistischen Durchschnitt die Reallöhne stagnierten, etablierten sich an den Rändern der Arbeitswelt Bereiche, in denen die Löhne so niedrig sind, das mit ihnen eine Existenz nur unterhalb der Armutsgrenze möglich ist. Viele der „arbeitenden Armen“ haben kein ausreichendes Einkommen, auch wenn sie mehrere Jobs annehmen und ihre Lebensansprüche auf ein Minimum reduzieren.(10) Aber nicht nur in den Grau- und Schamzonen der Arbeitswelt ist es schwierig geworden, ein existenzsicherndes Einkommen zu erzielen. Auch tarifliche Entlohnung schützt nicht vor dem Abgleiten in die Bedürftigkeit: In 23 Branchen liegen in der Bundesrepublik die tariflichen Grundvergütungen mit brutto 900 Euro unterhalb der Armutsgrenze!

Ökonomische Macht und ideologische Hegemonie

Obwohl immer mehr Menschen aus dem System „regulärer“ Beschäftigung herausfallen(11), die Zahl der Perspektivlosen und Bedürftigen wächst, halten sich die delegitimierenden Effekte für das System der „sozialen Marktwirtschaft“ in Grenzen. Denn dem herrschenden Block ist es gelungen, die Radikalisierung des Ausbeutungsstrebens und die daraus resultierenden sozialen Verwerfungen als zwangsläufig darzustellen.

Den für die Produktion und zunehmend auch für die Mehrwertrealisation Überflüssigen wurde um so bedenkenloser ein Platz am Rande der Gesellschaft zugewiesen, als politischer Gegenwind (zumindest vorläufig) nicht zu erwarten ist. Das lehren auch die Erfahrungen in jenen Ländern, in denen eklatante soziale Spannungen schon Tradition haben. Die Ausschluss- und Marginalisierungsprozeduren perpetuieren unter den herrschenden ideologischen Reproduktionsbedingungen die Bereitschaft zur Unterwerfung. Der gesellschaftliche Druck und seine selbstunterdrückende Verarbeitung legen den Rückzug und das Stillhalten nahe: Solange gesellschaftliche Subalternität als individuelles Versagen wahrgenommen wird, lähmen Schuldkomplexe die Widerspruchsbereitschaft. Dies, kombiniert mit Existenzangst, wirkt disziplinierend und formierend. „Das bei vielen mit Existenzangst besetzte Dasein in der modernen kapitalistischen Gesellschaft lähmt eine selbstbewusste Persönlichkeitsentwicklung und verschüttet Potenzen der Auflehnung gegen die herrschenden Verhältnisse.“(12) In der radikalisierten Marktgesellschaft materialisieren sich Nietzsches antiemanzipatorische Maximen: „Der Wert einer solchen Krise ist, dass sie reinigt und so zu einer Rangordnung der Kräfte den Anstoß gibt: Befehlende als Befehlende erkennend, Gehorchende als Gehorchende.“(13)

Im Gang gesetzt wurde die „neoliberale“ Umgestaltung von einer gesellschaftlichen Elite, gesellschaftliche Prägekraft konnte sie jedoch nur dank der aktiven Unterstützung seitens anderer gesellschaftlicher Segmente (letztlich auch der Betroffenen) entwickeln – auch wenn dieser Mitwirkung ein Missverständnis zugrunde lag: Am einen Pol des gesellschaftlichen Spektrums übernimmt eine wirtschaftlich dominierende Klasse, deren ökonomisches Schicksal sich immer weniger mit Binnenentwicklungen von Arbeitsmarkt und Nachfrage verknüpft, die politische Initiative, um die Resultate des Klassenkompromisses der Nachkriegsjahrzehnte zunehmend außer Kraft zu setzen. Im Namen des Marktes und der Wettbewerbsfähigkeit forciert sie soziale Ungleichheit und betreibt die Rücknahme universalistischer Schutzrechte. Unterstützung findet diese Linie vor allem bei Teilen des wirtschaftlich unter Druck geratenen „Mittelstands“, innerhalb der neuen, aufsteigenden Schicht der Unternehmensdienstleister und „Symbolanalytker“..., aber auch bei Teilen der Arbeiterschaft, die ihr Heil in der Konkurrenzlogik der Standortverteidigung suchen. Im breiten, abgestuften „Mittelfeld“ der abhängig Beschäftigten nimmt mit wachsender sozialer Ungleichheit und Verunsicherung auch die Gefahr der Entsolidarisierung im Kampf um knapper werdende Ressourcen zu. Am anderen Pol entsteht eine in sich uneinheitliche Population der am Arbeitsmarkt Marginalisierten oder Ausgegrenzten, die mit ihrer Stellung im Erwerbssystem auch ihre Möglichkeit eingebüßt hat, ins öffentliche Leben einzugreifen.“(14)

