"Viele Migranten werden in der Fremde krank"

Ein Gespräch mit Fatih Akin zu seinem Film Solino


Sie sind 1973 geboren. Wie haben Sie sich den 60er Jahren, die Sie gar nicht und den 70ern, die Sie nur als Kind kennen, angenähert?

Fatih Akin: Viele Freunde von mir kennen die Zeit, standen mir mit Rat zur Seite. Dann habe ich mir jede Menge Dokumentarfilme und Fotos angesehen. Der beste Schlüssel zum Verständnis dieser Epoche war die Musik – von Jimmy Hendrix über Janis

Joplin und Pink Floyd bis zu „Ton Steine Scherben“ und sogar Schlagern.

Wo lag der Reiz der Geschichte?

Fatih Akin: Ich hatte das Gefühl, ich kenne das, was da beschrieben wird. Schon beim ersten Durchlesen habe ich mich in die Figuren verliebt, in die Epoche, die Kinder, die Bilder. Mir war sofort klar, den Film will ich realisieren.

Erstmals haben Sie nicht selbst das Drehbuch geschrieben. Eine große Umstellung?

Fatih Akin: Man muss sich so lange mit dem Drehbuch auseinander setzen, bis man glaubt, es sei ein Teil von einem selbst. Ein Prozess, den man beim Selbstschreiben nicht hat. Ich bin offen für spannende Drehbücher, denn ich bin kein Woody Allen, der jedes Jahr ein Buch fabriziert. Die Vorlage war so gut, dass ich maximal zehn Prozent geändert habe, aber auch nur in Nuancen. Es ging da überwiegend um Pointen.

Sie sind selbst „Einwandererkind“. Welche eigenen Erfahrungen oder die Ihrer Eltern haben Sie mit eingebracht?

Fatih Akin: Bestimmte Zitate und Anekdoten sind mit eingeflossen. Als Achtjähriger muss ich ähnlich gewesen sein wie der Gigi, aber ein bestimmtes Merkmal gibt es nicht. Ich bin auch ganz anders zum Film gekommen. Ich glaube aber, dass es egal ist, ob ein Einwanderer aus Anatolien oder Apulien kommt. Die Erfahrungen und Empfindungen ähneln sich, die Hoffnung, die Enttäuschung, die geplatzten Träume. Eines der wesentlichsten Elemente ist die Krebserkrankung der Mutter. Eine Tante von mir erkrankte auch an Krebs. Als ihr die Ärzte eröffneten, sie habe nicht mehr lange zu leben, kehrte sie zum Sterben in die Türkei zurück. Heute ist sie 84 Jahre alt und lebt immer noch. Sie hat die Krankheit überwunden. Viele Migranten werden in der Fremde krank. Das hat Rainer Werner Fassbinder schon in Angst essen Seele auf problematisiert.

Welche Figur mögen Sie am liebsten?

Fatih Akin: Natürlich sind mir alle ans Herz gewachsen. Am interessantesten finde ich den Charakter des Giancarlo, weil er ein so schwacher Mensch ist. Er will eigentlich nur geliebt werden und weil er zu wenig Liebe bekommt, baut er lauter Mist. Dieses Dramatische und Gebrochene in ihm fasziniert mich. In jedem von uns steckt ein Giancarlo, jeder will geliebt werden.

Der Vater erweckt Mitleid.

Fatih Akin: Das sollte er auch. Ich wollte ihn nicht als den Bösen schildern, der seine Frau betrügt. Er ist der Schwächste von allen, weil er nicht in der Lage ist, sich aus seinem Weltbild zu lösen, aus den eigenen Konventionen auszubrechen.

Passt dieses Männerbild zu Ihrer türkischen Herkunft? Wir stellen uns meistens den türkischen Macho vor.

Fatih Akin: Nach außen mögen türkische Männer so wirken. Aber im Haus und in der Familie haben die Frauen das Sagen, sie fällen die Entscheidungen. Die Kinder haben auch einen viel engeren Kontakt zu den Müttern als zu den Vätern. Im Mittelmeerraum sind Frauen die insgeheim führenden Kräfte in der

Familie. Deshalb konnte ich mich auch mit den Figuren so gut identifizieren. Die italienische Mentalität war mir nicht fremd.

Trotz mangelnder Sprachkenntnisse?

Fatih Akin: Ich fühlte mich sofort wie zu Hause, nicht wie in der Türkei, aber dennoch schien mir alles sehr vertraut. Ich kann mich sehr schnell in Stimmungen und Menschen hineinversetzen. Es gibt eine Kommunikation jenseits der Sprache, reden ohne zu reden. Nach und nach habe ich aber italienisch gelernt und beim Schnitt beherrschte ich die Sprache, da musste ich jeden Satz 100 Mal hören.

Ihr erster langer Film Kurz und schmerzlos spielt im Kleingangster-Milieu, Im Juli ist eine romantisch-kitschige Lovestory, Solino eine warmherzige Gastarbeiter-Geschichte. Wollen Sie sich nicht auf ein Genre festlegen, sondern verschiedene Handschriften ausprobieren?

Fatih Akin: Ich stehe noch am Anfang meiner Karriere und nutze die Möglichkeit zu lernen. Mein Ziel ist es, irgendwann mal der bestmögliche Filmemacher zu werden, der ich sein kann. Der eigene Stil kommt früher oder später von selbst.

Interview: Margret Köhler
Aus: Kinofenster 11-02