Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde,
liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr geehrte Damen und Herren!
Jeder Kongress, der etwas auf sich hält, weist natürlich auf die Aktualität und große Bedeutung der von ihm aufgegriffenen und zu bearbeitenden Probleme hin. So könnte das auch dieser Friedensratschlag tun. Und da es zufällig der zehnte seiner Art ist, müsste ein versierter Festredner sowohl die historischen Verdienste der vorangegangenen Ratschläge herausstellen, als auch die einzigartigen Herausforderungen schildern, denen sich die Kongressteilnehmerinnen und -teilnehmer momentan gegenüber sehen.
Nun bin ich ja vieles, nur eines nicht: Ich bin kein Kongressprofi. Es gibt ja diese berufsmäßigen Moderatoren und Chairmen, die eine Automobilmesse mit demselben sterilen Engagement durchziehen wie einen Parteitag, und ich habe mir sagen lassen, dass diese Unsitte auch schon bei manchen Nichtregierungsorganisationen Einzug gehalten hat. Da ich mich zudem nicht zum Festredner eigne, will ich versuchen, über unser kleines Jubiläum großzügig hinwegzusehen und mich den tatsächlichen Fragen und Aufgaben widmen.
Nach dem Irakkrieg: Die Welt aus den Fugen
Nüchtern gesprochen, war das abgelaufene Jahr aus friedenspolitischer Sicht eine einzige Katastrophe, liebe Freundinnen und Freunde. Und ich kann mich nicht erinnern, in den letzten neun Jahren, also seit dem ersten Ratschlag 1994, eine derart negative weltpolitische Bilanz gezogen zu haben. Dabei ist es nicht der Irakkrieg an sich, der mich zu dieser Einschätzung verleitet; es gibt so viele Kriege in der Welt, in denen gestorben wird und in denen insbesondere die junge Generation einer menschlichen Zukunft beraubt wird. Nein: Es ist die Art und Weise, wie dieser Krieg zustande kam und was er an tektonischen Verschiebungen der gegenwärtigen Weltordnung und im tradierten Völkerrecht schon verursacht hat und noch verursachen kann.
"Der Nahe Osten gerät aus den Fugen", titelte die Berliner Zeitung am 10. November 2003. Zu viel war passiert in den letzten Tagen und Wochen in und um den Irak, als dass man vom Irakkrieg in der Vergangenheitsform sprechen könnte. Selbst der US-amerikanische stellvertretende Außenminister Richard Armitage räumte am 8. November ein, der Irak sei ein "Kriegsgebiet".
Dieses Eingeständnis kommt ein halbes Jahr nach der von US-Präsident George W. Bush so spektakulär inszenierten Kunde vom offiziellen Ende des Kriegs. Am 1. Mai 2003 rief er auf dem Flugzeugträger "Abraham Lincoln" mit überlegener Geste aus: "Die Befreiung des Irak ist ein wesentlicher Fortschritt im Feldzug gegen den Terror. Wir haben einen Bündnispartner der Al Qaida beseitigt und den Terroristen den Zugriff auf eine Geldquelle unmöglich gemacht. Und soviel ist sicher: Kein terroristisches Netzwerk wird Massenvernichtungswaffen vom irakischen Regime erhalten, denn das irakische Regime gibt es nicht mehr." Seitdem verging kaum ein Tag, an dem diese Verheißung nicht bittere Lügen gestraft wurde. Die Anschläge auf US-Soldaten und US-Einrichtungen nehmen an Zahl und Intensität ständig zu. Die Zahl der in der "Nachkriegszeit" getöteten US-Soldaten übersteigt mittlerweile die Zahl der während des Kriegs Gefallenen. Und der Anschlage von Nasirija am 12. November, bei dem mehr als 20 italienische Soldaten getötet wurden, und die Anschläge vom letzten Wochenende, bei denen 14 Ausländer, darunter Spanier, Japaner, Südkoreaner und Kolumbianer ums Leben kamen, zeigen, dass auch die mit den USA verbündeten Truppen ins Visier der Aufständischen geraten sind.
Insofern hat die Friedensbewegung, haben kritische Friedenswissenschaftler und Nahostexperten mit ihren Warnungen vor einem militärischen Desaster gar nicht so unrecht gehabt. Die Militäraggression gegen Irak war kein Spaziergang. Die 70.000 Toten die dieser Krieg nach unabhängigen Schätzungen bisher mindestens gekostet hat, 10.000 Zivilisten und 60.000 irakische Soldaten, sind eine einzige Anklage gegen diesen Krieg. Auf Seite der Alliierten sind in der ersten Kriegsphase rund 200 Tote gezählt worden. Wenn künftig über asymmetrische Kriege gesprochen wird, dann sollten wir zuallererst an diese monströse Ungleichheit denken und nicht an die Unberechenbarkeit terroristischer Heimtücke und Mordlust.