Die existenzielle Unsicherheit und die Zukunftsangst erhöhten bei vielen Menschen die Bereitschaft, den Sirenengesängen des Kapitals Glauben zu schenken, wonach Lohnzurückhaltung und die „Deregulierung“ des Sozialstaates in Kombination mit steigenden Unternehmergewinnen Arbeitsplätze sichern und neue entstehen lassen würden. Diese selbstunterdrückende Verarbeitungsform(15) der Krise ist ein wichtiger Faktor bei der Verallgemeinerung kapitalismuskonformer Einstellungen. Ihre Wirkungsweise erklärt auch die Dynamik der Entsolidarisierung: Konjunktur hat ein Bedürfnis nach Abstand besonders zu den benachbarten Gruppen, die als unmittelbare Konkurrenz empfunden werden und deren Unterprivilegierung an die Fragilität der eigenen Existenz erinnert.

Doch alleine aus diesen fremdbestimmten Verarbeitungsmodus der Krisenerfahrung ist die ideologische Vormachtsstellung des herrschenden Blocks nicht zu erklären. Eine wesentliche Voraussetzung zur Erringung der Meinungsführerschaft war beispielsweise die privatwirtschaftliche Durchdringung der Bewusstseinsindustrie; diese „Kolonialisierung“ des Medienkomplexes wurde zum Hebel, um der interessendominierten Sichtweise des Kapitals eine Aura des Allgemeingültigen zu verleihen und ihr eine Monopolstellung zu sichern.

Institutionalisierung der Spaltung

Den herrschaftsstabilisierenden Effekten der gegenwärtigen Krise liegt eine Spaltung der Gesellschaft in voneinander geschiedene Realitätsebenen, mit eigenen Wertmustern, Regeln und Entwicklungstendenzen zugrunde. Marginalisierung ist nicht mehr nur ein temporärer Kriseneffekt, sondern hat eine strukturelle Dimension angenommen: Es gibt die „offizielle“ Welt mit ihren „Normalitätspraktiken“, mit ihren Computern und geregelten Verkehrsformen. Ihr zugeordnet ist ein neuer Untergrund, in den die weniger Leistungsfähigen, Ausgebrannte und „Versager“ abgeschoben werden. Es ist eine Welt, die nur geringe Hoffnung lässt, ihr wieder entkommen zu können. Um emotional und psychisch überleben zu können, entwickeln die Ausgegrenzten eigene Mentalitätsformen und Verhaltensstrategien. Einen konkreten Prozess der Abkoppelung hat schon die „Marienthal – Studie“ aus den 30er Jahren beschrieben: Nach Jahren der Arbeitslosigkeit verliert die Arbeiter – Identität ihr Profil und wird zunehmend von einer spezifischen Arbeitslosenmentalität (deren Konstanten Realitätsverlust, Hoffnungslosigkeit und Apathie sind) überlagert.(16)

Durch die Veränderung der sozialen Topographie gelingt es dem entwickelten Kapitalismus zwar, die „gefährlichen Klassen“ zu neutralisieren(17), gleichzeitig produziert er jedoch einen Selbstwiderspruch mit destruktiver Langzeitwirkung: Obwohl weiterhin Leistungsbewusstsein und Arbeitsorientierung zu den im Sozialisationsprozess vermittelten Basisorientierungen gehören, wird es den ausgegrenzten Subjekte unmöglich gemacht, diesen verinnerlichten Anforderungen zu genügen.

Diese Defiziterfahrung wirkt zunächst machtstabilisierend: Weil die Krisenopfer – wie angedeutet – ihre soziale Randständigkeit als Ausdruck des eigenen Versagens empfinden, verhalten sie sich schamhaft – passiv: Sie übernehmen die Sichtweise derer, die sie herabzusetzen versuchen. Sie spielen dadurch in der Konfliktkonfiguration zwischen Kapital und Arbeit keine aktive Rolle mehr.

