Soziale Bewegungen in Deutschland – ein Wunschtraum?1

Jürgen Crummenerl

Erfährt man aus den Medien über Massen-Demonstrationen in Italien oder Frankreich von Hunderttausenden, gar Millionen gegen Soziallabbau, Rentenminderung oder Gesundheitskürzungen, so fragt man sich mit Recht: Und was ist in Deutschland?

Sicher, in Berlin sind am 1.11.03 etwa 100.000 Menschen auf die Straße gegangen, es bilden sich nach dem Vorbild von Porto Allegre, Florenz und Paris auch in Deutschland örtliche Sozialforen. Aber irgendwie hat man den Eindruck: da fehlt noch die richtige Power und Durchschlagskraft. Man wird den Verdacht nicht los: Es kann den Politikern aus SPD/GRÜNEN/CDU/CSU/FDP mal wieder gelingen, ihre Ziele der schrittweise Beseitigung des gewachsenen Sozialstaates durchzubringen. Es wäre nicht dass erste Mal, dass der Protest sich mit faulen Kompromissen zufrieden gibt, sich blenden lässt von der verlogenen Rhetorik „leerer Kassen“, „Notwendigkeit von Reformen“ bis zu Versprechungen, dass der „Aufschwung kommt“ und die „Arbeitslosigkeit“ verschwindet.

Wie kommt es, dass sozialer Protest in Deutschland sich oft so schleppend und inkonsequent entwickelt?

Drei Erklärungsversuche:

1. Die traditionellen Organisationen der Arbeiterbewegung – Gewerkschaften und Soziademokratie - und auch die Nachfolge-Partei der „Neuen Linken“ aus den 60er und 70er Jahren – die GRÜNEN – betreiben heute das Geschäft neoliberaler Formierung: Das sind die Forderungen nach Deregulierung und Liberalisierung zugunsten der transnational operierenden Konzerne: wenig oder gar keine Steuern, niedrige Lohn(neben)-Kosten, niedrige Umweltstandards usw. Das ist die Auslieferung staatlicher Daseinsvorsorge (Renten, Gesundheit, Öffentlicher Nahverkehr, Wasserversorgung, Bildung usw. usf) an die Privatunternehmen. Das ist schließlich die Durchsetzung von Konzern-Zielen mit militärischen Mitteln.

Die Bindungskräfte dieser politischen Traditionen sind immens. Viele können sich immer noch nicht vorstellen, dass diese Leute, mit denen man früher zusammen gekämpft hat, derartig Übles im Sinn haben.

Viele denken immer noch – oft hilflos den Medien-Kampagnen ausgesetzt – ROTGRÜN ist zumindest das „kleinere Übel“.

2. Die Tradition des deutschen Sozialstaates hat verschiedene Seiten:

Zum Ende des 19. Jhd. wuchs die Kraft revolutionärer und reformerischer Kräfte im Kampf gegen Kaiserreich und Kapitalismus. Bismarck erkannte die Gefahr und die Gelegenheit. Er schuf die ersten Ansätze des Sozialstaates (z.B. die gesetzliche Krankenversicherung). Das war eine wichtige Errungenschaft für die Arbeiterbewegung.

Die Kehrseite allerdings war – die von Bismarck wohl kalkulierte – Aussöhnung und Einbindung - von großen Teilen der Sozialdemokratie und Gewerkschaften. Das funktionierte. Es verfestigte sich im Laufe der Zeit das Bewusstsein, der „Fürsorgestaat“, die „Obrigkeit“ sorgen für uns. Bis zum Gedanken: Wir sind alle eine große Familie und zur begeisterten Zustimmung zum Eintritt des Deutschen Reiches in den 1. Weltkrieg war kein großer Schritt.

Auch die Nationalsozialisten konnten dieses staatszentrierte Denken nach 1933 für ihre Volks-Gemeinschafts-Ideologie nutzen, ja sogar für die Durchsetzung sog. „rechtsstaatlicher“ Gesetze und „staatlicher“ Maßnahmen gegen Juden, Roma, Homosexuelle, Behinderte, Kommunisten und viele andere mehr.

Nach dem 2. Weltkrieg wurden sozialstaatliche Elemente aufgenommen und ausgebaut: Renten- und Krankenversicherung, Arbeitslosengeld und –hilfe, Sozialhilfe pp.

Aber auch hier wird Leistung gewährt. Wenn auch bisher weitgehend mit Rechtsgarantien nehmen die Menschen Teil an den Versorgungs-Systemen. Aber sie haben keinen Teil an der unmittelbaren Gestaltung. Sie haben keinen direkten Einfluss auf die Zukunft dieser Einrichtungen. Teilnahme, aber keine Teilhabe. Sozialstaat ist im Bewusstsein vieler Menschen ein „Fürsorgestaat“ und nicht Ausdruck einer Gesellschaft, in der die Reichen für die Armen einstehen. Die neoliberale Ideologie mit „Eigenverantwortung“ und „Leistungsdenken“ hat die Köpfe weiter vernebelt und den Gedanken der Solidarität verdrängt.

Jetzt zeigen sich die Grenzen dieses Sozialstaates: Er ist gebunden an die Entwicklung des Kapitalismus und den traditionellen Facharbeiter, der sein Leben lang einzahlt (und die Hausarbeit und Erziehung der Kinder den Frauen überlässt).