In den USA wird die Situation im Irak in vielen Kommentaren mittlerweile mit Vietnam verglichen. Die Tatsachen, die vom "Nachkriegs"-Alltag aus dem Irak bekannt werden, sind in der Tat für die US-amerikanische Öffentlichkeit schockierend. Eine am 13. November 2003 von der Nachrichtenagentur Reuters verbreitete Analyse der Statistikabteilung des US-Verteidigungsministeriums förderte zu Tage, dass der Vietnamkrieg, der nach offizieller Lesart am 11. Dezember 1961 begonnen hatte, den USA zwischen 1962 und 1964 eine Gesamtzahl von 392 Todesopfern abverlangte. Damals waren etwas mehr als 17.000 GIs in Indochina im Einsatz. Zum Vergleich: Heute stehen rund 130.000 US-Soldaten im Irak. Davon wurden in wenigen Monaten mehr als 400 bei Kampfhandlungen getötet. Diese Zahl war seinerzeit erst im Oktober 1965, also nach vier Jahren Krieg, erreicht. Im Irak kommt noch hinzu, dass der größere Anteil der Todesopfer auf "alliierter Seite" auf die Zeit nach dem offiziellen Ende des Krieges entfällt. So gesehen ist der Nachkriegszustand im Irak gefährlicher, als es der Kriegszustand in den ersten Jahren des Vietnamkriegs war.
Eine neues Vietnam?
Historisch-analytisch lässt sich indessen die Parallele vom Irakkieg und vom Vietnamkrieg kaum ziehen: Vietnam hatte sich gerade aus dem kolonialen Joch befreit, die Franzosen aus dem Land getrieben und war geteilt worden in einen prosowjetischen Norden und einen westlich orientierten Süden. Im langjährigen Befreiungskampf des vietnamesischen Volks, der gleichzeitig eine Art "regulärer" Krieg zwischen Nordvietnam und den USA war (wobei die USA die Aggressoren waren) spielte auf Seiten Vietnams noch die politische und militärische Unterstützung der Sowjetunion sowie der VR China eine gewichtige Rolle. Vietnam war also zugleich ein "Stellvertreterkrieg", ein Prestigekampf im Ost-West-Konflikt.
Nichts von alledem lässt sich auf die Situation im Irak übertragen. Heute sind die USA die einzige Weltmacht, die in militärischer Hinsicht schalten und walten kann wie sie mag. US-Truppen und ihre überlegenen Waffen können überall in der Welt Kriege führen und gewinnen. Im Fall des Irakkriegs gab es keine Macht, die den Versuch unternommen hätte, das Regime in Bagdad politisch oder gar militärisch zu stützen. Im Gegenteil: Die Staatengemeinschaft in Form der UN-Sicherheitsrats tat alles, um - mittels Waffeninspektionsregime - die Entwaffnung des Irak voranzutreiben und - mittels 12-jährigem Embargo - seine Widerstandsfähigkeit auch in politisch moralischer Hinsicht zu brechen. Mit dem Völkerrecht hatte dies wenig zu tun, vor allem wenn man bedenkt, dass parallel dazu eine waffenstarrende anglo-amerikanische Kriegsallianz ungestört ihren militärischen Angriff vorbereiten konnte. Artikel 51 der UN-Charta, in dem das Selbstverteidigungsrecht jedes souveränen Staates gegen eine Aggression unterstrichen wird, war in diesem Fall geradezu in sein Gegenteil verkehrt worden.
Es muss erlaubt sein, diese Kritik an der UNO und seinen Mitgliedsstaaten zu üben, gerade wenn man auf der anderen Seite die standhafte Weigerung des UN-Sicherheitsrats, den USA eine Kriegsermächtigung zu geben, nicht genug hervorheben kann. Der politische Widerstand der Mehrheit des Sicherheitsrats und der UN-Waffeninspektoren gegen den angloamerikanischen Druck vor dem Krieg war eine Sternstunde in der wechselvollen Geschichte dieses Gremiums. Die Resolution 1483 vom Mai 2003, in der die Besatzer als rechtmäßige Behörde anerkannt und der Krieg damit im nachhinein legitimiert und die Aggressoren entlastet wurden, war eine umso bitterere Enttäuschung.
Krieg gewinnen - aber keinen Frieden schaffen
Dies lehrt uns zweierlei:
Erstens tendieren moderne Kriege dazu, sich nicht mehr eingrenzen zu lassen. Wir erleben dasselbe in Afghanistan, wo zwar die Taliban-Herrschaft durch den Krieg erschüttert und in einigen Regionen tatsächlich abgelöst wurde, wo aber doch nur - neben den Besatzern - selbsternannte Warlords das Land regieren und sich die Einnahmen aus dem wieder lukrativ gewordenen Drogengeschäft teilen. Krieg, so lautet unsere Schlussfolgerung, die wir gleichwohl schon vorher kannten, Krieg ist keine Lösung, nirgendwo!
Zweitens lehrt uns der Irakkrieg, dass die größte Militär- und Wirtschaftsmacht der Welt, die USA, nicht allmächtig ist. Die USA mögen zwar einen Krieg gewinnen (und nicht einmal das haben sie bisher richtig hingekriegt), sie sind aber unfähig, und ich sage: strukturell unfähig, den Frieden zu gewinnen und eine annehmbare Nachkriegsordnung zu entwerfen.