Langfristig jedoch wird das normative Fundament der bürgerlichen Gesellschaft beschädigt. „Produziert“ werden Desorientierungen und psychische Instabilitäten, die das zivilisatorische Gleichgewicht der bürgerlichen Gesellschaft bedrohen, zumal die im Wirtschaftsleben prägend gewordenen Verdrängungs- und Ausgrenzungsstrategien das soziale Klima fundamental beeinflussen: Sie führen „innergesellschaftlich zu einem kaum noch zivilisatorisch eingehegten ‚bellum omnium contra omnes’ und einer ‚Kultur des Hasses’ (Hobsbawn), die den Nährboden für kollektive und individuelle Formen der Gewalt abgeben.“(18)

„Abweihendes Verhalten“ nimmt nicht nur an Umfang und Intensität zu: in manchen gesellschaftlichen Segmenten erlangt es zunehmend „Normalitäts“ – Status. Die ökonomische Effektivitätsobsession der „neoliberalen“ Akteure erzeugt einen soziokulturellen Zerstörungsdruck. Denn „Ausgliederungen, Abkopplungen, Spaltungen, Fragmentierungen, aus denen sich dieser gesellschaftliche Bodensatz gebrochener und zerstörter Lebensgeschichten formt und fortwährend speist, können sehr schnell ins gesellschaftliche Zentrum eindringen und den konstituierten Zusammenhalt des ganzen in Frage stellen.(19)“ Die unübersehbare Dialektik der Entzivilisierung mit ihrer individuellen Dramatik und eskalierenden Formen des soziokulturellen Verfalls (zu denen die Konjunkturen der Gewalt und die verbreitete Bereitschaft zur Selbstzerstörung durch Drogen, Tabletten und Alkohol, aber auch die zunehmenden Amokhandlungen gehören) hat in diesen Vorgängen eine ihrer wesentlichen Ursachen.(20) Aus der geräuschlosen „Neutralisierung“ der Krisenopfer entwickelt sich langfristig eingesellschaftlicher Sprengsatz, weil die historisch gewachsenen Vergesellschaftungsmuster der kapitalistischen „Moderne“ ihre disziplinierende und sozialintegrative Wirkung verlieren. Sie können den sich widersprechenden Anforderungen nicht mehr genügen.

Umfang und Tiefenwirkung der sozialen Verwerfungen haben die Selbststabilisierungsfähigkeit der „postfordischen“ Kapitalismus brüchig werden lassen. Entstanden sind in einigen Regionen durch die Massenarbeitslosigkeit und die von ihr verursachte Armut Kulturen der Hoffnungslosigkeit. Ghettoisierung und subproletarische „Unterklassen“ – Verhältnisse sind in der Bundesrepublik zwar noch die Ausnahme, doch existiert auch hier so mancher Stadtbezirk und so manches Siedlungsgebiet, in dem die Verlierer der sozialen Umwälzungen konzentriert leben.(21) Die Zonen der Ausgrenzung und Perspektivlosigkeit sind (noch?) nicht von Mauern umgeben und mit Stacheldraht eingezäunt, bleiben aber isolierte Bereiche, in denen „die Uhren anders gehen“ und die „normalen“ gesellschaftlichen Wertmaßstäbe nur noch begrenzte Geltung besitzen. „Die tektonischen Beben, die durch die Wucht von Modernisierungs- und Globalisierungsprozessen ausgelöst werden, erschüttern nicht nur die tragenden Gerüste des Gesellschaftsbaus, sondern auch die tradierten Formen sozialer Integration und reichen bis in den Innenbau der Menschen hinein.“(22)

