Geht es um die Türkei?

Das Land am Bosporus ist Schlachtfeld, nicht Ziel

Jochen Hippler

Die Anschläge von Istanbul haben in Deutschland eine Debatte ausgelöst, ob die Türkei nun noch in die EU eintreten könne oder ein solcher Beitritt den nahöstlichen Terrorismus nach Europa importieren würde. Häufig wird die These vertreten, die Attentate richteten sich gegen die Kooperation der Türkei mit dem Westen allgemein und gegen deren säkulares Politikmodell. Allerdings deutet wenig auf eine solche Zielrichtung hin. Die ersten beiden Ziele waren zwei Synagogen, bei denen es zumindest propagandistisch um den Mord an fünf Mossad-Agenten gegangen sein soll. Die folgenden Anschläge galten britischen Einrichtungen - genau zu dem Zeitpunkt, als Präsident Bush zum Staatsbesuch in Großbritannien weilte. Auch die sehr wahrscheinliche Beteiligung internationaler Terrornetzwerke - vermutlich von al-Qaida - spricht eher gegen die Türkei als eigentliches Ziel der Angriffe. Tatsächlich deutet vieles darauf hin, dass die Attentate Teil der Gewalteskalation sind, zu dem sich Bushs "Krieg gegen den Terror" entwickelt hat. Schließlich sind die Beziehungen der Türkei zu den USA seit Monaten so gespannt wie selten zuvor, da Ankara eine Unterstützung im Irak-Krieg verweigerte.

Die säkulare Türkei wird derzeit von einer gemäßigt islamistischen Partei regiert, das schließt islamistische Anschläge gegen die Türkei nicht prinzipiell aus, lässt sie aber als weniger wahrscheinlich erscheinen als früher.

Die "Kampffront für einen Großen Islamischen Osten" - sie hat die Verantwortung für die Attentate übernommen - handelte nach eigenen Angaben gemeinsam mit al-Qaida. Das muss deshalb nicht der Wahrheit entsprechen, aber vieles spricht dafür: die Gruppe selbst ist aufgrund der Fahndungserfolge der türkischen Polizei geschwächt, sie hat bisher nur kleinere Attentate gegen Einzelpersonen unternommen und ist in unabhängig operierenden Gruppen von drei bis fünf Personen organisiert, die zu solch professionell vorbereiteten Anschlägen allein kaum fähig sind. Die Türkei war das Schlachtfeld, nicht selbst das Ziel, auch wenn viele türkische Bürger verletzt oder getötet wurden.

Vor diesem Hintergrund ist eine Debatte darüber ausgebrochen, ob der nahöstliche Terrorismus nun auf Europa übergreife. Natürlich ist die geografische Vereinfachung absurd, der Terrorismus und seine Ausbreitung würden sich nach den Gegebenheiten der Landkarte richten. Schließlich erfolgten die Anschläge gegen die USA vom 11. September auch nicht erst, nachdem zuvor Kanada oder Mexiko Ziele waren. In der Ära der Globalisierung folgt auch die terroristische Logik nicht der Geografie, sondern anderen Erwägungen: Die erstrangigen Angriffsziele des nahöstlichen Terrorismus sind die lokalen arabischen Regimes, dann die USA, Israel und Großbritannien. Ein weiteres Kriterium besteht darin, empfindliche Ziele mit Symbolgehalt auszuwählen, die nur mäßig geschützt sind ("weiche Ziele"). Daher ist nicht auszuschließen, dass auch Staaten in Westeuropa zum Schauplatz von Anschlägen werden könnten, da man sie für Verbündete der USA und Israels hält oder man dort symbolische Ziele der Hauptgegner treffen kann - etwa US-Fast-Food-Ketten, Banken, diplomatische Missionen, US-Luxushotels. Ein wirksamer Schutz all dessen ist unmöglich, weshalb solche Anschläge auch nicht ausgeschlossen werden können. Andererseits stehen Deutschland oder Frankreich als Ziel nicht in der ersten Reihe - man denke an deren Opposition gegen den Irak-Krieg. Sollte es doch irgendwann zu Anschlägen kommen, dann vermutlich eher gegen Einrichtungen dritter Staaten in Deutschland. Dies wird die Opfer künftiger Gewalttaten nicht trösten, hilft aber bei einem realistischen Urteil über die tatsächliche Gefahr: durchaus möglich, aber weniger wahrscheinlich als anderswo. Eines der Ziele der Terrorgruppen besteht in der Verbreitung von Schrecken, Panik und Hysterie - da sollte man ihnen nicht noch in die Hände spielen.

Quelle: Freitag 49 vom 28.November 2003

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