Parallel zur Diskussion um die Kriegslüge "irakische Massenvernichtungswaffen" gab es in den USA im Sommer eine ausführliche Debatte, in der es genau um dieses Problem ging. Die Kriegskritiker und Skeptiker erhielten prominente Unterstützung durch den einflussreichen Council of Foreign Relations, der am 25. Juni 2003 einen Bericht über den Nachkriegs-Irak veröffentlichte. Prominente Autoren: der ehemalige UN-Botschafter Thomas Pickering und der ehemalige Verteidigungsminister John Schlesinger, der vor kurzem verstarb. Ihr wichtigstes Ergebnis:
1. Die USA hätten keine "klare und deutliche Vorstellung zur Gestaltung der politischen Landschaft" nach dem Fall des Saddam-Regimes gehabt;
2. Da dieser Krieg kein Einzelfall sei (hört, hört!), müsse "Friedenssicherung" zu einer "nationalen Kompetenz" werden. (Council 2003)
Die Ironie der Geschichte ist nur, dass auf Geheiß des US-Präsidenten Bush am 30. September 2003 das vor 10 Jahren gegründete US Army Peacekeeping Institute für immer seine Pforten geschlossen hat. Die entsprechende Website war bereits am 1. Mai d.J. deaktiviert woden. Mit anderen Worten: Die USA kümmern sich um den Vater aller Dinge, den Krieg, und überlassen die Nachkommenschaft weitgehend sich selber. Vor wenigen Tage hat sich Donald Rumsfeld offenbar wieder eines besseren besonnen und angekündigt, in seinem Ministerium eine Abteilung für Friedenserhaltende Strategien einzurichten. Diese Hüh- und Hott-Politik kennzeichnet im Übrigen auch die Konzeptionslosigkeit und Verwirrung, mit der die US-Streitkräfte einschließlich Zivilverwalter Bremer im Irak vorgehen.
Die im Irak kämpfende und marodierende Gegenseite ist indessen auch kein Orientierungspunkt für die Entwicklung einer griffigen Friedensstrategie. Niemand weiß, aus welchen Schichten, Gruppierungen und Banden sich die Freischärler, Kämpfer, Terroristen und wie man sie sonst noch bezeichnen will, rekrutieren und von welchen Motiven sie sich bei ihren Angriffen auf die Besatzungsmächte leiten lassen. Lautere Motive können wohl kaum im Spiel sein, wenn ausländische und irakische Zivilisten, Rotkreuzmitarbeiter oder UN-Personal zu den Angriffszielen gehören. Dies hat nichts mit Widerstand oder Befreiungskampf zu tun, sondern ist menschenverachtender Terrorismus. Dadurch wird das Recht des irakischen Volkes, sich seiner Besatzung zu entledigen, in krimineller Weise diskreditiert. Es gibt ein Recht auf Widerstand, aber es gibt kein Recht auf Mord- und Totschlag.
Und es gibt für die USA und ihre britischen, spanischen, polnischen und italienischen Handlanger kein Recht, fremde Länder anzugreifen und zu besetzen. Auch Staatsterrorismus ist ein Verbrechen. Der Verlauf des Irak-Krieges und die bisherige Verweigerung seiner Aufklärung verlangen geradezu nach einem Tribunal. Dieses Tribunal kann nach Lage der Dinge nur ein Tribunal von unten sein, das von der breiten Antikriegsbewegung getragen werden muss. Norman Paech hat hierzu vor kurzem wichtige Ermittlungsgründe zusammengetragen: "Nicht nur die drei Wochen der offenen Invasion, sondern die langen Jahre des verdeckten Krieges in den sog. Flugverbotszonen, die verschwiegenen Geschäfts- und politischen Beziehungen zwischen den späteren Kriegsgegnern, das Verwirrspiel um die Massenvernichtungsmittel und die Instrumentalisierung der Waffeninspektoren, die Methoden der Beweisführung der Kriegskoalition, die Rolle der Nachbarstaaten und der Medien - es liegen zu viele Zweifel und Unklarheiten auf dem Weg zu einem objektiven und glaubhaften Bild von diesem Krieg. (...) ... es müssen Beweise gesichert und Quellen der Information erschlossen werden. Was geschehen ist, was sich ereignet hat muss für weitere und spätere Untersuchungen zugänglich und offen gehalten werden, damit die Suche nach der Wahrheit nicht schon bald in der Sackgasse verschütteter Fakten und davor aufgestapelter Lügen stecken bleibt." Juristen, Orientalisten, Naturwissenschaftler, Friedens- und Konfliktforscher und andere Experten sind eingeladen, an einem solchen Tribunalsprozess teilzunehmen. Ich wünsche mir von diesem Ratschlag, dass er den bereits vorhandnen Tribunals-Aktivitäten einen kräftigen Schub verleiht.
Alternativen zur Besatzung
Nun wird uns verschiedentlich vorgehalten, wir hätten selbst kein Konzept für den Irak. Ein Abzug der Besatzung, der Bundesausschuss hatte das gefordert, wäre gleichbedeutend mit Chaos und Bürgerkrieg. Dazu kann ich nur sagen: Das Chaos haben wir doch jetzt schon. Der militärische Widerstand im Irak, dem fast täglich Soldaten der Kriegsallianz zum Opfer fallen, und die zunehmenden Terroranschläge gegen Symbole der Besatzung oder des "Westens" sind doch vor allem eine Folge der Fremdbestimmung des Landes durch die Besatzer.
Und: Wenn es richtig ist, dass die überwiegende Mehrheit der Iraker das diktatorische Regime Saddam Husseins abgelehnt hat, dann ist nicht einzusehen, warum dem irakischen Volk nicht auch die volle politische Souveränität zurückgegeben wird. Und zwar je früher desto besser!
Vor kurzem hat eine Untersuchung der IPPNW festgestellt, dass die Versorgungslage im Irak in fast allen lebensnotwendigen Bereichen heute schlechter ist als vor dem Krieg. Was die Menschen im Irak also brauchen, sind zivile Helfer, die beim Wiederaufbau der Infrastruktur helfen. Was die Menschen brauchen, sind Trinkwasser, Elektrizität, Benzin, Nahrungsmittel, Medikamente, Wirtschaftshilfe und Arbeitsplätze.
