* Rainer Roth, Sozialwissenschaftler an der Fachhochschule in Frankfurt am Main und Autor des soeben erschienenen Buches »Nebensache Mensch, Arbeitslosigkeit in Deutschland«:
Deutschland steckt in einer tiefen Krise. Und wer ist schuld? Wir hören es pausenlos. Die Lohnabhängigen sind zu teuer. Die Rentner leben zu lange. Die Frauen bekommen zu wenig Kinder. Die Jugend will nur ihren Spaß, und die Arbeitslosen sind faul. Und wenn sie etwas abgeben sollen, damit die Unternehmensgewinne steigen, jammern sie auch noch. Mit einem so reformfeindlichen Volk können die Herrschenden nicht zufrieden sein. Frage: Warum suchen sie sich eigentlich kein anderes?
Die Produktivität steigt dank der technischen Revolution rasant. Die Gesamtarbeitsstunden aller Industriearbeiter z.B. sanken in den 90er Jahren um 2,8 Milliarden Stunden. Zwei Millionen Arbeiter wurden überflüssig, besonders in Ostdeutschland. Gleichzeitig verdoppelte sich das investierte Kapital in Deutschland auf unvorstellbare 15000 Milliarden Euro. Es steckt überwiegend in Finanzanlagen. Das Kapital vermehrt sich, in dem es immer mehr Menschen überflüssig macht. Es läßt nur die arbeiten, an denen es verdienen kann. Dabei ist sinnvolle Arbeit genug da.
Die Arbeitszeit muß und kann drastisch verkürzt werden, und das bei vollem Lohnausgleich. Das muß auf unserer Agenda stehen. Das Kapital jedoch will die Arbeitszeit auf 40 Stunden ohne Lohnausgleich verlängern. Das macht noch mehr Menschen überflüssig.
Vor allem die sogenannten Problemgruppen werden aussortiert. Dazu zählen laut Statistischem Bundesamt »insbesondere Jüngere, Ältere, Frauen, Ausländer und Schwerbehinderte«. Also die Mehrheit. Der Chef von Infineon redet von »Schwach-Performern«. Wer zu wenig bringt, wird mit steigender Produktivität in Arbeitslosigkeit und Rente abgedrängt.
Das ist letztlich die Ursache der Krise der Sozialversicherung und der Staatsfinanzen. Nicht die An spruchshaltung der Arbeitslosen und der Rentner. Frage: Ist das Kapital, das so viele Menschen überflüssig macht, nicht selbst eine Problemgruppe?
Das Kapital ist für die Arbeitslosigkeit verantwortlich. Also soll es auch für eine anständige Grundsicherung der Freigesetzten zahlen. Der gesellschaftliche Reichtum macht es möglich.
In der gegenwärtigen Krise werden die Überkapazitäten vernichtet, die das Kapital im Aufschwung aufgebaut hat. Die Profitraten sind gefallen. Sie durch Lohnsenkungen zu steigern, ist der Hauptzweck der »Agenda 2010«. Die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe ist ihr Herzstück. Für zwei Millionen Arbeitslose wird die Unterstützung unter das Niveau der heutigen Sozialhilfe gesenkt. Sie sollen gezwungen werden, für Armutslöhne in Höhe der gesenkten Sozialhilfe und noch darunter zu arbeiten. Das ist staatlich organisiertes Lohndumping. Die Angriffe auf Arbeitslose richten sich gegen alle Lohnabhängigen. Das muß deutlich gemacht werden. Um die Lohnabhängigen zu spalten, wird das Märchen von den faulen Arbeitslosen erzählt. Aber ist nicht eher an diesem Wirtschaftssystem etwas faul als an den Arbeitslosen?
Die Bundesregierung versucht, die sogenannten Lohnnebenkosten zu senken. Jeder Prozentpunkt an Sozialabgaben weniger bringt dem Kapital 7,5 Milliarden Euro mehr. Ob Arbeitslose, Kinder, Alte und Kranke in Armut leben oder nicht, was zählt das gegenüber der Aussicht auf Profit?
Um die Senkung der Renten auf Armutsniveau zu vermarkten, wird das Märchen von der Schuld der Kinderlosen erzählt. Alte und Junge sollen sich bekriegen. Doch das Problem liegt beim Kapital selbst. Es entläßt mit steigender Produktivität immer mehr Ältere in die Rente. Und verweigert gleichzeitig dem jugendlichen Nachwuchs ausreichende Arbeits- und Ausbildungsplätze.
Die Haushaltslöcher der Sozialversicherung sind durch die Logik der Kapitalverwertung verursacht. Die Gewinne und Vermögen der Bee. Das Modell der ausbeutbaren Hausfrau und Geringverdienerin wird im Zuge der Globalisierun g auch auf die männlichen Erwerbstätigen ausgedehnt.
Die neoliberale Politik ist international und angeblich alternativlos. Aber Politik ist menschengemacht das heißt, sie kann verändert werden. Es ist möglich, für ein gutes Leben für alle zu wirtschaften. Noch nie gab es so viel Reichtum wie heute. Es ist genug für alle da. (...)
Auf dem Europäischen Sozialforum in Paris treffen sich alle emanzipatorischen Kräfte und organisieren den europäischen Widerstand. Im kommenden Jahr werden wir gemeinsam dem Sozialkahlschlag in ganz Europa entgegentreten. (...) Wir sind überall. Wir sind viele, und wir kommen wieder.
Quelle: junge welt vom 3.11.2003