Die Nachkriegs-Unordnung

In Washington tobt ein Machtkampf um die Frage, wie der Irak künftig verwaltet werden soll

Thomas Kleine Brockhoff

Am Weißen Haus ist jetzt Blütezeit. Drei Kübel roter Tulpen stehen vor dem Eingang des Westflügels, bewacht von einem Gardisten in blauer Paradeuniform, der nebenbei Besuchern formvollendet die Tür aufhält. Solchen Details kann man sich während des Wartens zuwenden. Denn Verzögerungen gibt es hier, sogar bei einem notorisch pünktlichen Präsidenten, wenn der sich Zeit nimmt für eine Delegation „freier Iraker“. „Flüchtlinge“ heißen solche Menschen andernorts.

Schließlich ist es so weit. Der Präsident hat genug von den Untaten Saddam Husseins gehört. Vor den Tulpenkübeln können nun die „freien Iraker“ den Gastgeber preisen. „Das irakische Volk wird George Bush ewig dankbar sein“, sagt einer der Gäste, ein Arzt. Und was ist mit den toten Zivilisten? „Sie sind die letzten Opfer Saddams.“ Wird eine amerikanische Besatzung akzeptiert werden? „Welche Besatzung? Ist doch eine Befreiung. Nur amerikanische Truppen können Garanten unserer künftigen Demokratie sein.“

Schöner könnte es in keinem Drehbuch stehen. Wie immer im Weißen Haus vermischen sich Inszenierung und Realität. Aber Realität ist es eben auch. Von keinem Opfer Saddam Husseins wäre anderes zu erwarten. Auch George W. Bush ist mehr als nur ein Darsteller von Empathie. Wer ihm in diesen Tagen begegnet, berichtet von einem Mann, dessen Entschlossenheit seit Kriegsbeginn nur noch gewachsen ist. Schon vergleichen ihn Instant-Historiker mit dem legendären Präsidenten Franklin D. Roosevelt, den nach der Landung in der Normandie im Juni 1944 der Tod jedes weiteren Soldaten darin bestärkte, nichts als die totale Niederlage Hitlers zu akzeptieren und nichts als die völlige Verwandlung Deutschlands in eine Demokratie.

Nun also im Irak die Demokratie. Wie es dazu kommen soll, erklärt ein paar Meter neben den Tulpenkübeln Condoleezza Rice, die Sicherheitsberaterin. Sie steht, im Auftritt wie immer tadellos, im Briefing-Raum des Weißen Hauses und findet es „nur natürlich“, dass diejenigen, „die ihr Leben und ihr Blut für die Befreiung des Iraks gegeben haben, nun eine Führungsrolle übernehmen“. Und die Vereinten Nationen? „Daraus sollten wir keine theologische Frage machen.“ Folgt also auf einen Krieg im Alleingang eine Demokratisierung im Alleingang? Keineswegs. Die Kriegskoalition werde „in Partnerschaft mit internationalen Organisationen, einschließlich der UN“ handeln. Nur sei der Irak eben nicht Osttimor („ein neuer Staat“), nicht Afghanistan („ein gescheiterter Staat“), nicht das sKosovo („gar kein Staat“). Überall waren die Vereinten Nationen beim Aufbau demokratischer Strukturen entscheidend beteiligt. Der Irak aber, meint Rice, sei „einzigartig“. Wahrscheinlich so „einzigartig“, dass George Bushs politische Zukunft davon abhängen wird, ob Friede und Demokratie gelingen. Und sein eigenes Schicksal gibt niemand gern in die Hände anderer Leute. Letzteres sagt die Sicherheitsberaterin natürlich nicht. Jetzt hat sie „keine Zeit“ mehr. Draußen auf der Wiese wartet der Hubschrauber. Der Präsident will erst nach Camp David, dann nach Nordirland.

Dem Blitzkrieg soll nun die Blitzdemokratisierung folgen

Dort taucht George Bushs Fernsehgesicht am Dienstag wieder auf, zusammen mit dem Tony Blairs und der überraschenden Verkündigung, dass die UN eine „zentrale Rolle“ im Nachkriegs-Irak spielen sollen. Genau jene Formulierung wollte Tony Blair – und mit ihm Gerhard Schröder – immer hören. Die Vereinten Nationen – das ist das Pflaster auf die Wunden der „alten“ Europäer. Und zugleich das Zauberwort, mit dem George Bush insbesondere das Verhältnis zu Deutschland verbessern will. Frankreich gilt in Washington vorerst als hoffnungsloser Fall, die Bundesrepublik nur als Freund auf Irrwegen – zurückzugewinnen beim Aufbau eines demokratischen Iraks.