Was sie dagegen auf keinen Fall brauchen, sind ausländische Soldaten. Ihre Anwesenheit wird die verdeckten militärischen Angriffe und die heimtückischen Terroranschläge eher noch weiter herausfordern. US-Verwalter Paul Bremer hat vor kurzem erklärt, dass nach dem Krieg Mitglieder von Terrornetzwerken in den Irak eingedrungen seien. (Vor dem Krieg wurde uns weisgemacht, der Irak wäre bereits ein Hort und Zufluchtsort des Terrorismus.) Die andauernde ausländische Besatzung sorgt also dafür, dass der Irak zu dem gemacht wird, weswegen vor zwei Jahren gegen Afghanistan Krieg geführt wurde.
Aus all diesen Gründen bestehen wir auf unseren Alternativen:
- Wir fordern den Abzug der Besatzungstruppen aus dem Irak.
- Die UNO sollte die Aufsicht über zu organisierende Wahlen, die Ausarbeitung einer Verfassung, den Aufbau der Zivilverwaltung sowie die Einrichtung und Kontrolle eines Fonds zur Beseitigung der Kriegsschäden übernehmen.
- Der "regierende Rat" soll mit der Abhaltung demokratischer Wahlen zur Etablierung einer Interimsregierung betraut werden und dann möglichst schnell abdanken.
- Die Kriegsallianz, insbesondere die USA und Großbritannien, wird verpflichtet, für die Kosten der Schadensbeseitigung aufzukommen (Reparationen in Höhe von 4 Mrd. US-Dollar pro Monat für einen noch festzulegenden Zeitraum können locker mit dem Geld finanziert werden, das durch den Abzug der US-Truppen frei würde).
Übrigens befinden wir uns mit diesen Forderungen durchaus im Einklang mit der Mehrheit der Bevölkerung hier in der Bundesrepublik und in den anderen europäischen Staaten. Anfang November 2003 veröffentlichte die EU Ergebnisse einer Umfrage, die sich mit dem Irak und dem Weltfrieden" befasste, so auch der Titel der Studie ("IRAQ AND PEACE IN THE WORLD"). Die Studie war von der Europäischen Kommission (Generaldirektorat "Presse und Kommunikation") in Auftrag gegeben und von der Forschungsgruppe EOS GALLUP EUROPE im Oktober durchgeführt worden. Es wurden 7.715 Menschen in allen 15 EU-Mitgliedsländern befragt.
Ergebnisse einer EU-Umfrage zum Irakkrieg
Die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst, lauten:
Nur 18 Prozent der Europäer sagen, der Wiederaufbau des Irak sei bei den USA gut aufgehoben. Bessere Noten erhielt da schon die Europäische Union, obwohl sie selbst gar nicht als Akteur im Irak involviert ist. Sie wollten 25 Prozent der Befragten mit dem Wiederaufbau beauftragen. Noch mehr Vertrauen genießen die Iraker selbst, denen 44 Prozent das weitere Schicksal ihres Landes in die Hände legen möchten. Unangefochten aber an der Spitze des Vertrauens liegen die Vereinten Nationen, denen 58 Prozent der Befragten zutrauen, im Irak das Richtige zu tun.
Da interessiert natürlich die nächste Frage, wer den Wiederaufbau des Irak wohl finanzieren solle ("Who should finance the rebuilding of Iraq?") Die Antworten fallen eindeutig und wenig überraschend aus. Natürlich müssten die USA dafür gerade stehen, meinten 65 Prozent der Befragten; in Deutschland waren es sogar 84 Prozent! Die EU wollten dagegen nur 24 Prozent der EU-Bürger mit dieser Aufgabe belasten, während 44 Prozent die Vereinten Nationen - mit Abstand die ärmste Institution - in die Pflicht nehmen wollten.
Eine andere Frage beschäftigte sich mit der Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung im Irak. "Wer sollte während der Wiederaufbauphase im Irak für die Sicherheit sorgen?" ("Who should guarantee security in Iraq during the period of rebuilding the country?") Auf keinen Fall, so die überwiegende Meinung, dürfe man das den USA und ihren Alliierten überlassen. Nur 6 Prozent aller Befragten halten es für eine gute Lösung, die USA mit der Sicherheit im Irak allein zu beauftragen; 5 Prozent sind der Meinung, das müssten die USA zusammen mit den Alliierten tun. Macht zusammen 11 Prozent. Ebenso viele sind der Auffassung, dass dies eine Aufgabe einer multinationalen Truppe der Vereinten Nationen sein müsse, aber unter Führung der USA. Für die Vereinten Nationen und Peacekeeping Forces (Blauhelme) sprachen sich doppelt so viel Befragte aus (43 %); 19 Prozent kommen hinzu, die das Sicherheitsproblem den Vereinten Nationen (ohne Truppen) überlassen möchten.
Die europäischen Bürgerinnen und Bürger sind durchaus bereit, konkrete Hilfe zu leisten. Auf die Frage, ob man für eine Verstärkung der humanitären Irakhilfe durch das jeweils eigene Land ist oder nicht, antworteten 32 Prozent, sie seien vollkommen dafür, und weitere 50 Prozent, sie seien eher dafür. Diese 82 Prozent Befürwortern stehen europaweit lediglich 8 Prozent gegenüber, welche die Hilfe überhaupt nicht, und 9 Prozent, die sie "eher nicht" verstärken würden.