Zumindest an den gesellschaftlichen Rändern scheint die arbeitsgesellschaftliche Selbstzwangsapparatur ihre Wirksamkeit einzubüßen und bringen auch die individuellen Versagensvorstellungen nicht mehr automatisch regelkonformes Verhalten hervor. Die (Selbst-) Stigmatisierung ist nicht mehr ausschließlich integrativ wirksam: Versagensvorstellungen überkreuzen sich mit einer zunehmenden Gleichgültigkeit gegenüber den herrschenden Wertpräferenzen. Es ist ein Zustand eingetreten, in dem „die gesamtgesellschaftliche Integration ohne gleichzeitige Ausschlussprozeduren gegenüber Marginalisierten nicht [mehr] funktioniert“.(23) Von geduldiger Schicksalsergebenheit der Ausgegrenzten kann jedenfalls nicht mehr ohne Weiteres ausgegangen werden. Sie sind zwar in der Regel nicht fähig, die gesellschaftlichen und politischen Dimensionen ihrer Situation zu begreifen, versuchen aber durch aggressive oder auch selbstdestruktive Handlungen, sich und ihre Sorgen demonstrativ in Erinnerung zu bringen. Weil die traditionellen Mechanismen der Selbstdisziplinierung nicht mehr ihre tradiere Effektivität besitzen, sind administrative Maßnahmen zur Flankierung des Systems der „geräuschlosen“ Integration notwendig geworden.

Arbeit und Zwang

Um das destabilisierte Sozialgefüge zu stabilisieren, muss der herrschende Block Aufgaben lösen, die einer Quadratur des Kreises gleichkommen, denn je großflächiger die Sozialräume werden, in denen regelwidriges Verhalten an Boden gewinnt bzw. „abweichende“ Regeln gelten, um so nachdrücklicher muss in der Welt der Leistungs- und Effektivitätsorientierung auf der Einhaltung der Normen bestanden werden. Wenn die dysfunktionalen Effekte nicht auf die Basisbereiche übergreifen sollen, muss die Spaltung institutionalisiert (soziale „Stabilität“ also durch den Fortbestand der politischen Lähmung der Ausgegrenzten organisiert) und gleichzeitig den Imperativen der „Arbeitsgesellschaft“ neue Geltung geschafft werden. Besonders der zweite Aspekt ist für die kapitalistische Gesellschaft von existentieller Bedeutung, denn die Ausbeutung der Arbeitskraft setzt den Wirkungsmechanismus verinnerlichter Leistungsüberzeugungen, die Bereitschaft zu einem (Arbeits-) Leben voraus, das durch Anspannung und Selbstdisziplinierung geprägt ist. Deshalb herrscht bei den sozialen und ökonomischen Eliten eine panische Scheu davor, vor dem Hintergrund tiefgreifender Strukturveränderungen das Naheliegende zu tun, ja auch nur zu denken: im Gleichschritt mit dem Produktivitätsfortschritt die Arbeitszeit zu verkürzen. Stattdessen wird eine Doppelstrategie verfolgt,. Während die Randständigkeit der für die Mehrwerterzeugung nicht mehr benötigten Menschen institutionalisiert wird, wird der Druck auf die im ökonomischen Reproduktionsprozess Verbliebenen erhöht, immer mehr und immer Besseres zu leisten. Der Kapitalismus kann mit zunehmender Abweichung, mit Kriminalität und Alltagsgewalt, mit demoralisierten Außenseitern und psychisch Destabilisierten leben, aber er braucht einen Kern von leistungsfähigen und im Sinn des ökonomischen Verwertungsprozesses funktionierenden Menschen.(24)

Mit dem Maßnahmenkatalog der Hartz – Kommission werden Antworten auf ein Bündel divergierender Probleme gegeben: Es wird versucht, den Imperativen der Arbeitsgesellschaft wieder allgemeine Gültigkeit zu verschaffen und jene Lohnabhängigen, die aus dem Arbeitssystem herausfallen drohen, in einem Ersatzrahmen unterzubringen. Der Maßnahmenkatalog gliedert sich zweifach in die Konzepte der Ich – AG und der Personal – Serviceagenturen auf, die jeweils mit den grundlegenden Trends des Risikokapitalismus, der „Individualisierung“ und der Ausgrenzung korrespondieren:

Das Konzept der Ich – AG ist dabei als die neoliberale Variante des ehemaligen AB – Maßnahmen zu verstehen. Es endet sich an die wendigen und flexiblen Arbeitskraftverkäufer und will zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Es ermöglicht deren Selbstdisziplinierung durch (Schein-) Selbständigkeit. Jeder Arbeitslose soll zusehen, wie er zurecht kommt, und sich aktiv eine Existenznische suchen. Auch wenn dieses Experiment scheitert, ist der Arbeitslose aus der Statistik verschwunden und hat einen großen Teil seiner Ansprüche an die Arbeitslosenversicherung verloren.

