Eine Leibwache aus Lügen

Eric Rouleau
Journalist

Unter dem Deckmantel der "Kommunikation" betreiben alle Regierungen mehr oder weniger Desinformationspolitik. In Zeiten des Krieges, wenn jedes Mittel recht ist, um die Bevölkerung zu mobilisieren, wird die Manipulation der Information gang und gäbe. Sie verbreiten unüberprüfbare Gerüchte sowie Halbwahrheiten und Lügen, die aus einem teilweisen Verschweigen von Tatsachen entstehen. Man stellt den Krieg als "gerecht", als "unvermeidlich" und als "Verteidigungsfall" hin. Zum "Präventivkrieg" wird er, wenn ein Staat die Initiative zur militärischen Auseinandersetzung ergreift und dabei jene internationalen Konventionen verletzt, die gerade dazu bestimmt sind, das Recht des Mächtigeren aus den zwischenstaatlichen Beziehungen zu verbannen.

Desinformation hat ihre Regeln. Man spitzt die dem Konflikt vorausgehende Krise drastisch zu und verteufelt den feindlichen Staat. Dessen Oberhaupt wird als ein durch und durch bösartiges Wesen präsentiert, als "Abenteurer", "Psychopath", "Kommunist" oder "Nazi". Von dem Iraner Mossadegh1 über den Ägypter Nasser, den Libyer Gaddafi und den Palästinenser Arafat kamen sie alle schon in den Genuss dieser wenig liebenswürdigen Bezeichnungen.

Auch Saddam Hussein, einst geschätzter Verbündeter der Vereinigten Staaten und Frankreichs, entpuppte sich als "neuer Hitler". Wer dagegen protestiert, wer für die Propaganda unempfänglich ist und eine diplomatische Lösung befürwortet, erhält alsbald das Etikett "Münchner"2 oder gilt gar als "naiv". So ist die Debatte rasch beendet.

Noch nie seit dem Ende des Kalten Krieges wurden so beträchtliche Mittel eingesetzt, um die öffentliche Meinung auf eine militärische Konfrontation vorzubereiten. Die Vereinigten Staaten, unbestrittene Meister der Informationstechnologie, zeigten, wie gut sie ihr Metier beherrschen. Eine Vielzahl von "Kommunikationszentren" innerhalb der Administration vom Weißen Haus über die CIA und das Außenministerium bis zum Pentagon, dazu die PR-Berater, die für teures Geld eingekauft wurden, machten sich ans Werk, die, so die offizielle Terminologie, "Herzen und Hirne" für das strategische Ziel von Präsident Bush zu gewinnen, den Irak mit Gewalt zu "normalisieren".

Das ging freilich nicht ohne Schwierigkeiten ab. Einen Skandal gab es, als aufgrund einer undichten Stelle im Februar 2002 herauskam, dass das Pentagon unter strengster Geheimhaltung im vorangegangenen Herbst ein Amt für strategische Beeinflussung geschaffen hatte, dessen Aufgabe darin bestand, die öffentliche Meinung über nichtamerikanische Presseagenturen - insbesondere die Agence France Preses (afp) und Reuters - zu indoktrinieren. Angesichts der Empörung, die daraufhin im Kongress und in der Presse losbrach, sah sich Verteidigungsminister Rumsfeld zu einer öffentlichen Entschuldigung gezwungen und verkündete die Schließung dieser Dienststelle - die er unverzüglich durch eine andere mit dem unspektakulären Namen "Amt für besondere Aufgaben" ersetzte.

Der Kunstgriff war nicht nach dem Geschmack aller neokonservativen Gefolgsleute der Regierung. Einer der exponiertesten "Falken" in Washington, ein enger Freund von Rumsfeld, Frank Gaffney, veröffentlichte einen bissigen Artikel gegen die "Linke", die Amerika eines unerlässlichen Kriegsinstruments zu berauben versuche.3 Der Vorsitzende der Stiftung Center for Security Policy, dessen Devise "Den Frieden mit Gewalt befördern" lautet, berief sich auf Winston Churchill und zitierte ihn mit dem Satz: "Die Wahrheit ist so kostbar, dass sie immer von einer Leibwache von Lügen umgeben sein sollte."