Die Bereitschaft zur Militärhilfe ist dagegen nur sehr schwach ausgeprägt. Lediglich 14 Prozent aller Befragten sind bedingungslos dafür ("totally in favour"), Truppen zu stellen, 30 Prozent wären vielleicht dazu bereit. Völlig dagegen sind aber 30 Prozent und eher dagegen weitere 24 Prozent, sodass die Gegner einer Truppenentsendung mit 54 Prozent die Befürworter (44 %) überwiegen. Dabei ist die Bereitschaft, Truppen zu stellen, von Land zu Land sehr unterschiedlich. Während in Dänemark (77 %), den Niederlanden (69 %), Irland (63 %), Italien (60 %), Schweden (58 %) und Großbritannien (57 %) die Befürworter einer militärischen Beteiligung an der "Befriedung" des Irak in der Mehrheit sind, bilden in allen anderen neun Ländern die Beteiligungsgegner die Mehrheit, wobei die größte Ablehnung aus Deutschland (71 %), Griechenland (70 %), Österreich (69 %) und Portugal (60 %) kommt.
Man sieht: Es gibt nicht nur Alternativen, sie würden von der Bevölkerung in Europa auch angenommen.
Die "Genfer Initiative": Neue Bewegung im Nahen Osten?
Auch im israelisch-palästinensischen Konflikt gibt es Auswege aus der Gewalt. Sie sind gegenwärtig aber nicht in der israelischen Regierung zu finden, sondern eher auf der Seite der Palästinenser, die in Freiheit und Frieden leben wollen, ohne Diskriminierung, ohne Mauer und ohne wirtschaftliche und soziale Ausgrenzung. Auf israelischer Seite sind es die Friedensbewegung, insbesondere ihr rührigster Teil, Gush Shalom von Uri Avnery, und andere oppositionelle Kräfte, die sich in den letzte Wochen und Monaten wieder verstärkt mit eigenen Vorschlägen zu Wort melden. In dem Zusammenhang möchte ich auf die jüngste Initiative hinweisen, die am 1. Dezember in Genf aus der Taufe gehoben wurde. Israelische und palästinensische Politiker, haben, unabhängig von Regierung und Autonomiebehörde, einen unterschriftsreifen Vertrag vorgelegt, der beiden Seiten einen Preis für den Frieden abverlangt und der den Israelis als der militärisch dominanten Macht diesen Preis mit Zugeständnissen zu versüßen versucht. Uri Avnery, der vor kurzem hier in Kassel gesprochen hat, sieht in dieser Initiative trotz Kritik im Detail einen großen Fortschritt: Der Genfer Plan, sagte Avnery, "wird der Öffentlichkeit vorgestellt, um zu zeigen, dass Frieden möglich ist, dass er keine existenzielle Gefahr für Israel darstellt, dass es auf der anderen Seite einen Partner gibt und dass etwas da ist, über das man reden kann. Sogar das Flüchtlingsproblem, das viele Israelis um den Verstand bringt, hört auf, so bedrohlich zu sein, wenn man es effektiv angeht. Es wird zu einem praktischen Problem mit praktischen Lösungen." (Uri Avnery: Mit wem, über was?)
Die Gegner einer Verständigung zwischen Israelis und Palästinensern sitzen in der Regierung Scharon, während immer mehr Menschen in Israel begreifen, dass die Politik der Gewalt und der Einschüchterung keinen Frieden bringen wird. Soldaten haben das begriffen und ihren Dienst in den besetzten Gebieten verweigert. Ich erinnere an die 27 Piloten der israelischen Luftwaffe, die im September erklärt haben, sich nicht länger an Militäraktionen zu beteiligen, in denen unschuldige Menschen zu Schaden kommen. Sie wurden umgehend ihres Dienstes enthoben. Regierungstreue Offiziere warfen ihrerseits den 27 Verweigerern vor, bewusst ihre Uniform zu "politischen Zwecken" zu missbrauchen. Die Gegenfrage lautet: Zu welchen Zwecken gebrauchen die Piloten, die bei ihren Einsätzen gezielte Tötungen vornehmen und den Tod von Zivilisten wissentlich in Kauf nehmen, ihre Uniform - und vor allem ihre Waffen? Ist das etwa "unpolitisch"? Nein, das ist durch und durch politisch, mehr noch, es ist eine verbrecherische Politik.
Solche Verbrechen zu benennen, die alltägliche Gewalt in Palästina beim Namen zu nennen, hat nichts mit Antisemitismus zu tun. Die Vertreter von 150 Staaten, die vor drei Tagen in der UN-Generalversammlung verschiedene Erklärungen gegen den Mauerbau und die völkerrechtswidrige Landnahme und Siedlungstätigkeit Israels verabschiedet haben, bilden keine Kongregation von Judenhassern. Und die Europäische Union, die vor drei Wochen in einer Deklaration der israelischen Regierung vorwirft, mit dem Mauerbau und der Siedlungstätigkeit gegen elementare Regeln des Völkerrechts zu verstoßen, hat dies nicht aus einer antisemitischen Anwandlung getan, sondern um die Hauptursachen eines der gefährlichsten Konflikte in dieser Welt zu benennen.
Die Vereinten Nationen und die EU sind prompt ins Visier der israelischen Regierung geraten. Hier seien antiisraelische Kräfte am Werk, die das Leiden des jüdischen Volks nicht wahrnähmen. Ich behaupte demgegenüber : Hier sind proisraelische Kräfte am Werk, denen aber nicht nur das Wohl Israels, sondern auch das Wohl der Palästinenser und aller Menschen im Nahen Osten am Herzen liegt. Der Schlüssel einer dauerhaften Sicherheitspolitik für Israel liegt in der Verständigung mit den palästinensischen Nachbarn und in der Respektierung von deren Sicherheitsinteressen.