Darf damit der jüngste transatlantische Streit schon als Vergangenheit gelten? Oder meinen die beiden Herren Bush und Blair mit denselben Worten Unterschiedliches? Dazu befragt, sagt George Bush, die Vereinten Nationen sollten die Übergangsautorität im Irak legitimieren und „Teil des Fortschritts im Irak werden“. Auf weitere Details verzichtet der Präsident. Ein schöner Formelkompromiss. Er erlaubt, dass viel UN draufsteht, wo viel USA drin ist.

Und er garantiert, dass in Washington der ewige Machtkampf weitergeht, jenes Gefecht in den Fluren der Macht, das Kennzeichen dieser Regierung geworden ist. Ein Streit zwischen zwei Weltbildern: jenem der Moderaten um Außenminister Colin Powell und jenem der Pentagon-Hardliner um Verteidigungsminister Donald Rumsfeld.

Die Falken im Pentagon wollen dem Blitzkrieg eine Blitzdemokratisierung anfügen. Lange genug haben sie sich gegen die Idee gewehrt, amerikanische Soldaten müssten sich am nation-building beteiligen. Nun, da es nicht anders geht, soll alles ganz schnell gehen, bis die Macht an eine Übergangsregierung weitergereicht wird – „von Irakern für Iraker“, wie Vizeverteidigungsminister Paul Wolfowitz mit großem Pathos und unter Berufung auf Abraham Lincoln sagt. „Vielleicht sechs Monate, vielleicht mehr“ soll die Phase bis zur Machtübertragung dauern.

Der Möchtegern-Präsident fliegt mit der US-Luftwaffe ein

Zum strengen Zeitplan gehört ein ehrgeiziges Arbeitsprogramm. Besonders die Neokonservativen unter den Falken wollen den Irak zum Leuchtturm der Demokratie machen. Dessen Licht soll die ganze Region erhellen. Nicht Stabilität ist das Ziel, sondern Umgestaltung. Deshalb wünschen sich die Neokonservativen nicht irgendwelche Technokraten an der Spitze des irakischen Staates, nicht mal übergangsweise, sondern ausschließlich Menschen, die Freiheit und Marktwirtschaft verpflichtet sind – am besten Exilanten. Amerika erschiene so als Wohltäter, nicht als Kolonialmacht.

Die Vereinten Nationen tauchen in diesem Szenario irgendwo ganz hinten im Versorgungskonvoi auf, überwiegend damit beschäftigt, Essen und Wasser und Schulbücher zu verteilen. Sie wären eine globale Hilfsorganisation, könnten einen eigenen Irak-Beauftragten benennen oder Aufgaben dritten oder vierten Ranges an die Europäer weiterreichen. Nur mitbestimmen sollten sie nichts. Denn die UN, heißt es in diesen Tagen in rechten Publikationen wie der New York Post, seien langsam und unfähig: in manchen Fällen (wie in Kambodscha) „stärken sie den autokratischen Status quo“; in anderen Fällen (wie auf dem Balkan) „stabilisieren sie eine Machtbalance und verhindern demokratische Entwicklung“; und in wieder anderen Fällen (wie in Osttimor) „sind sie Synonym für verbreitete Korruption“. Soll heißen: Das Land der Freiheit kann vieles besser und alles schneller, als die UN es können.

Zudem wirkt das Frankreich-Trauma nach, jenes Scheitern der Kriegsautorisierung im UN-Sicherheitsrat, das bei den Falken als Verrat eines (ehemaligen) Alliierten verstanden wird. Sich bei der Friedensregelung von Frankreich abhängig zu machen sei Selbstmord, meinen sie. „Wer Demokratie im Irak will, muss Frankreich raushalten“, sagt Randy Scheunemann, Präsident des Committee for the Liberation of Iraq, ein Mann mit besten Kontakten ins Pentagon. „Es ist doch arrogant zu behaupten, die Iraker könnten ihre Demokratie nicht selbst aufbauen.“

Die Falken sind bestens platziert, ihre Vision tatsächlich durchzusetzen. Alle Machtpositionen im besiegten Irak kann das Pentagon selbst besetzen. Wenn die Waffen schweigen, wird der kommandierende General Tommy Franks eine Art Vizekönig von Bagdad. Ihm unterstellt ist Jay Garner, der Beauftragte für den Wiederaufbau. Dessen Team wird in Washington spöttisch „Wolfies Truppe“ genannt. Dort hat der Vizeverteidigungsminister Paul Wolfowitz glühende Neokonservative untergebracht, die meisten von ihnen sind ohne Kenntnis der Region. Einer dieser Spezialisten sollte James Woolsey sein, ein früherer CIA-Direktor.