Auf den ersten Blick haben die in hoher Dosis verabreichten Lügen nicht die erhofften therapeutischen Wirkungen gezeitigt. Wider alle Erwartung hat selten ein Kriegsplan so viele Fragen und so viel Widerspruch hervorgerufen. Niemals zuvor standen europäische Länder ihrem amerikanischen Verbündeten derart reserviert gegenüber. Niemals zuvor waren sich die arabischen Staaten so einig darin, ein Unternehmen zu verurteilen, das immerhin darauf zielt, sie von Saddam Hussein zu befreien, den die meisten fürchten oder verachten. Muss man diesen seltsamen Konsens wirklich einer weltweiten antiamerikanischen Welle zuschreiben?

Die Antwort ist ja, aber das ist nicht das Entscheidende, wie die Entwicklung der öffentlichen Meinung in den USA selbst bestätigt. Von den Attentaten in New York und Washington traumatisiert, folgte sie zunächst ihrem Präsidenten, als dieser zwei Monate später zum Kreuzzug gegen den Irak blies. Umfragen zeigen jedoch deutlich, dass der Prozentsatz der Amerikaner, die den Krieg befürworten, seither unaufhörlich gesunken ist.

Im Dezember 2002 sprachen sich 68 Prozent dafür aus, sich so lange dem Krieg zu widersetzen, wie der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen noch nicht seine Zustimmung dazu gegeben hat. Noch signifikanter ist, dass 72 Prozent der Amerikaner, davon 60 Prozent Mitglieder oder Sympathisanten der Republikanischen Partei, der Ansicht waren, dass ihre Regierung keine "hinreichenden Beweise" geliefert habe, um einen Krieg zu rechtfertigen.4

Sie glaubten also Präsident George W. Bush nicht, wenn dieser versicherte, dass die "irakische Gefahr ernst" und "unmittelbar bedrohlich" sei. Die implizite oder explizite Opposition gegen den Krieg, die unter anderem von höheren Offizieren des Pentagon, von mehreren altgedienten hohen Staatsbeamten, im Außenministerium, in Wirtschaftskreisen sowie von den großen Bossen der Filmindustrie in Hollywood geäußert wird, zeigte das Ausmaß, in dem die amerikanische Öffentlichkeit den Krieg ablehnt. Offensichtlich war das Produkt nicht verkäuflich.

Die Versuche, den Irak mit den Attentaten vom 11. September 2001 und ganz generell mit dem internationalen Terrorismus in Verbindung zu bringen, sind fehlgeschlagen. Schon im letzten Jahr musste Präsident Bush scharfe Dementis hinnehmen, nachdem er versichert hatte, der Irak werde binnen sechs Monaten Atomsprengköpfe produzieren und besitze bereits Drohnen (Flugzeuge ohne Piloten). Die gegenteiligen Versicherungen kamen von der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) wie von der CIA. Der Vorwurf, Bagdad sei an der Versendung von Anthraxbriefen an verschiedene Persönlichkeiten und Unternehmen beteiligt, erwies sich als unbegründet. Noch misslicher war, dass die Untersuchung nebenbei an den Tag brachte, dass die Milzbrandbakterien sowie andere biologische Waffen massenhaft in den Vereinigten Staaten produziert worden waren.

Das Misstrauen wurde durch die schlichte Behauptung hervorgerufen, der Irak verfüge über Massenvernichtungswaffen. Beweise, die einen Krieg rechtfertigen würden, legte auch US-Außenminister Powell am 5. Februar 2003 dem Weltsicherheitsrat nicht vor. Zudem erinnerten böse Geister daran, dass US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld selbst die irakisch-amerikanische Zusammenarbeit zu Beginn der 1980er-Jahre in die Wege geleitet und während des Krieges zwischen Irak und Iran die Ausfuhr jener chemischen Waffen erleichtert hatte, mit denen Saddam Hussein dann Bevölkerung und Soldaten der Islamischen Republik und die Kurden im Irak vergaste.5

Die fromme Rhetorik von George W. Bush, das irakische Volk von der Tyrannei befreien zu wollen, war ebenfalls kein durchschlagender Erfolg. Eingedenk der zahllosen Diktaturen, die heute oder im Laufe der letzten Jahrzehnte von Washington unterstützt wurden, sieht die öffentliche Meinung vieler Länder darin nur eine weitere Heuchelei. Selbst die US-Medien fragten, weshalb man das Regime Saddam Husseins beseitigen solle und nicht das sehr viel blutigere von Kim Jong Il in Nordkorea, der obendrein über Atomsprengköpfe und Langstreckenraketen verfügt. Und warum sollten wir "unsere Jungs" opfern müssen, um eine Rolle zu übernehmen, die dem irakischen Volk zukäme?