Auch wegen der schon erwähnten EU-Umfrage über den Irakkrieg gab es Aufregung. Zur letzten Frage im Fragebogen erhielten die Befragten eine Tabelle mit Ländern, von denen sie sagen sollten, welches von ihnen eine Bedrohung für den Weltfrieden darstelle. Und hier landete "Israel" an erster Stelle. Europaweit haben 59 Prozent gesagt, dass Israel eine Bedrohung für den Weltfrieden darstellt, gefolgt vom Iran (53 %), Nordkorea (53 %), den USA (53 %), Irak (52 %), Afghanistan (50 %) und Pakistan (48 %). Erst mit größerem Abstand folgen Länder wie Syrien (37 %), Libyen (36 %), Saudi-Arabien (36 %), China (30 %), Indien (22 %), Russland (21 %) und Somalia (16 %).
Die israelische Regierung intervenierte bei der EU-Kommission in Brüssel und beschwerte sich wegen des antiisraelischen Ergebnisses. Der israelische Minister für die Diaspora, Nathan Sharansky, sah in der Umfrage den Beweis dafür, "dass hinter der `politischen Kritik´ nur ein purer Antisemitismus" stehe. (Jerusalem Post; zit. n. Florian Rötzer: Ist Israel schlimmer als der Iran oder Nordkorea? Telepolis, 3.11.2003)
Eine sachliche Kritik würde auf die unzureichende Fragestellung abstellen. Nicht Israel allein, sondern der israelisch-palästinensische Konflikt, oder besser: der Nahostkonflikt hätte als Bedrohungspotential für den Weltfrieden genannt werden müssen. Dies hatte wohl auch die überwiegende Mehrheit der Befragten im Sinne, die hier Israel angekreuzt haben. Die fortgesetzte Auseinandersetzung im Nahen Osten, die nicht enden wollende Gewaltspirale im israelisch-palästinensischen Konflikt sind Hintergrund der Einschätzung, dass von hier eine beträchtliche Bedrohung des Friedens in der Welt ausgeht. Das wird doch auch niemand bestreiten können.
EU und Deutschland auf dem Kriegspfad
Wenn die Europäische Union in Richtung Nahostkonflikt mit anerkennenswertem Augenmaß vorgeht, heißt das noch lange nicht, dass ihre Politik insgesamt gut ist. Ganz im Gegenteil. Es hat den Anschein, als würden sich in Europa jene Kräfte durchsetzen, die davon träumen, eine neue Weltmacht aus der Taufe heben zu wollen, eine Weltmacht, die in allen Belangen, auch militärisch, mit den USA "auf gleicher Augenhöhe" verhandeln möchte. Wir halten das für einen gefährlichen Holzweg. Die Militarisierung der Europäischen Union zerstört die Grundlagen einer Vision von einem sozialen Europa, einer Zivilmacht, die sich durch wirtschaftliche, soziale, kulturelle und wissenschaftliche Beziehungen in aller Welt Freunde schafft, anstatt fremden Ländern mit Soldaten, schnellen Eingreiftruppen, Fregatten und Kampfhubschraubern zu drohen. Der vorliegende Verfassungsentwurf enthält einen skandalösen Passus: Die Mitgliedstaaten verpflichten sich danach, ihre "militärischen Fähigkeiten ständig zu verbessern". Diese Aufrüstungsverpflichtung ist einzigartig in der modernen Verfassungsgeschichte. Die Friedensbewegung lehnt diese Verfassung ab. Wir sagen Ja zu Europa. Und deshalb sagen wir Nein zum Verfassungsentwurf!
Die deutsche Bundesregierung hat an vorderster Front die Militarisierung der EU vorangetrieben, getreu dem Motto, im europäischen Gewand besser verwirklichen zu können, was im nationalen Alleingang vielleicht noch nicht möglich erscheint: Die Durchsetzung nationaler Interessen, wobei diese ausschließlich von den mächtigsten Gruppen dieser Gesellschaft, von den großen Transnationalen Konzernen und ihren Interessenverbänden formuliert werden. Wenn heute ein Bundeskanzler einen Staatsbesuch macht, befinden sich in seinem Tross fast ausschließlich die Vertreter dieser Konzerne. Und wenn ein Siemens-Vertreter in China durchblicken lässt, dass sein Unternehmen ein Interesse daran hat, die Hanauer Atomfabrik dorthin zu verkaufen oder zu verlagern, dann macht sich der Kanzler dieses Interesse sofort zu eigen. Früher hätte man "Stamokap" dazu gesagt und so mancher Grüne oder Sozialdemokrat hätte diese Vokabel wegen ihrer "ökonomistischen Verkürzung" zurückgewiesen. Heute praktiziert man ungeniert Stamokap und verstößt gegen alle schönen Versprechungen, die uns die rot-grüne Regierung gegeben hat. Z.B. gegen die Rüstungsexportrichtlinien aus dem Jahr 2000. Und Hanau ist ein zivil-militärisches Projekt. Dessen Export kann jederzeit abgelehnt werden, meine Damen und Herren im Bundessicherheitsrat. Also dann tut das auch und redet euch nicht darauf hinaus, dass es keine Handhabe für eine Ablehnung eines solchen Deals gäbe.