Die Personal – Serviceagenturen repräsentieren einen institutionellen Rahmen, der gleichermaßen Scheinwelt und Disziplinierungsmacht ist. Er soll die Illussion erzeugen, es stünden wirksame Mittel zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit zur Verfügung. Tatsächlich aber dient der „Überbau“ dieses Programms nur dazu, der verschärften Gangart gegenüber den Arbeitslosen Akzeptanz zu verschaffen. Sein Kern liegt in der Schaffung zusätzlicher Disziplinierungsmöglichkeiten, die die Krisenopfer „ins Unrecht setzen“: Wenn ihre Reintegration auch mit den „neuen Arbeitsmarktkonzepten“, also auf der Basis von Leih- und Zeitarbeit, nicht gelingen will, ist ein weiteres Mal mangelnder Arbeitswille, das Fehlen von Flexibilität und Wendigkeit „bewiesen“. In der Sprache des sozialwissenschaftlichen Legitimationsdenkens wird von einer „unterkomplexen Inklusionskompetenz“ gesprochen, die Ausgrenzung (Exklusion) als Ausdruck einer unterentwickelten Modernitätsfähigkeit darstellt.(25)

Um diese Absichten umzusetzen, erhält die „Arbeitsverwaltung“ Vollmachten, durch die konstitutive Errungenschaften der kapitalistischen „Moderne“ infrage gestellt werden. Eine Administration, die schon durch den massiven Abbau der Rechte der Arbeitslosen (etwa durch die restriktivere Gestaltung der Zumutbarkeitsklausel) massiv in die Persönlichkeitsrechte eingreifen kann, wird zusätzlich mit der arbeitsrechtlich üblichen Verfügungsgewalt des Kapitals über die Arbeitskraftverkäuferinnen und -verkäufer ausgestattet. Übrigens entfaltet der Arbeitszwang seine volle Wirkung, wenn für das in seiner Größe konstante Arbeitslosenheer überhaupt nicht mehr genügend reguläre Beschäftigungsverhältnisse zur Verfügung stehen. Aber auch bei einem ausreichenden Arbeitsplatzangebot dürften sich die Chancen für die psychisch belasteten Langzeitarbeitslosen, die Minderqualifizierten und gesundheitlich Angeschlagenen kaum verbessern. Es kommt aber gesellschaftspolitisch nicht darauf an, in welchem Umfang das Hartz – Konzept greift und wie intensiv seine arbeitsrechtlichen Konsequenzen zunächst sind; was zählt ist das Prinzip, die Bereitschaft, zentrale Errungenschaften der kapitalistischen „Moderne“ außer Kraft zu setzen.

Es soll eine neue und diesmal entscheidende Bresche geschlagen werden, um die „Deregulierung“ des Sozialrechts durchzusetzen:

  • Durch die Kombination der beiden Ebenen Arbeits- und Sozialrecht wird der Status der Lohnarbeit als eine Beziehung zwischen formal gleichen Vertragspartnern ausgehebelt. Weil in dieser neu konstruierten „Zone der Integration“ (R. Castel) die arbeitsrechtliche Ebene durch die sozialrechtliche überlagert wird, nimmt das von den Personal – Serviceagenturen (gleichgültig, ob sie private oder staatliche Form besitzen) gestaltete Arbeitsverhältnis auch formal den Charakter eines Zwangsverhältnisses an: Ausgeschlossen sind wesentliche Optionen wie das Kündigungsrecht und selbst der Rest eines Scheins von Verhandlungsmöglichkeiten über die Lohnhöhe und die konkreten Arbeitsbedingungen.
  • Aber mehr noch: Mit der Suspendierung der Koalitionsfreiheit und räumlichen Freizügigkeit sowie dem impliziten Arbeitszwang werden zentrale Verfassungsprinzipien außer Kraft gesetzt. Die bürgerliche Gesellschaft stellt damit ihr programmatisches Selbstverständnis in Frage; ihre normativen Grundsätze werden zur tagespolitischen Dispositionsmasse.

