Widerstand tut not

Die Protestdemonstration in Berlin kann nur ein Anfang sein

Mag Wompel

Heute werden hoffentlich viele Zehntausende Menschen in Berlin gegen den Sozialkahlschlag demonstrieren. Das erlaubt, diese Demonstration schon im Vorfeld als einen Erfolg zu bezeichnen, weil sie gegen viele Widerstände zustande kam. Auch wenn wir wissen, daß selbst Hunderttausende auf den Straßen die Regierung nicht beeindrucken würden.

Es ist hinreichend bewiesen, daß sich alle Angriffe auf Löhne und Tarife, Arbeitszeiten, Kündigungsschutz, Krankenversicherung, Krankengeld, Arbeitslosengeld und Sozialhilfe sowie Rente gegen ausnahmslos alle Lohnabhängigen jeden Alters richten und wie immer Frauen, Kranke und Behinderte sowie Migranten am stärksten treffen. Niemand kann noch hoffen, daß es ihn nicht trifft, niemand wird verschont. Und doch regt sich ein öffentlicher Widerstand nur zaghaft, noch fällt es vielen Betroffenen schwer, Angst und Fatalismus zu überwinden.

Es ist ebenfalls hinreichend bewiesen, daß weder das Kapital noch der Staat – wer auch immer an der Regierung sitzen möge – für Existenzsicherung, soziale Gerechtigkeit oder allgemein das, was für uns ein gutes Leben wäre, zuständig ist. Es ist längst bewiesen, daß jede noch so kleine soziale Abfederung unter dem kapitalistischen Wolfsgesetz Kapital und Staat abgetrotzt werden mußte. Unsere Produktivität steigt ständig, und wir müssen sparen? Jedes Nachlassen im offensiven Vertreten unserer Ansprüche bezahlen wir mit kostbaren Errungenschaften, für die viele unserer Vorfahren gekämpft haben. Und dennoch sind immer noch allzu viele geblendet von der Hoffnung auf Dankbarkeit oder den gesunden Menschenverstand der Mächtigen. »Das können sie doch nicht machen!« Doch, das können sie, und sie tun es. Schließlich geht es um den Zwang zur Profitmaximierung. Deshalb erzählen sie von Zukunftsträchtigkeit und Wissensgesellschaft und treiben Kinder in Armut und uns alle in (Wirtschafts-) Kriege.

Es ist hinreichend bewiesen, daß Lohnarbeit in den seltensten Fällen glücklich macht; Millionen spielen Lotto, um dem zu entrinnen. Immer häufiger reicht der Lohn nicht zur Existenzsicherung – kaputt und krank macht diese Arbeit dennoch. Wer dieses »Privileg«, ausbeutbar zu sein, durch Krankheit oder Kündigung verliert, steht nun dem blanken Entsetzen gegenüber. Die bewußt geschürte Angst vor schneller Armut soll diese beschleunigen: durch Wohlverhalten und Lohnzurückhaltung. Auch hiervor kann sich niemand verschont fühlen, ob kleine Klitsche oder Großkonzern. Und doch setzen die Gewerkschaftsführungen immer noch lieber auf den Dialog mit den Tätern statt auf Widerstand mit den Opfern.

Die aktuellen Angriffe haben es bewiesen: Es geht uns keinesfalls gut, wenn es dem Kapital gut geht. Diese Lüge diente lediglich dazu, uns zu spalten. Deshalb ist die heutige Demonstration bereits jetzt ein Erfolg. Weil immer mehr Menschen kämpfen, nicht nur schimpfen wollen. Weil das Warten auf die Gewerkschaftsführungen ein Ende hat und wir es selbst in die Hand genommen haben. Weil es gelungen ist, fast alle Gruppen der Betroffenen in die Vorbereitung der Protestdemonstration einzubeziehen. Und weil dies Hoffnung weckt auf ein neues Alltagsverhalten, das solidarisch sein wird und frei von Neid und Mißgunst gegen »reiche Beschäftigte«, »faule Arbeitslose« und »unerwünschte Migrantinnen und Migranten«, »elitäre Studierende« sowie »Kranke und Rentner als Ballast«.

Es ist schließlich hinreichend bewiesen, daß die derzeitigen Gesetze des Sozialkahlschlags nicht das Ende der Entwicklung darstellen. Deshalb ist es wichtig, daß möglichst viele zeigen heute: Es reicht! Nicht mit mir, nicht mit uns! Es ist aber ebenso wichtig, daß möglichst viele auch der Daheimgebliebenen wissen, daß diese Demonstration erst der Anfang sein kann, daß wir immer mehr werden – europa- und weltweit.

Der Kapitalismus macht einen Sozialstaat erst nötig. Und weil vor allem hinreichend bewiesen ist, daß selbst die Abwehr der aktuellen Zumutungen aus dem bisherigen Sozialstaat noch lange keine soziale Gesellschaft macht, wäre es wünschenswert, sich darauf einzustellen, daß wir einen langen Kampf für eine bessere, grenzen- und klassenlose Gesellschaft vor uns haben, um einen Sozialstaat überflüssig zu machen. Diesen Kampf müssen wir nicht in Berlin, sondern vor Ort, jeder in seinem Alltag und in seinen Zusammenhängen führen. Durch Aufklärung, Verweigerung und Aneignung, durch Zivilcourage und solidarisches Eingreifen. Notfalls allein, besser in Bündnissen vor Ort, in Betrieb und Schule, auf dem Sozialamt. Der heutige Schritt ist nicht der erste und darf nicht der letzte bleiben, er ist aber wichtig.

* Die Autorin ist Redakteurin von LabourNet Deutschland

Quelle: junge welt vom 1.11.2003

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