Über die rot-grüne Bundesregierung ließen sich noch jede Menge andere unappetitliche Maßnahmen aufzählen. Ich kann das aus Zeitgründen nicht, erinnere aber doch wenigstens an die Verteidigungspolitischen Richtlinien vom Mai d.J., an die Verlängerung des Kriegseinsatzes Enduring Freedom vor wenigen Wochen, an die Vorlage eines Entsendegesetzes, fälschlicherweise Parlamentsbeteiligungsgesetz genannt, da doch eben der Einfluss des Parlaments bei Entscheidungen über Bundeswehrauslandseinsätze verringert werden soll.
Friedensbewegung gegen Sozialabbau
Vor allem aber sehen wir, wie die rot-grüne Bundesregierung im Namen des Standortes Deutschland die Axt an den in vielen Jahrzehnten aufgebauten und sauer verdienten Sozialstaat anlegt. Was hier passiert, ist in der Tat ein Systemwechsel, von einem wohlfahrtsstaatlichen Modell des Kapitalismus hin zu einem neoliberalen Typus des Kapitalismus, in dem die Umverteilung von unten nach oben zum Prinzip erhoben und mit Brachialgewalt durchgesetzt wird. Auf der Strecke bleiben die Rentner, die sozial Schwachen, die Schüler und Studierenden, die Arbeitslosen, die Obdachlosen, die Asylbewerber, die chronisch Kranken, die Sozialhilfeempfänger - es trifft sehr, sehr viele.
Und ich habe den Eindruck, dass diese Vielen aufgewacht sind. Dass sie sich zu wehren beginnen. Der 1. November war hier ein verheißungsvoller Anfang. Riesige Demonstrationen, zum Beispiel die 50.000 Demonstranten in Hessen vor drei Wochen, Streiks und Massenaktionen an den Universitäten - auch diese Uni befindet sich derzeit im Streik -, Aktionen von Belegschaften in Großbetrieben: All das sind Zeichen zunehmender Abwehr- und Kampfbereitschaft in der Bevölkerung gegen die Zumutungen der vereinigten Lohn-, Gehalts-, Renten- und Pensionsräuber.
Die Friedensbewegung kann hier nicht abseits stehen. Wir sagen: "Abrüstung statt Sozialabbau" und treffen damit den Nagel auf den Kopf. Dabei sind wir uns darüber im Klaren, dass die Abrüstung allein nicht ausreicht, um die sozialen Probleme im Land zu lösen; da muss noch mehr passieren. Da muss z.B. ein massives Umverteilungsprogramm her, aber diesmal von oben nach unten! Ohne Abrüstung geht aber schon gleich gar nichts. Und außerdem steht "Abrüstung" für die Umorientierung der Außen- und Sicherheitspolitik. Weg von der Kriegs- und Interventionspolitik - hin zu einer vorausschauenden Politik der zivilen Prävention.
Internationale Gäste
Lasst mich zum Schluss noch einmal auf die EU-Umfrage über den Irakkrieg zurückkommen. Ein Ergebnis habe ich euch nämlich noch vorenthalten. 68 Prozent aller Befragten halten auch heute noch den Irakkrieg für ungerechtfertigt. Differenziert man nach Ländern, so ergeben sich bemerkenswerte Unterschiede. Das einzige EU-Land, in dem eine Mehrheit den Krieg für gerechtfertigt hält, ist Dänemark. Sogar in Großbritannien, das sich mit seinem Premierminister Tony Blair so stark ins kriegerische Zeug gelegt hatte, waren die Kriegsbefürworter im Oktober in der Minderheit (44 %). 51 Prozent der Briten hielten den Krieg für nicht gerechtfertigt. Am größten ist die Ablehnung des Krieges in Griechenland, wo 96 Prozent der Befragten den Krieg für ungerechtfertigt halten. (Ein Vertreter der griechischen Friedensbewegung ist heute bei uns. Herzlich willkommen, Iraklis Tsadaridis, und Glückwunsch zu diesem tollen Ergebnis. Kassel ist stolz auf sein Wahrzeichen, einen Namensvetter von Iraklis, den Herkules, der weithin sichtbar über dem Bergpark Wilhelmshöhe mit seiner dicken Keule steht. Iraklis, ihr habt die griechische Bevölkerung nicht mit Keulen, sondern mit den besseren Argumenten überzeugt!)
Österreich folgt auf Platz 2 der andauernden Kriegsgegnerschaft: 86 Prozent sagen auch heute noch Nein. (Und einige Exponenten dieser Antikriegshaltung aus Wien, Linz, Graz und Salzburg sind ebenfalls bei uns. Herzlich willkommen, Sonja Jamkojan, Veronika Rochhardt, Andreas Pecha, Alois Reisenbichler, Thomas Roithner, Manfred Sauer, Elke Renner, Karl-Heinz Walter, Hans-Peter Grassl, Boris Lechthaler!) Auch das Ergebnis aus Frankreich mit 81 Prozent kann sich sehen lassen, Francis Würtz!
Und wenn in Deutschland immer noch 72 % Nein zum Irakkrieg sagen, dann ist das ein Erfolg von uns allen.
In der Schweiz, da nicht zur EU gehörig, wurde die Umfrage nicht durchgeführt. Ich bin aber sicher, dass dort ein ähnliches Ergebnis erzielt worden wäre. Herzlich Willkommen, Ursula Itschner aus Basel.