Der Mann war als neuer Informationsminister in Bagdad vorgesehen – bis schließlich Powell Einspruch erhob. Einen CIA-Mann einzusetzen sende ein falsches Signal an die arabische Welt aus. Der Außenminister benannte selbst acht Kandidaten für hohe Posten in der Nachkriegsverwaltung – sämtlich ehemalige Diplomaten, die fließend Arabisch sprechen. Das wiederum mochte das Verteidigungsministerium nicht und legte ein Veto ein. Die Falken fürchten, dass die Diplomaten zu viel Verständnis für die Nachbarstaaten aufbringen. Dabei soll doch Iraks künftige Demokratie dabei helfen, die autoritären Nachbarstaaten zu destabilisieren. Im konservativen Kosmos ist zu viel Internationalismus ein Hindernis auf dem Wege zur Demokratisierung. Angesichts dieser neuen Theorie globaler Zusammenarbeit ist Paralyse eingetreten. In einer Villa in Kuwait wartet nun Jay Garners Team darauf, in Bagdad einzuziehen, aber wichtige Positionen der Verwaltung sind noch immer nicht besetzt.

Die Moderaten um den Chefdiplomaten Colin Powell wollen die ganze Amerikanisierung des Wiederaufbaus verhindern. Sie glauben, nur breite internationale Unterstützung werde die notwendige Legitimität schaffen und, wie Marina Ottaway vom Carnegie Endowment schreibt, „Stabilität für den Irak und die ganze Region“. Für diese Gruppe ist der Irak nach dem Kriege jener Ort, an dem Europa und Amerika als Wiederaufbau-Gemeinschaft neuerlich zusammenfinden. Sie wollen keine UN-Verwaltung, aber doch deren Hoheit über die Öleinkünfte. Und sie wünschen sich für den Irak so etwas wie die internationale Petersberger Konferenz in Bonn, die im Spätherbst 2001 den Weg zu einer Übergangsregierung in Afghanistan ebnete.

Stets prallen die Diplomaten dabei auf die Hardliner aus dem Verteidigungsministerium. Beispiel Öl: Powell will die Öleinkünfte zentral verwaltet sehen, damit das Land nicht in seine ethnischen Einzelteile zerfällt. Die Neokonservativen hingegen sehen die Ölindustrie als Kernstück der freien Marktwirtschaft und wollen sie privatisieren. Jüngst haben beide Fraktionen einen Kompromiss geschlossen: Über das Öl wird später entschieden – von den Irakern.

Der faszinierendste Kleinkrieg ist um die Machtfrage in Bagdad entbrannt. Die Pentagon-Falken wollten schon vor dem Krieg eine Übergangsregierung aus Exilanten einsetzen. Das hätte die Lieblingsfigur der Neokonservativen an die Macht gebracht, Achmed Dschalabi, den umstrittenen Chef des Irakischen Nationalkongresses. Powell erhob Einspruch: Oppositionelle Kräfte aus dem Inneren des Landes müssten beteiligt werden. Die neue irakische Zentralmacht solle allmählich heranwachsen und könne nicht einfach von Amerika eingesetzt werden. Präsident Bush pflichtete Powell bei.

Aber die Falken gaben nicht auf. Vergangene Woche schrieb Verteidigungsminister Donald Rumsfeld an Präsident Bush, er möge nun im „befreiten Südirak“ eine Übergangsregierung aus sympathisierenden Exilanten einsetzen. Wieder lehnte Bush ab. Am Montag landete plötzlich Achmed Dschalabi, von Rumsfelds Luftstreitkräften eingeflogen, im Südirak, allerdings nicht als Politiker, sondern als Kommandeur von 700 bewaffneten Exilanten. Am Dienstagabend war Dschalabi offenbar schon auf dem Weg nach Bagdad – womöglich wieder in einen Politiker verwandelt. Sein Mentor Donald Rumsfeld ist eben ein Mann, der gerne Fakten schafft.

Immerhin haben die Moderaten in den vergangenen Tagen einen neuen Verbündeten erhalten – den Kongress. Der hat dem Pentagon 2,5 Milliarden Dollar Wiederaufbaugelder weggenommen und dem Außenministerium zugeteilt. Soll heißen: Die Abgeordneten wollen nicht die ganze Zeche zahlen und plädieren deshalb lieber für eine internationale Verteilung der Lasten.

In dieser komplizierten Gemengelage müssen sich nun die Europäer zurechtfinden, wenn sie beim Aufbauwerk Bagdad dabei sein wollen. Das deutsche Interesse ist überwältigend: Politik nicht zulasten von Saddam Husseins Opfern machen, den Nahen Osten stabilisieren, die Risse innerhalb Europas und zwischen den Kontinenten kitten. Aber der pragmatische Umgang mit einer US-Regierung, die sich in Flügelkämpfen zerfleischt, und einem Präsidenten, der vor allem an die eigene Zukunft denkt, will erst mal gelernt sein.

Aus: Die Zeit, 16/03