Re-Feudalisierung der Sozialverhältnisse

Diese Maßnahmen sind Teil einer „Re-Feudalisierung“ der Sozialverhältnisse, die sich nicht nur in der Rücknahme erkämpfter sozialer Schutzrechte und der Suspendierung von für die bürgerliche Gesellschaft konstitutiven Rechtsprinzipien zeigt, sondern auch in der Konjunktur von schon überwunden geglaubten Dienstbotenverhältnissen. Allein die Zahl der illegal beschäftigten ausländischen Frauen in der BRD wird auf 1,5 Millionen geschätzt. Die meist im häuslichen Bereich Beschäftigten sind Ausbeutung und Willkür schutzlos ausgeliefert. Auch die „industriegesellschaftliche“ Arbeitswelt wird von diesen Rückschrittstendenzen erfasst: „Es entstehen in wachsender Zahl quasi rechtsfreie Räume in Hinterhöfen, Kellern, Garagen, jenseits von Tarifen und Mindestlöhnen, von Sozialversicherung, Arbeits- und Umweltschutz und gewerkschaftlicher Orientierung. Als Faustregel gilt: Je dezentraler und haushaltsnaher gearbeitet wird, desto niedriger die Löhne, desto unkontrollierbarer die Arbeitsbedingungen und desto mehr Einsatz von Kinderarbeit.“(26) Die Ausdehnung prekärer Beschäftigungsverhältnisse bleibt nicht auf manuelle Tätigkeitsbereiche beschränkt. Wenn auch noch hinter der Fassade zukunftsfähiger und respektabler Tätigkeitsformen verborgen, müssen auch viele Beschäftigungsverhältnisse in der „zukunftstechnologischen“ Arbeitswelt als randständig und prekär begriffen werden. Selbstausbeutung ist für viele Beschäftigte der einzige Weg, ein auskömmliches Einkommen zu realisieren.

Dieser Entwicklung setzen die „neuen Arbeitsmarktkonzepten“ de Krone auf: Restauriert wird ein Regime der Arbeit, das seine erste frühneuzeitliche Ausprägung im 14.Jahrhundert erhielt und damals schon die Antwort auf die soziale Produktion von Überflüssigen war. Mit der organisatorischen Absicherung des kategorischen Imperativs der Arbeit wurde zuerst im England Richards II. versucht, „all jene gewaltsam in feste Strukturen zu zwingen, die daraus ausgebrochen sind.“(27)

Mit der „Neuen Arbeitsmarktkonzepten“ sind selbst formalrechtlich die Dämme für autoritäre Transformationen weitgehend verschwunden. Die institutionelle Absicherung der Globalisierungsprozesses auf nationalstaatlicher Ebene, also das Bestreben, „einem global immer flexibler agierenden Kapital in Konkurrenz mit anderen Staaten günstige Verwertungsbedingungen zu verschaffen“(28), ist eine wichtige Seite der Formierungsprozesse. Der „nationale Wettbewerbsstaat“ (29) bemüht sich, die reibungslose Kapitalakkumulation durch Infrastrukturangebote und reduzierte Lohnkosten (auch um den Preis des Sozialabbaus) sicherzustellen. Er trifft aber auch Vorkehrungen, um möglichen Widerstand gegen die soziale Widerspruchstendenzen brechen zu können.

Mit der faktischen Wiedereinführung der Zwangsarbeit kehrt die bürgerliche Gesellschaft zu ihren Wurzeln als Disziplinierungsmacht zurück, die mit der projektierten zeitlichen Begrenzung von Arbeits- bzw. Sozialhilfe offensichtlich bereit ist, die Verelendung der Überflüssigen in Kauf zu nehmen. Die prognostizierten Einsparungen sind dabei ein willkommener Nebeneffekt; wichtiger ist der disziplinierende Druck, der besonders auf jenes Segment der Arbeiterklasse ausgeübt wird, dessen Mitglieder prekär beschäftigt sind und angesichts der Perspektive, dass es ihnen noch schlechter gehen kann, eine gewisse „Zufriedenheit“ und Beflissenheit entwickeln (sollen). Mit er geplanten „Zusammenlegung“ von Arbeitslosen- und Sozialhilfe (faktisch der Reduzierung der Arbeitslosenhilfe auf das Niveau der „Hilfe zum Lebensunterhalt“) wird ein neues und effektive Netz der Überprüfungen und Reglementierungen geschaffen. Mit dem materiellen Druck soll der „Daseinskampf“ institutionalisiert und der psychische Druck erhöht werden, um die Selbststigmatisierung der Krisenopfer wieder in Gang zu setzen.