Die Wiedergeburt der Friedensbewegung
Und wenn wir den Bogen über das ganze Jahr spannen, dann ist da ja auch noch die sagenhafte Wiedergeburt der Friedensbewegung. Wie oft war sie in den Jahren zuvor nicht für tot erklärt worden. Am 15. Februar sind Millionen Menschen in der ganzen Welt auf die Straße gegangen, um den Kriegstreibern in Washington und London in den Arm zu fallen. Den Krieg konnte diese neue "Internationale des Friedens" diesmal nicht verhindern. Aber sie konnte die öffentliche Meinung auf ihre Seite ziehen und diejenigen Regierungen in arge Bedrängnis bringen, die sich für die Komplizenschaft mit Bush und Blair entschieden hatten.
Auch die deutsche Friedensbewegung hat in der Zeit vor und während des Krieges alle Mittel aus ihrem politischen Instrumentenkoffer eingesetzt: von den symbolischen Belagerungen US-amerikanischer Stützpunkte (deren juristische Nachwehen übrigens heute noch für öffentliches Aufsehen sorgen) über Menschenketten bis hin zu den großen regionalen und zentralen Massendemonstrationen. All das hat diese Republik nachhaltig beeinflusst. Es wird den Regierenden künftig nicht leicht fallen, sich an militärischen Abenteuern à la Irakkrieg zu beteiligen.
Der Friedensratschlag hat an all den Entwicklungen teilgehabt. Wir haben das breitestmögliche Bündnis angestrebt, wo es darum ging, gemeinsam das gesamte Gewicht der Kriegsgegner in die politische Waagschale zu werfen. Und wir haben dazwischen Vorschläge entwickelt und Diskussionen angeregt, von denen wir meinen, dass sie die Friedensbewegung insgesamt weiterbringen würden.
Internet, www.friedensratschlag.de und Glückwünsche
Die neuen Medien sind uns hierbei eine große Hilfe. Die Homepage der AG Friedensforschung an dieser Uni, für die ich hier auch spreche, hat sich, so kann man wohl sagen, einen festen Platz im weltweiten Friedensnetz erobert und genießt inzwischen soviel Ansehen, dass nicht einmal das Pentagon an uns vorbei kommt. Im vergangenen Monat schauten sie fast 300 Mal in unseren Seiten nach, was wir so alles im Schilde führen. Am Ende dieses Jahres werden unsere Internetseiten mehr als fünf Millionen Mal aufgesucht worden sein - im vergangenen Jahr waren es knapp drei und im Jahr 2001 anderthalb Millionen. Es stimmt also nicht nur die Qualität unseres Angebots, es wird auch massenhaft angenommen. Und eines der anrührendsten Komplimente, die ich in der letzten Zeit entgegennehmen konnte, war folgende e-mail:
hallo!
sie werden mich nicht kennen! ich bin eine schülerin der sie sehr geholfen haben!
wir mussten einen kurzvortrag zum thema irakkrieg halten und da fand ich ihre arbeit im internet!
ich möchte mich bei ihnen bedanken da wir durch sie eine gute note bekommen haben!
hochachtungsvoll
ihre julia
Da weiß man, wofür man arbeitet!
Fanny-Michaela Reisin aus Berlin, die vielen von euch bekannt ist als frühere Vorsitzende der Liga für Menschenrechte und heute Sprecherin der "Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost"-EJJP Deutschland, hat und folgende Jubiläumsgruß geschickt:
"Mit Erstaunen nahm ich zur Kenntnis, dass Sie am kommenden Wochenende zum ersten Mal nullen werden. Es sei dahin gestellt, dass ich mir so gut wie gar nicht vorstellen kann,dass Sie dort unten in Kassel jemals 0en könnten. Ich dachte aber ganz im Ernst, den Ratschlag für Friedensfragen hätte es seit je her gegeben?!? Mindestens 100! Jahre hätte ich aber in jedem Fall angenommen.
Wahrscheinlich sind es wirklich so viele Jahre, wenn die Zeitverdichtung in Rechnung gestellt und die gesamte Menschzeit veranschlagt wird, die in die vielen, vielen, wichtigen, richtigen, tröstlichen und ermutigenden Friedensaktionen eingegangen ist, die vom Ratschlag auf den Weg gebracht wurden.
Ich werde leider nicht vor Ort gratulieren und Ihnen ebenso wenig meine inständige Hoffnung vortragen können, dass Ihnen und dem Ratschlag die Energie und die Phantasie erhalten bleiben mögen, den Frieden zu träumen, zu spinnen und zu wirken.
Ich entbiete Ihnen und Ihren Freunden auf diesem, elektronischen Wege, meinen innigen Dank für das vergangene und meine aller besten Wünsche für ein neues Jahrzehnt. Machen Sie weiter so wie bisher! Ich stehe für Tausende, die froh und glücklich darüber sind, dass Deutschland unter den Nationen der Welt als Land der aktiven und lebendigen Friedensbewegung bekannt ist. Heute, am Jubiläumstag, dürfen wir sie dafür - es kommt ja selten genug vor - dankbar feiern. Seien Sie herzlich gegrüßt und grüßen Sie alle Anderen im Ratschlag.
Ihre
Fanny-Michaela Reisin"
Auch wenn Frau Reisin ein wenig übertreibt. Dankbar sind wir aber schon für dieses Lob. Und wir wissen, dass wir es uns immer wieder neu erwerben müssen. In diesem Sinne wünsche ich unserem zehnten Friedensratschlag einen produktiven Verlauf.