Desinformation kann auch in dem bestehen, was ungesagt bleibt. Das Schweigen der amerikanischen Führung hinsichtlich ihrer ökonomischen und geopolitischen Absichten spricht schon für sich. Weder aus offiziellen Verlautbarungen noch aus Studien von Thinktanks geht hervor, welche Vorteile ein irakischer Satellitenstaat bietet oder welches politische Gewicht das Land künftig in der Golfregion haben soll.

Schweigen herrscht auch über die fantastischen Wiederaufbauverträge, die sich die US-Industrie im Schatten einer "demokratischen" Regierung leicht wird sichern können. Die meisten großen US-Medien analysieren weder die Ausbreitung und Festigung von Washingtons Hegemonie im Nahen Osten noch die wachsende Bedeutung Israels angesichts einer geschwächten arabischen Welt.

Die verborgene US-amerikanische Strategie wird allerdings enthüllt, wenn man die Dokumente der Stiftung "Project for a New American Century"6 untersucht, deren treues Spiegelbild die Bush-Doktrin ist. Zwei dieser Studien aus der Clinton-Zeit, die vom Juni 1997 und vom September 2000 datieren und den Charakter von Manifesten besitzen, definieren die ideologischen, politischen, militärischen und ökonomischen Fundamente, auf die die Außenpolitik der Vereinigten Staaten gestellt werden müsste. Eine Phalanx von Neokonservativen und von Repräsentanten des militärisch-industriellen Komplexes hat dazu Beiträge geliefert. Sie tragen die Unterschriften der wesentlichen Stützen der gegenwärtigen Administration: Vizepräsident Cheney, Verteidigungsminister Rumsfeld und sein Stellvertreter Wolfowitz, Elliott Abrams, jetzt Nahostkoordinator im Weißen Haus, und Richard Perle, Vorsitzender der einflussreichen Kommission für Verteidigungspolitik im Pentagon.

Das erklärte Ziel der Unterzeichner besteht darin, den Vereinigten Staaten die "weltweite Vorherrschaft" zu sichern und ausdrücklich jede andere industrielle Macht daran zu hindern, irgendeine oppositionelle Rolle auf internationaler oder regionaler Bühne zu spielen. Sie empfehlen eine Politik des Unilateralismus, also des Verzichtes auf Einbindung in ein internationales System, sowie den eventuellen Rückgriff auf Präventivkriege, um die "Werte und Interessen" der Vereinigten Staaten zu verteidigen. Die UNO wird als ein "Forum für Linke, Antizionisten und Antiimperialisten" dargestellt, das man nur in Anspruch nehmen sollte, wenn die Weltorganisation die Politik Washingtons unterstützt.

Das irakische Problem wird darin ausschließlich unter dem Blickwinkel der strategischen Interessen der Vereinigten Staaten abgehandelt. Weder geht es um die Diktatur in Bagdad noch um die Verletzung der Menschenrechte, weder um den Besitz von Massenvernichtungswaffen noch um die geheimen Machenschaften von Terroristen, sondern allein um die Notwendigkeit, die US-Stützpunkte am Golf auf unbegrenzte Zeit zu erhalten, "ob Saddam Hussein an der Macht ist oder nicht". Schließlich warnen die Unterzeichner: "Die einzige globale Supermacht" laufe Gefahr, ihrer historischen Bestimmung nicht gerecht zu werden, wenn es ihr nicht gelinge, die sich ihr bietenden "Gelegenheiten" zu ergreifen.

dt. Petra Willim

Fußnoten:
1 Iranischer Ministerpräsident, "schuldig", die Ölindustrie verstaatlicht zu haben und deshalb Opfer eines von den USA unterstützten Staatsstreichs 1953, zweieinhalb Jahre nachdem er an die Macht gekommen war. Vgl. Mark Gasiorowski, "Die USA und die Irankrise 1953", Le Monde diplomatique, Oktober 2000.
2 Anspielung auf das Münchner Abkommen von 1938.
3 National Review Online, 21. Februar 2001.
4 The Los Angeles Times, 17. Dezember 2002.
5 The Washington Post, 30. Dezember 2002.
6 www.newamericancentury.org.
Aus: Le Monde diplomatique Nr. 6980 vom 14.2.2003