Die weltweite kapitalistische Krise schlägt auch in Deutschland durch, Erwerbslosigkeit, Ausbau von Niedriglohnsektoren, „Flexible Arbeitswelt“ erschüttern das soziale System. Steuerflucht und Steuergeschenke an die Reichen tun ein Übriges.

Aber immer noch wird die Hoffnung auf Besserung geschürt. „Vollbeschäftigung“ wird propagiert. Und obwohl die technologische Entwicklung weniger Erwerbs-Arbeit ermöglicht, wird diese nicht gleichmäßiger verteilt und herabgesenkt. Im Gegenteil: Die einen Arbeitsplatz haben, müssen mehr arbeiten, gleichzeitig steigt die Zahl der Erwerbslosen.

Aber viele Menschen möchten den Politikern glauben, dass es bald wieder aufwärts geht, der „Aufschwung“ kommt. Denn die Fixierung auf die Machthaber ist eine Folge von:

3. Dem System der Repräsentativen Demokratie

Immer wieder werden in der öffentlichen Debatte Forderungen laut nach Einführung von mehr Elementen direkter Demokratie, Volksbegehren, Volksentscheid usw.

Diese Forderungen werden abgewehrt mit dem Argument: Direkte Demokratie nutzt den Demagogen, die das Volk betrügen, mit emotionalen Argumenten täuschen oder durch geschickte Lügen verführen. Angeblich sollen die Erfahrungen der Weimarer Republik dies lehren.

Demokratie heißt Volksherrschaft. Argumentiert wird mit Misstrauen gegen das Volk. Politische Eliten – Repräsentanten – sollen es angeblich besser können.

Nun zeigen schon die Erfahrungen des Faschismus, wie schnell große Teile der sog. „Eliten“ auf die Seite der Nazis umgeschwenkt sind, sich angepasst haben, Opportunisten wurden. Auf die ist sicher kein Verlass. Und die Nazis kamen auch über allgemeine Parlamentswahlen an die Macht, unterstützt durch ihren Terror und Gewalt.

Aber das Argument hat gezogen und so wählt das Volk alle 4 oder 5 Jahre Parlamentarier, die nach dem Grundgesetz nur „ihrem Gewissen unterworfen“ sein sollen als Vertreter des ganzen Volkes.

Diese Art der Wahlmöglichkeit hat mehrere Konsequenzen:

- Die Verantwortung für die Konzipierung und Umsetzung von Politik wird mit dem Kreuz auf dem Wahlzettel abgegeben. Das sollen „die da oben“ jetzt mal machen. Möglichkeiten der unmittelbaren Einflussnahme auf Entscheidungen (etwa der Abwahl von Abgeordneten) gibt es nicht mehr. Mit der Wahl-Stimme ist der demokratischen Verpflichtung genüge getan. Das reicht bis zum nächsten Mal. Wer Verantwortung abgibt, ist selbst nicht mehr verantwortlich.

- Diese Rollenzuweisung für das Volk führt zu Passivität und Entdemokratisierung.
Wenn keine direkte Einflussnahme möglich ist, kann man halt nichts machen.

- Erschwerend kommt die Rolle der politischen Parteien hinzu: Sie sind nach dem Grundgesetz Hauptträger der „politischen Willensbildung“. Damit bekommen Parteiapparate eine ungeheure Macht. Nur wer sich in ihnen durch geschicktes Vorgehen die Karriere erkämpft, kommt weiter. Hierarchien bilden sich. Opportunismus wird belohnt. Die Abgeordneten in den Parlamenten müssen sich dem Fraktionszwang ihrer Parteien beugen, wenn sie nicht ins Abseits gestellt werden wollen. Richard v. Weizsäcker beschrieb mal die Entwicklung der Parteien als „machtbesessen“ und „machtvergessen“.

- Das alles begünstigt die Herausbildung von politischen Eliten und elitärem Denken. Antje Vollmer von den GRÜNEN spricht selbstgefällig gern von „politischer Klasse“, zu der sie selbstverständlich gehört.

Wenn man dieser Analyse folgt, so ist der Schluss nicht so fern: Die Herausbildung von sozialen Bewegungen hat hohe Hürden zu nehmen. Es gab ja in der Geschichte der Bundesrepublik immer wieder beachtliche emanzipative Bewegungen, die APO und ihre Nachfolger, Anti- AKW-, Friedens-, Umweltbewegung usw.

Bisher sind diese Ansätze immer wieder aufgesogen und in das beschriebene System integriert worden.

Nur wenn es gelingt:

  • Grundstrukturen von lokaler und regionale Selbstorganisation und Selbstverwaltung zu etablieren
  • Elemente von direkter Demokratie auf kommunaler und landesweiter Ebene zu stärken, auszubauen und zu nutzen (z.B. Bürgerbegehren in den Städten und Gemeinden)
  • Die Bindung von Partei- und/oder Gewerkschaftsapparaten zu lösen
  • Durch Aktionen zivilen Ungehorsams die Unterwerfung unter Entscheidungen der Macht-Haber zu durchbrechen

kann es gelingen, soziale Demokratie in Deutschland aufzubauen.

In Berlin haben am 1.11. viele gegen den Rat ihrer Partei- und Gewerkschaftsführungen demonstriert.

Dies ist Anlass zur Hoffnung.

1) Literaturhinweise: Grottian/Narr/Roth: Es gibt Alternativen zur Repressanda 2010! – Komitee für Grundrechte und Demokratie
Hirsch/Steinert: Gibt es eine Alternative zum neoliberalen Sozialstaatsabbau? www.links-netz.de

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