1 Vgl.: K.G. Zinn, Wie Reichtum Armut schafft, Köln 2002; W. Rügemer, arm und reich (Bibliothek dialektischer Grundbegriffe), Bielefeld 2002
2 Vgl.: H. Ganßmann, Arbeitsmarkt und Ausgrenzung, in: S. Herkommer (Hg.), Soziale Ausgrenzungen. Gesichter des neuen Kapitalismus, Hamburg, 1999
3 Marx-Engels-Werke, Bd. 23, S.647
4 Ebd., S.645
5 Ebd., S646
6 O. Negt, Arbeit und menschliche Würde, Göttigen 2002, S. 15
7 F. Deppe Fin de Siècle. Am Übergang ins 21. Jahrhundert, Köln 1997, S. 138
8 R. Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz 2000, S. 349
9 J. Miehe, Arbeitsverkürzung – Hebel im Klassenkampf oder weiße Salbe für die Lohnabhängigen, in: Unsere Zeit vom 17.01.203, S. 15
10 Vgl.: B. Ehrenreich, Arbeit poor. Unterwegs in der Dienstleistungsgesellschaft, München 2002
11 Vgl.: C. Schäfer, Geringere Löhne – mehr Beschäftigung. Niedriglohn – Politik, Hamburg 2000
12 G. Stiehler, Mensch und Geschichte. Studien zur Gesellschaftsdialektik, Köln 2002, S. 14
13 F. Nietzsche, Werke (Ed. Schlechta), Bd.III, S. 856 u. 854
14 M. Kronauer, Armut, Ausgrenzung, Unterklasse, in: H. Häußermann (Hg.), Großstadt. Soziologische Sticworte, Opladen 1998, S. 244

15 Vgl.: H. Krauss, Das umkämpfte Subjekt. Widerspruchsbearbeitung im „modernen“ Kapitalismus, Berin 1996
16 Vgl.: M. Jahoda/P. Lazarsfeld/H. Zeise, Die Arbeitslosen von Marienthal, Frankfurt/M. 1975, S. 97
17 Die Konzepte der Polarisierung zielen „erstens auf eine selektive Verdrängung und repressive Kontrolle sozialer Verlierer und Problemgruppen, zweitens auf eine konsequente Durchkapitalisierung individueller Reproduktionsformen und drittens auf eine repressive, entpolitisierte Form der Individualisierung.“ (N. Dimmel, Reichtumspflege und Marktreligion. Zur Rechtfertigungsfähigkeit extremer sozialer Ungleichheit, in: Die Armutskonferenz, ATTAC, Beirat für gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitische Alternativen (Hg.), Was Reichtümer vermögen. Gewinner und VerlierInnen in europäischen Wohlfahrtsstaaten, Wien o. J., S. 67
18 G. Eisenberg, Gewalt die aus der Kälte kommt. Amok – Pogrom – Populismus, Gießen 2002, S. 20f.
19 Negt, a.a.O., S. 255
20 Vgl.: W. Seppmann, Die Aktualität der Kapitalismuskritik, Essen 2002
21 Vgl.: J. Dangschat (Hg.), Modernisierte Stadt – gespaltene Gesellschaft. Ursachen von Armut und sozialer Ausgrenzung, Opladen 1997
22 G. Eisenberg, a.a.O., S. 32
23 M. Lauermann, Brasilianische Arbeitswelt, in: D. Baecker (Hg.), Archäologie der Arbeit, Berlin 2002, S. 98
24 Vgl.: G. Grass/D. Dahn/J. Strasser (Hg.), In einem reichen Land. Zeugnisse alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Göttingen 2002
25 Vgl.: N. Luhmann, Inklusion und Exklusion, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 6. Die Soziologie und der Mensch, Opladen 1995, S. 237ff.
26 S. Schunter – Kleemann, Globalisierung, Europäisierung und die Perspektiven der Umverteilung der Arbeit zwischen den Geschlechtern, zit. Nach: O. Negt, a.a.O., S. 180
27 R. Castel, a.a.O., S. 67
28 J. Hirsch, Herrschaft, Hegemonie und politische Alternativen, Hamburg 2002, S. 110
29 E. Altvater/B. Mahnkopf, Grenzen der Globalisierung, Münster 1996, S. 373ff.
Quelle: Marxistische Blätter 2-03